Echt jetzt! (73)

Die fidelen Wut-Rentner - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Altenbegegnungsstätte“ 1989 in Bad Godesberg.
Foto: Ulrich Wienke für Bundesarchiv

05.09.2025 / REGION - Eigentlich geht’s uns doch super. Wir laufen "fit wie ein Turnschuh" in Badeschlappen, Sneakern oder Wanderschuhen durch den "Feierabend des Lebens". Aber "eigentlich", hat meine Oma gesagt, "hebt alles auf". Derzeit haben die Rentnerinnen und Rentner den Ruf weg, eine Art Schmarotzer-Bande zu sein. Sie leben einfach zu lange (und haben auch noch Spaß dabei). Ihre Renten fressen den Staat auf. Das Gesundheitssystem bricht zusammen.


Es gibt zu wenig Junge, die den Oldies einen schmissigen Lebensabend finanzieren sollen. Und schon geht’s uns an den Frack: Renten kürzen. Rente erst ab 70. Soziales Jahr für die Alten. Na los, traut euch! 22,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner leben in Deutschland, Tendenz steigend. Das ist ein Viertel der Bevölkerung, 85 Prozent von ihnen haben in diesem Jahr den Bundestag mitgewählt. Die klapprigen Alten von vorgestern sind heute eine Macht. Und sie haben was zu verteidigen. Man nennt es Lebensart.

Aber was tun diese Oldies eigentlich den ganzen Tag? Jeder fünfte Bundesbürger ist ja einer von uns, zählen wir doch einfach mal durch. Ah, da sind schon welche. Kaum blinzelt die Sonne, hocken sie auf den Bänken des Alten Friedhofs, in der Bahnhofstraße, im Schlossgarten, in der Fulda-Aue. Überall wo’s Kaffee gibt, haben sie zu manchen Zeiten sogar die Mehrheit übernommen. In den Bäckerei-Filialen vom Happ, vom Storch, vom Pappert sowie beim Gerlach. In den Cafés, die noch durchhalten: Ideal (Rabanusstraße), Café Herzlich (Kanalstraße), im Törtchen (Löherstraße), Café Glück (Friedrichstraße), beim Reinholz im Steinweg, beim Antonius im Severiberg und auch hoch oben auf dem Frauenberg, im Klostercafé. Aber beim Kaffee-Rausch bleibt’s natürlich nicht. Neuerdings hat die Rentner-Gang den Hanf entdeckt. Nicht zum Kiffen, sondern als Heilmittel gegen alles, was den Menschen zwackt.

Alte sind Frühaufsteher: morgens joggen oder durch die Felder latschen. Arbeiten (ja, ja, das gibt es auch noch, und nicht zu knapp!). Mittagsschläfchen, falls Zeit ist. Skat- oder Rommee-Runde. Mit dem E-Bike mal kurz zum Pfordter See; reinhüpfen und wieder zurück. Mag sein, dass auch mal jemand aus dem Sattel plumpst, genau auf die neue Hüfte. Aber was ist das schon verglichen mit den jugendfrischen Kerlen, die bei der Schlangenfahrt über die Bürgersteige und die Bahnhofstraße mit dem unbehelmten Kopf gegen einen Abfallkorb oder die Straßenlampe schmettern? Bei uns dagegen läuft es rund: nachmittags ein Likörchen, und abends wartet die Welt: Konzerte. Theater-Aufführungen. Kunst-Events. Die Weinstube. Vorträge. Die Stammkneipe. Und wer seine Knochen nicht allein arbeiten lassen will, geht zum Rollator-Tanz. Vorm Schlafengehen trinken wir noch ein Gläschen auf Norbert "Die Rente ist sicher" Blüm. Der kriegt natürlich kein Prost mehr zu hören, wenn er uns alle auf den Holzweg geführt haben sollte.

Die Alten bilden unsere größte Parallelgesellschaft, weitaus größer als Türkischstämmige, Russlanddeutsche und Muslime zusammen. Aber neuerdings rutscht unser Ansehen rasant in den Keller. Soziologen, Wirtschaftsforscher und natürlich Politiker haben Rentnerinnen und Rentner am Wickel. Sind wir etwa schuld am drohenden System-Chaos? Wird da Jung gegen Alt in Stellung gebracht? Oder Arbeitende gegen Ruheständler? Laut Mitteilung des Statistischen Bundesamtes waren im Oktober 2024 13 Prozent der Rentnerinnen und Rentner zwischen 65 und 74 Jahren erwerbstätig. Ein Drittel von ihnen schafft weiter, weil die Rente nicht reicht. 29 Prozent arbeiten einfach gern. Im Landkreis Fulda sind 4048 Menschen zwischen 65 und 75 in Beschäftigung – das sind sogar fast 20 Prozent dieser Altersgruppe. 45 Prozent der Oldies engagieren sich im sozialen Bereich, in Kirchen und Vereinen, Nachbarschaftshilfe, Bürgerinitiativen, Sport und Kultur. Ungezählt sind jene, die kranke Angehörige oder Enkel hüten. So viel über die faulen, nutzlosen Oldtimer.

