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Rhöner Kartoffel-Blues - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Kartoffel-Vielfalt.
Foto: Scott Bauer für Wikimedia

14.11.2025 / REGION - Esst Kartoffeln! Schauen Sie nicht so amüsiert, die Lage ist ernst. Viele Germanen sagen der Erdknolle leise servus. Stochern lieber in einer Portion Spaghetti im Parmesan-Nest herum. Oder hieven sich, mit Stäbchen bewaffnet, in Curry-Sauce schwimmenden Himalaya-Reis auf die Zunge. Derweil runzelt unsere gute alte Sättigungsbeilage vor sich hin. "Viele wissen gar nicht mehr, wie man Kartoffeln kocht", klagte unlängst eine Dame vom Sächsischen Kartoffelverband. Wenn schon Patates, dann welche aus der Kühltruhe. "Kartoffeln kochen tut nicht weh", texten verzweifelt klingende Marketing-Experten. Wenn man’s richtig hinkriegt, schmecken sie sogar. Kommen Sie mit auf den Acker, rauf in die Rhön. Da warten traurige Geschichten auf uns, aber auch ein paar lustige. Ran an die Kartoffel!



1892 notierte Leopold Höhl, den man den "Rhön-Troubadour" nannte, im "Rhönspiegel": "Der Rhöner ist vorzugsweise Vegetarier, aber nicht aus freier Wahl. In den ärmeren Dörfern am Kreuzberg ist Kartoffel und Milch die Hauptnahrung." Dr. Johann Friedrich Rheinisch, Gerichtsarzt in Hilders, machte 1860 ähnliche Beobachtungen: "Die Nahrungsmittel werden zum größten Theile aus dem Pflanzenreich entnommen." Zum Frühstück gab es den aus Runkelrüben oder Zichorien gebrühten "Arme-Leute-Kaffee", dazu Kartoffeln oder selbstgebackenes Brot. "Einige, meistens die Mannspersonen, trinken ein Glas Schnaps" – auch der durfte gern aus Kartoffeln gebrannt sein. Mittags: Kartoffelsuppe mit Brot, Gerste und Mehlteig-Bröckchen, die man Krümpel nannte. Gelegentlich wurde das Mittagsmahl mit Milch und zerlassenem Speck aufgewertet. Abends: Sie raten richtig: meistens Suppe mit Kartoffeln. Sonntags gab’s auch mal was Netteres: Würste in der Suppe oder Schweinefleisch mit Sauerkraut und Erbsen- oder Kartoffelbrei. Die kulinarische Langeweile wurde durch Maestro Goethe dichterisch geadelt: "Morgens rund, mittags gestampft, abends in Scheiben –dabei soll’s bleiben. Es ist gesund." Aber welcher Rhön-Bauer kannte damals Goethe?

Was hat die Kartoffel überhaupt in Osthessen zu suchen? Sie ist Südamerikanerin, das steht mal fest. An und auf den Anden, zwischen Venezuela und Argentinien, wurden die Erdknollen schon vor tausenden von Jahren angebaut. Die Inka nannten sie "Papa". Irgendwann haben die Eroberer aus Europa sie ausgebuddelt und heimgeschafft. "Die Historie der Verbreitung der Kartoffel auf dem europäischen Festland strotzt nur so von Irrtümern und unbewiesenen Geschichten," mahnt der Luxemburger Biologe Jos Massard. Erstmal waren die ahnungslosen Europäer entzückt von ihrer Schönheit. Marie Antoinette (1755 bis 1793), die "Königin der Franzosen", galt als verschwendungssüchtige Erscheinung mit einer besonderen Vorliebe für extravagante Frisuren. Sie ließ Kartoffelblüten in ihr Haar stecken und machte die Erdfrucht dadurch hoffähig. "Ob der hässliche Rest wohl schmeckt?" dachten sich die ersten Kartoffel-Tester. Sie futterten die Strünke, die Früchte, die durch die Schale brechenden Keime – und wurden bestraft. Bauch- und Kopfschmerzen, Atemnot, Krämpfe, Blutungen; es gab sogar Tote. Schuld daran war der Giftstoff Solanin. 2022 erst wurde die Kartoffel zur "Giftpflanze des Jahres" gewählt. Nur die Knollen, wissen wir längst, sind genießbar und auch noch gesund: nahezu fettfrei und vollgepropft mit Stärke, Ballaststoffen, Eiweiß, Vitamin C, Mineralstoffen. Irgendwann wussten die Europäer, wie lecker diese unterirdische Kraftbombe ist. 1567 wurden drei Fässer mit Kartoffeln, Orangen und grünen Zitronen von Gran Canaria nach Antwerpen verschifft. Die Invasion der Papas, Patates, Tartuffeln begann.

