Echt jetzt! (88)

Ganz in Weiß - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Infrarot-Aufnahme vom Fuldaer Schlossgarten.
Foto: Kurt Lochte.

19.12.2025 / REGION - Sind Sie bereit? Geschlossene Tanz-Haltung, und los: "Den Schnee, Schnee, Schnee, Schneewalzer tanzen wir. Ich mit Dir. Du mit mir." Ein prüfender Blick aus dem Fenster – hat nichts gebracht. Draußen regiert weiter die Farbe Grau. Wie soll man da in Advents-Stimmung kommen? Aufs Sofa hocken und uns von irgendeiner verschneiten Filmschnulze zu Tränen rühren lassen? Auf dem Weihnachtsmarkt unsere Gefühlsduselei im Glühwein ertränken, mit Blick auf künstliche Eiszapfen? Oder finden wir den Traum-Schnee von gestern nur noch in alten Bildern? Gehen wir doch mal gucken.



Vor wenigen Wochen, der November war noch nicht vorbei, fuhr doch tatsächlich ein Auto mit Schnee auf der Haube über die Petersberger Straße in Fulda. War wohl ein Abgesandter aus der Rhön. Seitdem prüfe ich regelmäßig die Webcam auf der Wasserkuppe. Da schau her, zwischendurch lagen sogar ein paar weiße Placken im Nebel. Ansonsten sehen wir einen eher trostlosen Blick auf Rhön und Pisten in Endschleife. Der Streifen hätte nicht Mal bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen eine Chance. Alle Jahre wieder präsentieren uns die Klimaforscher ihr Potpourri an schlechten Nachrichten: Die Gletscher schmelzen, die Eisbären sterben, Unwetter lauern hinter jedem Busch, Wärme-Rekorde.

Mal patscht es vom Himmel, mal knirscht das vertrocknete Gras unter den Füßen. Gerade hat Mojib Latif, unsere Klima-Kassandra aus Kiel, eine weitere Schock-Auskunft erteilt: Im Jahr 2050 werde es im deutschen Flachland keinen Fitzen Schnee mehr geben. Aber jedes Mal, wenn das Thermometer doch überraschend unter Null rutscht, treffen wir garantiert jemanden im Schlossgarten, der uns seinen besserwisserischen Zeigefinger entgegenreckt: "Ich denke, wir haben Erderwärmung..."

"Es schneit, schneit, was vom Himmel herunter mag, und es mag Erkleckliches herunter. Das hört nicht auf, hat nicht Anfang und nicht Ende. Einen Himmel gibt es nicht mehr, alles ist ein graues weißes Schneien. Eine Luft gibt es nicht mehr, sie ist voll Schnee. Eine Erde gibt es auch nicht mehr, sie ist mit Schnee und wieder mit Schnee zugedeckt... Weiße Wege gibt’s, weiße Mauern, weiße Äste, weiße Stangen, weiße Gartengitter, weiße Äcker, weiße Hügel und weiß Gott was sonst noch alles. Alle Farben, rot, grün, braun und blau, sind vom Weiß eingedeckt. Und still ist es, warm ist es, weich ist es, sauber ist es. Sich im Schnee schmutzig zu machen, dürfte sicher schwer, wenn nicht unmöglich sein." Diese weiße Traumwelt hat uns vor über 100 Jahren, 1917, der grandiose und versponnene schweizerische Schriftsteller Robert Walser geschenkt; "Schneien" heißt dieser wuchtige Wetter-Bericht. Ewald Scheich hat den Text wiederentdeckt und an einem Abend in der "Galerie Kunst im Kutscherhaus" vorgetragen, bei der Eröffnung einer Ausstellung mit dem Titel "Winterimpressionen". Viele der hier gezeigten Bilder hat er gesammelt, viele der längst verstorbenen hiesigen Künstler kannte er persönlich. Falls Sie den Schnee vermissen: hier gibt es reichlich!