Johannes Heesters (1903 bis 2011) war der Vorzeige-Star für das Durchhalte-Vermögen des Alters. 108 Jahre alt wurde er, bis kurz vorm Ende stand er noch auf der Bühne und sang immer und immer wieder seinen jahrzehntealten Hit: "Heut geh ich ins Maxim, da bin ich sehr intim, ich duze alle Damen, ruf sie beim Kosenamen." Ein böser Spiegel-Reporter fragte ihn damals, ob er nicht mal langsam zum Schluss kommen wollte. Nee, nee, beschied ihn der alte Herr, "jetzt ist es auch zu spät, um aufzuhören". Was geht nur in den Köpfen der Grauhaarigen vor? Warten die alle gebannt, ob die Apotheken-Umschau endlich die sehnlichst erwarteten Erfindungen verkündet: Medikamente gegen Krebs, Demenz, Alzheimer, Rheuma, Infarkte und Schlaganfälle? Manche Bevölkerungsplaner wünschen sich vielleicht ganz alte Zeiten zurück, als die Menschen so gütig waren, die Sozialstatistiken selbst zu bereinigen. Lebenserwartung für Frauen im Mittelalter: 25 (weil Geburten lebensgefährlich waren). Lebenserwartung für Männer: 32. 1900: Männer 40,6, Frauen 43,4 Jahre. Noch 1910 schwadronierte ein "Verein für Sozialpolitik": "Der Arbeiter hört im Großen und Ganzen im 40. Lebensjahr auf, ein wirklich brauchbarer Mensch zu sein."

"Schon als Kind wollte ich gern Opa sein." Das hat Helge Schneider gesagt; seit vergangener Woche ist Deutschlands wunderbarer Musik- und Wort-Clown 70 Jahre alt. Er hat’s geschafft: Sechs Kinder von vier Frauen, und vier Enkel noch dazu. "Ich vergesse manchmal, wer jetzt Kind und wer Enkelkind ist. Oder überhaupt, ob das meine Kinder sind oder noch jemand anderes dabeisteht." Kann schon mal passieren, Helge – aber als ihm der Satz rausgerutscht ist, war er erst 58. Bisschen früh für so viel Schusseligkeit! Oldies haben sowieso den Ruf, gaga zu sein. Manche Angehörige und Pflegekräfte sind der Auffassung, sie könnten nur noch mit Baby-Sprache zu den Alten durchdringen. "Heia" oder "Pipi" machen, "Breichen essen" ("komm, noch ein Löffelchen!"), und dabei immer schön die Stimme eine Oktave höherschrauben. Die Generation Altmeister steht leider in dem Ruf, dass im "Oberstübchen", wie die Hirnkiste früher genannt wurde, öfter mal das Licht ausgeht. In Wahrheit ist bei 65-Plus zwischen den Ohren mehr los, als die Rest-Bevölkerung sich ausmalen kann.

Mein derzeitiger Lieblings-Hirnforscher heißt Martin Korte, Professor an der TU Braunschweig. Er räumt in einem Interview mit dem Vorurteil auf, die Alten seien vor allem vergesslich, langsam und phantasielos. Quatsch, sagt Herr Korte: "Das Gehirn eines 50-, 60- oder 70-Jährigen hat verglichen mit einem jungen Gehirn einen ungleich größeren Datenspeicher, ein größeres Gedächtnisvolumen. Man hat hundertmal mehr Menschen getroffen, man hat tausendmal mehr an Wissen abgespeichert, man hat tausend mehr Namen kennengelernt. Eigentlich haben ältere Menschen das beste Gedächtnis auf diesem Planeten, weil sie das größte haben." Jetzt wissen wir Bescheid! Der Theologe Georg Söll hat uns schon 1963 echt Mut gemacht: "Auch in der Abendsonne des Lebens können noch Früchte reifen." Da sind wir aber froh.

Wer 70 Jahre durch dieselbe Straße spaziert, dem kann statistisch betrachtet eher mal ein Dachziegel auf den Kopf fallen als einem 40-Jährigen, der den gleichen Weg hat. Bei Krankheiten ist es genauso; im Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man erwischt wird. Brutal und ungerecht ist es, was unseren Alters-Schwestern und -Brüdern das Leben vergiftet. 5,7 Millionen Pflegebedürftige gibt es in Deutschland, davon werden 800.000 in Heimen versorgt. 1,8 Millionen Menschen leiden unter Demenz. Die Mehrheit der Alten allerdings, die gleichfalls mit Mitleid betrachtet wird, sucht weiterhin den Genuss im Leben.