Unter einer Grabplatte in Schloss Sanssouci liegt Friedrich II., "Der Alte Fritz", König der Preußen (1712 bis 1786). Hindrapiert wie knubbelige Pralinen liegen auf der eher schmucklosen Steinplatte – Kartoffeln. Niedergelegt von treuen Fans, als Liebesgabe an den "Kartoffelkönig". Zur Abwehr künftiger Hungersnöte befahl King Fritz seinen Untertanen den Anbau von Kartoffeln. Die widerspenstigen Bauern weigerten sich. Der Seemann Joachim Nettelbeck (1738 bis 1824) beschrieb die Begegnung zwischen "Tartuffel" und Landwirt: "Die guten Leute nahmen die hochgepriesenen Knollen verwundert in die Hände, rochen, schmeckten und leckten daran. Kopfschüttelnd bot sie ein Nachbar dem andern. Man brach sie auseinander und warf sie den anwesenden Hunden vor, die daran schnupperten und sie dann liegen ließen". 1746 erließ Friedrich den ersten von 15 "Kartoffelbefehlen". "Von uns in höchster Person" hat er "ernstlich anbefohlen", auf die nützlichen "Erd-Gewächse" zu setzen. "Wo nur ein leerer Platz zu finden ist, soll die Kartoffel angebaut werden"; bei anhaltender Widerspenstigkeit sollten dem Landvolk "Dragoner und andere Creißbediente" auf den Hals geschickt werden.

Sparbrod. Wüstensachen. Kaltennordheim. Wildflecken. Schmalnau. Dürrhof. Rabenstein. Rabennest. Teufelstein. Teufelsberg. Mordgraben. Viele Ortsnamen in der Rhön künden von Not und Elend. Auch die Bauern in der Rhön setzten alles auf die Kartoffel-Karte. Dabei, schrieb der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Rhiel 1851, sei die Erdknolle eine "tückische Frucht". Selbst in Zeiten schlimmster Not pflanzten die Rhöner Bauern laut Rhiel "halb kranke Kartoffeln" – was das Elend verschlimmerte. 1852 "hungerten selbst wohlhabende Landwirte im Vogelsberg mit ihrem Vieh." Auch sie hatten voll und ganz der Kartoffel vertraut. Rhiel: "Der Kartoffelbau hat nicht nur seine Poesie, er hat auch seine herbe Prosa. Wo vorwiegend Kartoffelland ist, da ist auch Branntweinland." Das Volk der Rhön hatte keine hohe Meinung von seinem Grundnahrungsmittel. In Meiningen seien "Kartoffelkröt" und "Erdäpfelgehäukröt" gängige Beleidigungen gewesen. "Ein plumpes, dummes Gesicht nennt man überall ein Kartoffelgesicht und eine dicke formlose Nase eine Kartoffelnase. Was plump und gemein ist, wird von dem Volke überhaupt gern mit der Kartoffel verglichen."

Vor 15 Jahren, als Kristina Schröder noch Familienministerin war, beklagte sie, auf unseren Schulhöfen würden "biodeutsche" Kinder von "nichtbiodeutschen" als "deutsche Kartoffeln" diskriminiert. Ist das rassistisch? Wollen wir mal nicht vergessen, wie wir die Weltbürger schon genannt haben: Spaghetti-Fresser. Kümmeltürken. Frosch-Esser. Käsköppe. Polentaschlucker. Gulaschkanonen. In ihrem Roman "Candlelight-Döner" schrieb Asli Sevindim, geboren in Duisburg als Tochter türkischer Eltern: "Ich hatte mir Stefan ausgesucht. Eine Kartoffel. So nennen wir Türken manchmal deutsche Erdenbürger. Weil sie – ganz einfach – ziemlich viele Kartoffeln essen. Manche heißblütige Türken und Türkinnen wollen damit auch zum Ausdruck bringen, dass Deutsche ungefähr genauso aufregend und sexy sind wie Kartoffeln, nämlich gar nicht." "Kartoffel" steht "in migrantischen Kreisen", gerne auch bei Rappern, häufig für deutschen Geiz und deutsche Herzlosigkeit. Der Hamburger Musiker Jan Delay hält dagegen: "Ich bin eine Kartoffel und ich bin cool damit."

Kartoffeln waren eine Untertanen-Mahlzeit. 1887 spottete der Reiseschriftsteller Balthasar Spieß über die genügsamen Rhöner, sogar Salz sei für sie ein "überflüssiges Gewürz": "In den goldenen Zeiten der Bureaukratie galt die Rhön für ein kleines Sibirien, wohin man missliebige Beamte und Geistliche verbannte. Ein neuerer Schriftsteller sagt halb ironisch: "Wie gut han’s doch die Leute da oben auf der Rhön! Da drückt Keinem der Schuh – weil sie barfuß geh’n." Mann, ist das lustig! Heinrich Heine hätte dem Zyniker schon eines übergebraten, und zwar so:
"Warum die Rose besingen,
Aristokrat!
Besing die demokratische
Kartoffel,
die das Volk nährt."

