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Wenn der Schmetterling zu dick ist - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Breite Damen am Meer.
Foto: Michael Otto

10.10.2025 / REGION - Was treiben eigentlich diese studierten oder selbsternannten Ernährungsberater, Fitness-Gurus und Gesundheits-Coaches, wenn der Tag lang wird? Haben Sie vielleicht ihren Beruf verfehlt? Sie predigen uns, wie wir leben und aussehen sollen. Männer mit Waschbrett-Bäuchen und muskelbepackt wie der junge Schwarzenegger sollen wir sein. Gazellen-artige Frauen, erwachsene Ladies in Mädchen-Körpern. Ein Volk der Kalorienzähler und Salat-Knabberer. Interessant – aber wo sind die bloß alle? Die Wahrheit ist: wir werden dick und dicker. Dabei weiß doch jeder, dass der gemästete Mensch von Krankheiten bedroht ist und nicht alt wird. Ist den Dicken einfach alles pupsegal? Oder lassen sie sich nicht so leicht erschrecken? Oder nehmen pfundige Menschen die Gefahren in Kauf, weil sie halt schöner sind als die abgemagerten?



"Wer schön sein will, muss leiden", hat meine Mutter gern gesagt. Was haben sich die Frauen nicht schon alles zugemutet: die Haut gebräunt oder aufgehellt, den Körper bemalt, tätowiert und zurechtgebogen. Löcher in Ohren und Nasen gebohrt, Lippen aufgespritzt, Implantate eingebaut, Falten glattgebügelt, gepierct, die Körpermitte eingeschnürt. Die Füße verkrüppelt. Gehungert, bis die Knochen durchschimmerten. Gemästet, bis selbst tischtuch-große Kleider endlich straff saßen. 1992 haben Forscher in einer weltweiten Vergleichsstudie ermittelt, dass in der Hälfte der untersuchten Völker dicke Frauen dem Schönheits-Ideal entsprachen. Ein Drittel fanden auch mittel-mollige Ladies sexy, nur ein Fünftel der Volksstämme hatte Gefallen an dünnen Damen.

Vorbild aller Schlankheitsfanatiker ist noch immer Sisi (1837 bis 1898) und ihr hemmungsloser Schönheitswahn. Harte Diäten, in denen auch rohes Ochsenblut eine Rolle spielte, sowie stundenlange Fitness-Übungen hielten sie in Form. Da kamen ihre Bodyguards nicht mit: "Die Leistungsfähigkeit ihrer Majestät ist eine so bewundernswürdige, dass die Geheimpolizei es für unerträglich erklärte, der Allerhöchsten Frau anders als zu Wagen zu folgen." Aber: war die Kaiserin, die als eine der schönsten Frauen ihrer Zeit galt, in Wahrheit magersüchtig? War sie eine Vorläuferin der modernen Mannequins? Die wurden eine Zeitlang von der Modebranche nur auf den Laufsteg gelassen, wenn sie sich auf eine Konfektionsgröße von maximal 34 heruntergehungert hatten.

"Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin." So beginnt ein Lied vom Dünn-Mann Westernhagen, 1978 veröffentlicht. Ein vier Minuten und fünf Sekunden langer unappetitlicher Textbrei, der so endet: "Dicke, Dicke, Dicke, Dicke..." 32mal! Viele Radiostationen haben das Werk nicht gesendet. Westernhagen hat’s bis vor zehn Jahren ungerührt weiter auf seinen Konzerten dargeboten, der Song sei schließlich ein Stück "Gesellschaftskritik". Mannomann, der traut sich was. Da lobe ich mir den Rock’n’Roller Fats Domino. Der hat 1949 seinen ersten Song aufgenommen – "The Fat Man" – und nahm sich darin selbst auf die Schippe: "Sie nennen mich fetter Mann, weil ich 200 Pfund wiege. Doch alle Mädchen lieben mich!"

Im Watschelgang der Geschichte ging die Menschheit echt durch dick und dünn. 1908 wurde in der Wachau eine fast 30.000 Jahre alte elf Zentimeter messende Figur entdeckt. Die Venus von Willendorf, eine äußerst dicke Dame aus der Altsteinzeit, wurde als archäologische Sensation gefeiert und als Beleg: unsere Urahnen liebten es üppig. Die alten Griechen hatten es gern nicht zu dick und nicht zu dünn. Den Römern konnte der Wohlstands-Bauch nicht feist genug sein: Schaut her, wir sind dick im Geschäft! Im Mittelalter waren kindlich-schlanke Girls hip – lediglich der Spitzbauch sollte hervorstechen und galt als erotisch.