Die FAZ rät den Alten, misstrauisch zu sein: Gesetzliche Eingriffe in unsere Besitzstände seien "nicht ausgeschlossen". Roman Herzog hat uns bereits 2008 gewarnt: "Ich fürchte, wir sehen gerade die Vorboten einer Rentnerdemokratie: Die Älteren werden immer mehr, und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie. Das könnte am Ende in die Richtung gehen, dass die Älteren die Jüngeren ausplündern." Guck an, der Krawall von heute schwelt schon lange. Soll sich doch der Merz drum kümmern, hat Frau Merkel vielleicht gedacht. Dabei drängen weitere 12 Millionen "Baby-Boomer" an die Geldausgabe der Rentenkassen. Die haben auch keine Lust, die Suppe auszulöffeln, die uns Generationen von Sozialpolitikern eingebrockt haben. Schadet nichts, wenn die politischen Kassenverwalter Bammel haben vor den Wut-Rentnern. Wenn wir nochmal kurz vorrechnen dürfen: 21 Prozent der 60- bis 69-Jährigen haben bei der letzten Bundestagswahl SPD gewählt, 33 Prozent CDU oder CSU. 25 Prozent der über 70-Jährigen haben SPD gewählt, 43 Prozent eine Unionspartei. Der AfD, die ihre Wähler sonst in allen Altersgruppen abgefischt hat, haben nur zehn Prozent der über 70-Jährigen ihre Stimmen gegeben. Na, klingelt’s? Bei den Alt-Parteien sind die Alten das Maß aller Dinge... Falls sich jetzt ein kleiner Kopfschmerz in Ihnen einnistet – flüchten sie zu John Lee Hookers Blues mit dem Titel "Boom Boom". Dieser Anmach-Song von 1962 ist eindeutig eine Hymne der Baby-Boomer. Oder vielmehr: ihrer Eltern. Boom Boom Boomer... https://www.youtube.com/watch?v=o_6SlT3Yy10

Jetzt brauchen wir Erholung. Montags bis samstags, kurz vor 20 Uhr, bevor die Tagesschau-Fanfare ihre treueste Kundschaft zum Ernst des Lebens ruft, haben die Oldies sich köstlich amüsiert: Zeit für die Senioren-Werbung. Die läuft bereits eine Stunde früher beim Arthrose-Sender ZDF. Eine blonde Lady empfiehlt ein Medikament gegen Schwindel. Der mitfühlende Zuschauer fürchtet, dass sie jeden Moment wegen Schläfrigkeit vom Rad fallen könnte. Kinder, Haustiere, Lebenspartner stehen einem von Blähungen geplagten Mann zur Seite. "Ist doch nicht schlimm", sagt sein Schatzi. Ist es doch, wir haben Abendbrot-Zeit. Bei den Nackten im FKK-Camp kommt die "Beinwellwurzel" gegen Schmerzen aller Art zum Einsatz. Und dann ist da noch die hyperaktive frisch gesalbte Frau, die nicht nur ihrem fetten Kater tierisch auf den Senkel geht. Morgens reißt sie den Staubsauger hin und her, als wollte sie ihrem Teppich das Fell abziehen. Mittags kicken mit den Enkeln, abends wird die Wohnstube zum Tanzpalast. Ach, wie wohltuend, dass von Zeit zu Zeit auch Anita Frauwallner ins Bild tritt. Die Königin der Verdauungssysteme hat diesen österreichischen Schmelz in der Stimme. Wir müssen nicht lange warten, dann sagt sie das Wort, auf das wir alle warten: "Darmflora!" Das klingt verheißungsvoll wie auf einem Floristen-Kongress. Sprechen Sie ruhig weiter, Frau Frauwallner. Egal, was Sie uns verkaufen wollen: Gleich morgen wird’s besorgt. Aber brauchen wir das überhaupt?

Schluss jetzt, lassen wir mal Udo Jürgens ran: "Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an." https://www.youtube.com/watch?v=eRMIfhvoZzA

Und dann noch Chris Roberts pädagogische Ermahnung: "Du kannst nicht immer 17 sein. Liebling, das kannst du nicht." https://www.youtube.com/watch?v=sQxTqR8pO2Q (Rainer M. Gefeller) +++

Echt Jetzt! - weitere Artikel

↓↓ alle 88 Artikel anzeigen ↓↓

X