370 Millionen Tonnen Kartoffeln werden pro Jahr geerntet, über 7.000 Kartoffelsorten soll es geben auf der Welt. In Deutschland wurde in diesem Herbst eine Rekord-Ernte eingefahren, aber viele Bauern in den norddeutschen Kartoffel-Ebenen müssen ihre Knollen tonnenweise in Bio-Gasanlagen liefern. Obwohl die Preise vielerorts im Keller sind, zügeln die Deutschen ihren Kartoffel-Hunger. Während wir uns gern mal nach exotischeren Beilagen umschauen, wird jede vierte Patata heute im Reis-Reich China angebaut. Wir haben ja schon gehört: China hat zu viel Volk, 1,4 Milliarden Menschen. Für den Anbau von Reis und Weizen fehlt das reichlich nötige Wasser. Kartoffeln, die in China "Erdbohne" oder "Eiwurz" heißen, sind genügsamer, schmecken den Chinesen aber nicht. Kartoffeln werden häufig allenfalls als Beilage akzeptiert. Zum Reis.

Haben Sie jetzt Magendrücken? Kommen Sie, wir sind doch auch bei der Nahrungsaufnahme ein harter Volksstamm. Appetit auf Pommes? Lang, dünn und knusprig, so sollen sie sein, die echten Fritten – die aus Belgien. Nirgends leben so viele Fritten-Versteher wie hier, wo die Kartoffelstäbchen zweimal gebrutzelt werden. Erst in 140 Grad heißem Rinderfett vorfrittiert. Dann sollen sie ruhen, bevor sie bei 160 Grad knusprig geröstet werden. Belgische Kochmeister, heißt es, können am Geräusch des Bratfetts hören, ob die Pommes gar sind. Für viele Franzosen, die sich wie die Belgier für die Erfinder der Pommes frites halten, sind Belgier Witzfiguren (wie einst in Deutschland die Ostfriesen). Wie treibst du einen Belgier in den Wahnsinn? Sperr ihn in ein rundes Zimmer und erzähl ihm, in einer Ecke sei eine Tüte Pommes versteckt. Oder so: Wie kriegt man 10 Belgier in einen Fiat 500? Sag ihnen, unter einem Sitz liege eine Tüte Pommes... Blöd gelaufen, dass die Stäbchen in angelsächsischen Ländern "French Fries" heißen. Und noch blöder, dass ein Deutscher von dem Ernährungs-Experten Pierre Leclercq zum wahrhaftigen Pommes-König erklärt wurde. Der Bayer, den sie "Monsieur Fritz" nannten, habe auf einem Jahrmarkt in Lüttich 1838 die ersten Pommes verkauft. Leclercq schreibt: "Er starb jung, aber reich."

Heute gibt’s Bratkartoffeln, morgen welche zum Pellen, übermorgen gratiniert, und dann immer so weiter: gerieben und geröstet, gestampft oder schlicht gekocht. Und gegen eine gute Kartoffelsuppe haben wir auch nichts einzuwenden. So kommt man doch herrlich durchs Leben. Schauen wir mal, welche wir heimschleppen. Die feine Annabelle? Die cremige Linda? Die kräftige Sieglinde? Die mehlige Augusta? Irgendwie passt die Kartoffel zur Rhön. Ein wenig krumm und schepp und knuffig, man hat sie doch zum Schälen lieb. Einen ersten Preis für Ebenmäßigkeit und Eleganz würde sie wohl nicht erringen, aber das schaffen wir selbst ja auch kaum. Im Erdreich von Rhön und Vogelsberg saugt sich die Knolle voll mit dem hiesigen Geschmack; da kann die norddeutsche Flachland-Kartoffel kaum mithalten. Schauen Sie doch mal bei unseren Bauern vorbei, auf den Märkten oder in den Hofläden. Frischer geht’s nicht!

Liebe Kartoffel, wir werden dich nicht fallen lassen, nur weil du uns manchmal zu heiß wirst. Dir zum Ruhm und zu Ehren Deiner treuesten Anhänger im osthessischen Bergland lassen wir Joachim Ringelnatz mal eben seine Liebeserklärung an die Pellkartoffel ("Abschiedsworte an Pellka") vortragen:
Jetzt schlägt deine schlimmste Stunde,
Du Ungleichrunde,
Du Ausgekochte, du Zeitgeschälte,
Du Vielgequälte,

Du Gipfel meines Entzückens.
Jetzt kommt der Moment des Zerdrückens
Mit der Gabel! – Sei stark!
Ich will auch Butter und Salz und Quark
Oder Kümmel, auch Leberwurst in dich stampfen.

Musst nicht so ängstlich dampfen.



Es ist Zeit, die Kartoffel tanzen zu lassen. Bittesehr:

Mark Knopfler, Small Potatoes: https://www.youtube.com/watch?v=38kBC4jiADI

Ray Charles mit James Taylor, Sweet Patoto Pie: https://www.youtube.com/watch?v=euShKHeQppA&list=RDeuShKHeQppA&start_radio=1

Louis Armstrong, Potato Head Blues: https://www.youtube.com/watch?v=65SBsF28dnc&list=RD65SBsF28dnc&start_radio=1

Die Rhöner Säuwänzt, Rotwurst und Kartoffelsuppe: https://www.youtube.com/watch?v=8urWA1t4gHY (Rainer M. Gefeller). +++

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