Im Barock war schön, wer genügend Pfunde vorzuzeigen hatte. Peter Paul Rubens war geradezu versessen darauf, diese Wuchtbrummen in seinen Gemälden zu verewigen. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts ging’s wieder bergab, fast drei Jahrhunderte lang war die Sanduhr-Figur das Maß aller Dinge. In den 50ern hingegen wurde es gern gesehen, wenn die Frauen was auf den Hüften hatten; die Jahre des Darbens waren schließlich überwunden. In wenigen Wochen bis zu 30 Pfund mehr auf der Waage – dieses Wunder versprachen bereits in den 20ern "Eta-Tragol-Bonbons" und lockten: "Bedenken Sie, wie Ihre Figur durch diese Gewichtszunahme verschönert wird und um wieviel Sie sich dadurch begehrenswerter machen."

Die Deutschen nannten Schauspielerinnen mit weiblichen Körperformen "Sexbomben". Seit den 50ern waren die üppigen Ladies nicht nur in den Kinos, sondern auch in Klatsch- und Boulevard-Blättern Super-Stars. Auch bei Twiggy (auf deutsch: Zweiglein) standen die berühmtesten Fotografen der 60er Jahre Schlange. Dürr und blass war sie und von "elfengleicher Zartheit" ("Die Welt"), eine Ikone der Mode-Magazine. 42 Kilo leicht bei einer Körpergröße von 1,70 Metern. Über sich selbst sagte sie später, sie habe ausgesehen "wie eine Mischung aus Bambi und E.T.". Die meisten Menschen urteilten ähnlich, sie mochten die weicheren Formen lieber. 1973 sang Wolf Biermann, damals noch in der DDR, "von mir und meiner Dicken in den Fichten". Das sagt doch alles!

Und heute? Werden wir wieder zurückgebeamt ins Barock? Bereits 2013 war die FAZ ganz begeistert von Fulda: "Der Barock ist in dieser Stadt keine vergangene Epoche, sondern eine Lebensweise." Der Autor meinte damit die Lust der Einheimischen auf ihre vielen Cafés, Restaurants und Weinstuben, auf den Mittags-Snack samt Wein und die Feierabend-Drinks sowie die "phantastische Tortenarchitektur". Die wachsende Korpulenz der Naschkatzen hatte er nicht im Blick.

Manche erinnern sich vielleicht noch an eine kulinarische Verlockung ihrer Jugend: Kinderfingerdick Butter auf das noch dampfende Brot, großzügig mit Zucker bestreut. Ach ja, die "gute Butter". In mageren Zeiten ein Leckerbissen, den sich die meisten nicht leisten konnten. Man sagte "Alles in Butter" wenn’s gut lief. Oder "Butter bei die Fische", wenn endlich mal Klartext geredet werden sollte. Und alle waren sich einig: "Wir lassen uns doch nicht die Butter vom Brot nehmen." Über lactosefreies Streichfett habe ich noch niemanden derart schwärmerisch reden hören...

Zucker ist ein Teufel. Der süße Stoff macht dick und süchtig. Er greift den Darm, das Herz und die Gefäße an und beschert uns Krankheiten wie Diabetes, Krebs, und Karies. In den 50ern freilich galt Zucker als Superfood der Nachkriegs-Generation, in den süßen Körnern saß die Kraft, die dem Volk fehlte. Noch 2001 schnulzte Erik Silvester über "Zucker im Kaffee, und im Herzen alle Tage lang Amore." 1958 schwärmte der Amerikaner Bill Ramsey von der "Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe". Und dann waren da ja noch die "Archies" mit ihrem "Sugar Sugar". Hier kommt eine Übersetzung des klebrigen Lieds (eignet sich vielleicht als Einstieg in den Zuckerverzicht): "Zucker! Oh Honig, Honig. Du bist mein Süßigkeiten-Girl. Du machst mich verrückt nach dir." Heute sind selbst unverdächtige Lebensmittel oft Zuckerbomben: Trockenobst, Müsli, Fruchtjoghurt, Softdrinks, Smoothies, sogar Babynahrung und manche Würstchen. Laut Robert-Koch-Institut futtern 6- bis 11-Jährige doppelt so viele Süßigkeiten und nur halb so viel Obst, wie es gesund wäre.

Im Internet und diversen Lifestyle-Magazinen präsentiert sich das superschlanke, supergesunde Amerika. Vielleicht sollten wir öfter mal in Texas oder Missouri oder Oklahoma vorbeischauen, bei den US-Normalos. 2012 schrieb die "Zeit" ganz erschrocken über die dicken Kinder von Amerika. Zum Beispiel über Jonathan, "trägt Kleidung der Sondergröße 4XL". 1,68 Meter hoch, 165,7 Kilo schwer, "das zeltartige T-Shirt klebt an ihm wie ein Neoprenanzug". Auch wir werden immer dicker, viele von uns sind sogar regelrecht fett. Laut "Statista" waren im vergangenen Jahr 62,4 Prozent der deutschen Männer und 42,5 Prozent der Frauen übergewichtig. 18,7 Prozent der Männer und 14,8 Prozent der Frauen gelten als adipös – krankhaft fett. Da haben wir sogar noch Schwein gehabt: In den USA ist sogar jeder Dritte (33,8 Prozent) fettleibig. Zwei Drittel aller US-Amerikaner (67 Prozent) sind laut OECD übergewichtig.