In der Nacht zum 27. Januar 1887 hat’s im Clark Fork River Valley im US-Staat Montana geschneit. Irgendwelche Einheimischen haben behauptet, die Schneeflocken seien "so groß wie ein Milchtopf" gewesen, 38 Zentimeter breit. Leider gibt’s kein Beweisfoto. Fotografiert wurde hingegen am Tag vor Silvester 2003 im kanadischen Cochrane ein Eiskristall, das größte seiner Art: Zehn Millimeter breit, vermessen und ans Guinness-Buch gemeldet von einem echten Professor. Derselbe Prof. (Kenneth G. Libbrecht) will zudem aufgrund seiner physikalischen Studien ein für alle Mal bestätigt haben, dass es höchst unwahrscheinlich sei, dass Schnee-Kristalle sich zu exakt gleichen Flocken verbinden können. Weil jedes Eiskristall aus ungefähr 100 Trillionen Wasser-Molekülen besteht; die machen alle, was sie wollen. Wir haben es also mit Total-Individualisten zu tun. Leider schneien sie auch bei uns rein, wann sie wollen. Über ihren ersehnten Auftritt an Weihnachten fetzen sich die Wetterkundler.

Wahrscheinlich sind wir alle Opfer unserer lückenhaften Erinnerungen. Wir denken, sentimentalitäts-besoffen: Weiße Weihnachten waren früher normal. Wieso hat Bing Crosby dann schon 1942 seinen Sehnsuchts-Schlager geschluchzt: Ich träume von White Christmas? Der Philosoph Martin Lauer hat 2019 im "Deutschlandfunk Kultur" erklärt, weiße Weihnachten würden unserem Hang zu nostalgischer Verklärung Futter geben: früher waren Weihnachten "noch so, wie es sich gehört". Der Wetter-Kundler Dominik Jung belustigt sich über die Journalisten, die jedes Jahr aufs Neue einen "Jahrhundertwinter" in Aussicht stellen: "Er bringt Drama, Nostalgie, vielleicht auch ein bisschen Romantik in eine digital durchgeplante Welt."

Die Vorhersage-Branche nennt eine Gegend erst "schneesicher", wenn es "mindestens 100 Tage eine für den Skisport ausreichende Schneedecke von 30 cm (Ski Alpin) beziehungsweise 15 cm (Langlauf) hat." Im Winter, sagen die Meteorologen, schneit es mit Gewissheit nur noch auf Berge, die mindestens 1200 Meter hoch sind. Unsere Wasserkuppe liegt knapp drunter. Aber es gibt ja noch Schneekanonen! Wenn’s frisch genug ist, mindestens null Grad, muss sich der Himmel entscheiden: Lässt er weiße Flocken runterrieseln oder knallt er uns Eisregen auf die Straßen?

Ein deutsches Sprichwort äußert sich besorgt:

Von gestern der Schnee

Der tut nicht mehr weh,

doch der Schnee von heute,

gefährdet die Leute.


Weiß soll sie sein, unsere Winter-Welt. Nichts kann so hell strahlen, nichts kann uns derart blenden. Farbe der Unschuld und der Reinheit, der Unsterblichkeit und der Unendlichkeit, des Friedens und der Heiligkeit. Was alles weiß ist: die Friedenstaube. Das Einhorn. Die Braut. Lilien, Flieder, Maiglöckchen. Gibt es was Schöneres als ein weiß beschneites Land? Wenn Frauen in der Antike schön sein wollten, brauchten sie einen schneeweißen Teint. Dazu half Bleiweiß (Bleihydroxidkarbonat), dass sich die Ladies ins Gesicht schmierten. Es dauerte ziemlich lange, bis Mediziner einige Nachteile dieser Schminke ermittelten: Zahnschmerzen, Mundfäule, schlechten Atem. Ach ja, wer schön sein wollte, musste immer schon leiden... "Gott malt in vielen Farben", hat der ungeheuer vielseitige englische Schriftsteller G. K. Chesterton (1874 bis 1936) gesagt: "Aber er malt niemals so wunderschön, wie wenn er in weiß malt."