Na und? Wir Dickis zucken die Achseln und watscheln zur nächsten Ausgabestation von fetttriefendem Leberkäs und Pommes Rot-Weiß. "Alle kräftigen Menschen lieben das Leben", hat Heinrich Heine gesagt. Stimmt! Sind nicht die Rappeldürren meistens übellauniger als wir? Schade, dass der Sommer vorbei ist und wir unsere Feinkostgewölbe jetzt unter locker fließenden Jacken verstecken müssen. Dick ist schön, oder etwa nicht? Sogar Star-Designer wie Galliano und Gaultier haben "Plus Size Models" auf den Laufsteg geschickt, Konfektionsgröße L. Mindestens. Wer füllig ist, gibt sich schon lange nicht mehr mit Sackleinen zufrieden. Allerdings entkommen auch geschmackvoll gekleidete starkhüftige Menschen nicht dem allgemeinen Spott, zum Beispiel diesem Spruch: "Hat die Blume einen Knick, war der Schmetterling zu dick."

Was futtert man eigentlich im Internet? Seien Sie auf der Hut! Zwischen all den seriösen Ratgebern mit Rezept- und Ernährungstipps wollen uns auch Tausende von "Influencern" in den Abgrund ihrer eigenen Obsessionen locken. Junge Mädchen werden mit dem lebensbedrohlichen Auftrag versehen, niemals mehr als 900 Kalorien täglich zu sich zu nehmen. Vier Prozent der deutschen Frauen und 0,8 Prozent der Männer gelten als untergewichtig. Bei "Mukbang", dem südkoreanischen Horror-Fressen, würgen dagegen dicke junge Männer herunter, was durch die Gurgel passt – und lassen sich dabei filmen. Es gab schon Tote! Die Ernährungsberaterin Diana Fransis warnt: "Ich habe viele Jugendliche behandelt, deren Essstörungen durch Socialmedia ausgelöst wurden." Während die einen sich an den Sarg-Rand hungern, spachteln die anderen so lange, bis selbst verstärkte Krankenhausbetten ihnen nicht mehr standhalten. Und welche Krankenschwester soll eigentlich die Superdickis auf den Rücken drehen, wenn sie nach Luft japsen?

Wer Hüfte und Hintern gern prall hat, sollte halt auf sich achtgeben. Sieben Millionen Menschen in Deutschland haben Diabetes. Das sind nur jene, die in ärztlicher Behandlung sind. Acht von zehn jungen Deutschen (15 bis 24 Jahre alt) wissen gar nicht, dass die "Zuckerkrankheit" über sie hergefallen ist und was ihnen droht: dass Blutgefäße, Nerven, Herz und Nieren beschädigt werden und das Leben zur Qual wird. Spätestens, wenn der mastige Bauch wie ein Fremdkörper vor uns hängt, können wir ja mal was ausprobieren. Was wir essen und trinken sollten und was nicht, wissen wir ja sowieso. Viele wählen den Fett-Weg-Turbo: Pillen und Spritzen zu Abnehmen. Aber wie wär’s mit ein wenig Bewegung? An jeder dritten Straßenecke warten Fitness-Studios auf unseren Besuch. Aber viele denken wahrscheinlich: Selbst ist der Dickmann. Aber nicht gleich los spurten! Die AOK rät zum sanften Einstieg – Fahrradfahren, Nordic Walking. Vorm gleichfalls empfohlenen Schwimmen müssen wir an deckenhohen Spiegeln vorbei; da sehen wir ja, was los ist. Rund ist schön, fett ist es nicht. Denkt dran: Nur außerhalb des Körpers wirken Kalorien immer so anziehend.

Hier geht’s in die Dicken-Disco:

Fats Domino, "The Fat Man", 1950: https://www.youtube.com/watch?v=aIz1cPfTRW4.
Wolf Biermann: "Von mir und meiner Dicken in den Fichten", 1973: https://www.youtube.com/watch?v=T9Q5Zwr8jO8.
Erik Silvester. Zucker im Kaffee, 1969: https://www.youtube.com/watch?v=PHyx4qJ24VI.
Bill Ramsey: "Zuckerpuppe", 1958: https://www.youtube.com/watch?v=vFougTKXePA.
Archies: Sugar Sugar, 1969: https://www.youtube.com/watch?v=C7T4aQMxTTM.

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