Vielleicht können wir unser Gespür für Schnee irgendwann nur noch in Fotos und Gemälden kultivieren. Wir streifen durch das einstige Kutscherhaus. Wir begegnen Fulda und der Rhön "ganz in Weiß", in Öl und Aquarell, mit Kreide oder Bleistift. Die Künstler waren Stars ihrer Zeit. Der Mann zum Beispiel, den man "Winter-Wolf" nannte – Fritz Wolf (1891 bis 1961), der in den frostigen Landschaften der Rhön sein Lieblings-Thema fand. Oder Helmut Funke (1908 bis 1998), Spitzname "Nebelfunke". Immer wieder zog es den Landschafts-Maler in die Rhön, deren Schnee-Zauber er in kleinformatigen Zeichnungen verewigte. Außerdem treffen wir Ferdinand Lammeyer (1899 bis 1995); sein Vater war ein Fuldaer Schuhhändler. 1937 wurden vier seiner Bilder – darunter ein "Dorf im Winter" und die Tuschezeichnung einer Rhönlandschaft – von den Nazis als entartete Kunst vernichtet. 1944 wurde sein Atelier in Frankfurt bei einem Bombenangriff zerstört. Seine Karriere begann erst, als der Kriegsspuk vorbei war. Professor, später Direktor an der Städelschule; er prägte das Frankfurter Kulturleben mit. Aber die alte Heimat ließ ihn wohl auch nicht los: "Für seine Arbeit war die Rhön ein großer Anreger", notierte 1974 die "Rhön- und Saalepost". Franz Reiß (1914 bis 1991) geriet nach seiner Kriegsgefangenschaft nach Schmalkalden (Thüringen). Er wurde ein gefeierter Vertreter der DDR-Kunst. Walter Rohrbach (1939 bis 2021) hat schon als Kind die Leidenschaft seines Lebens entdeckt: die Malerei. Bereits als 17-Jähriger war der Junge aus der Rhön auf Ausstellungen vertreten; die Natur wurde sein zentrales Thema.

Und dann war da natürlich Ernst Julius Ferdinand von Kreyfelt (1863 bis 1947). Vermutlich hätte es das Malerdorf Kleinsassen in seiner heutigen Form ohne ihn nie gegeben. 1887 zog Kreyfelt in die Künstlerkolonie; er wurde rasch deren erfolgreichster Maler. Fünf Jahre lang, von 1919 bis 1924, hat er zusammen mit seiner Frau (Spitzname: "Rhönröschen") nebenher noch die Milseburg-Gaststätte bewirtschaftet. "Diese Dorfansicht ist mein Lieblingsbild", sagt die Galeristin Ursula Bernhardt: ein Dorf, ein Bach, eine Brücke im Schnee gefangen, festgehalten von Kreyfelt. Kommen Sie beim Anblick der Bilder von gestern etwa nicht in winterliche Stimmung? Dann versuchen Sie’s doch mal mit den modernen Infrarot-Aufnahmen des Foto-Künstlers Kurt Lochte aus Tann. Die Infrarotstrahlen sind Farbenfresser, auf den Bildern erscheinen Blätter, Wiesen, Felder in blendendem Weiß. Jaja, das ist nicht echt – aber schön ist es doch! Sämtliche Winterbilder kann man übrigens noch bis Mitte Februar bestaunen (Gutenbergstraße 4, Die bis Fr 16-18 Uhr).

Unbedingt wollen wir noch zwei unbekannten Winter-Philosophen lauschen, die mal Sinn in diese Schneeschauer-Märchen bringen. "Ohne den Winter wären die Tage länger und die Unterhosen kürzer", hat der erste festgestellt. Der zweite hat sogar gereimt: "Hat der Dezember Eis und Schnee, sitzt kein Mensch im Strandcafé." Da ist kein Einwand möglich. Wenn auch das alles nicht hilft, die Romantik in ihnen wachzukitzeln: ein letzter Vorschlag. Besorgen Sie sich in einem Baumarkt eine Styropor-Platte. Auf dem Balkon in Stücke reißen und herunterrieseln lassen. Wenn Sie drüberlaufen, knirscht es sogar ein wenig.

Übrigens: Wenn Sie wissen wollen, ob’s an Weihnachten doch noch schneit, ein exklusiver Tipp: Schauen Sie an Heiligabend und den Tagen einfach aus dem Fenster. Der Wettervorhersage traue ich persönlich nicht mal vom Schreibtisch bis zur Haustür.

Wenn Sie mögen, lassen Sie sich musikalisch noch berieseln. Ein paar Vorschläge:

White Christmas von Bing Crosby, Schneewalzer mit PeterAlexander, Winter Song von Ingrid Michaelson und Sara Bareilles, White as Snow von U2, Winter von Tori Amos, I’ve Got My Love To Keep Me Warm von Ella Fitzgerald und Louis Armstrong, Snow Outside von der Dave Matthews Band (Rainer M. Gefeller)+++

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