Echt jetzt! (81)

Wir sind das Stadtbild! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Uns kann doch der Kanzler kaum gemeint haben, als er von "diesem Problem im Stadtbild" erzählte. Waren wir nicht gestern noch glücklich darüber, in Fulda leben zu können?
Foto: Annemaria Gefeller

31.10.2025 / REGION - Wohnen wir etwa in Duisburg? Bilder von verrotteten Straßenzügen, Müllkippen in der Fußgängerzone, Banden, Junkies und Trinkern in der Ruhrpott-Metropole machen gerade die Runde. Wenn man dort leben muss, kann man echt depressiv werden. 2009 noch von der Bundesregierung als "Ort der Vielfalt" gefeiert, wird heute der hohe Ausländer-Anteil (25 Prozent) zur Last. Arbeitslosenquote: 12,7 Prozent. Aber was hat Duisburg mit uns zu tun? Uns kann doch der Kanzler kaum gemeint haben, als er von "diesem Problem im Stadtbild" erzählte. Waren wir nicht gestern noch glücklich darüber, in Fulda leben zu können? Enrique Penasola war zweimal Oberbürgermeister der als gefährlich verrufenen Millionen-City Bogota und schenkte uns folgenden Leitsatz für alle Kommunen dieser Welt: "Ob eine Stadt zivilisiert ist, hängt nicht von der Zahl ihrer Autobahnen und Schnellstraßen ab, sondern davon, ob ein Kind auf dem Dreirad unbeschwert und sicher überall hinkommt." Das kann man getrost auch auf Senioren mit ihren Rollatoren, auf allein herumspazierende Frauen, auf gebrechliche Menschen übertragen. Können wir unbeschwert überall langgehen? Oder müssen wir Angst haben in unserer Heimat?



Wenn man einen Fuldaer nach dem gefährlichsten Viertel fragt, wird er wahrscheinlich nach oben zeigen: 454 Meter ragt er auf, der Aschenberg, vollgepackt mit Hoch- und Reihenhäusern aus den 70er Jahren, größter Stadtteil und verrufen wie sonst keiner. Als Zusammenballung von "städtebaulichen Defiziten", "schlechter Bausubstanz", "sozialen Problemstellungen" wurde der "Wodka-Berg" abgestempelt. Drogen, Gewalt, Kriminalität. Viele Alleinerziehende leben hier, Transferleistungs-Empfänger, Menschen mit Migrationshintergrund, "Russland-Deutsche". Menschen am Rande. Diese Beschreibungen haben sich über Jahrzehnte festgesetzt. Die Wahrheit ist: Hier oben gibt es nicht mehr kleine oder große Vergehen als im Rest der Stadt. 6.000 Straftaten wurden in Fulda im vergangenen Jahr festgestellt, ein Rückgang um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Straßenkriminalität: 600 Delikte (minus 160 Fälle). 75 Prozent aller Straftaten wurden aufgeklärt.

"Der Mensch ist so, wie die Stadt ihn macht, und umgekehrt", hat Alexander Mitscherlich 1965 in seinem Buch über "die Unwirtlichkeit unserer Städte" geschrieben. In dieser Abrechnung mit der Nachkriegs-Architektur erklärte er im Mittelalter gewachsene Städte als große Vorbilder: sie würden "zum Liebesobjekt ihrer Bürger". Für den Aschenberg hätte der linke Denker vermutlich den Abriss empfohlen. Aber diese 200 Meter tiefer gelegene Herzstadt mit ihren Gassen, ihren barocken Schönheiten, ihren bürgerlichen Villen hätte er ganz gewiss ins Herz geschlossen. "Stadtbild Deutschland" ist ein Verein, dessen Mitglieder sich "für die Schönheit unserer Städte einsetzen". Der Bürger-Club hat einen seiner Spezial-Ästheten auch nach Fulda entsandt. Der Mann war beinahe außer sich vor Begeisterung. Schloss, Dom, Paulustor, westliche Altstadt bewertet er als "extrem beeindruckend", die Atmosphäre des Schlossparks empfand er als "fast südländisch". Und weiter geht’s: "Ich war bisher in keiner Stadt, die sich so sehr um eine breitflächige und schöne Bepflanzung bemüht." "Zum Träumen schön" das Ensemble aus Schloss, Park und Orangerie, "vielleicht eine der schönsten Kompositionen, die wir in Deutschland haben." Was heißt hier vielleicht?

Zu meckern gibt’s dennoch immer irgendwas. Was stört uns eigentlich an unserem Zauber-Stadtbild? Hier ist eine kleine unvollständige Aufzählung, die mir von anderen Spaziergängern zugeraunt wird. Immer mehr Bettler in der Stadt, die uns vor Geschäften, Banken, längs der Bahnhofstraße auf ihren Pappschildern die immergleiche Botschaft zeigen: "1 Euro für Essen." Der Leerstand in Geschäften beunruhigt die Menschen. Und immer wieder: die Tauben. Die vielen Baustellen. Elterntaxis. Kettenraucher, die ihre Kippen achtlos ins Stadtbild schnipsen. Hundehaufen ärgern einige (obwohl nur ein Tierhalter erwischt wurde in diesem Jahr, Bußgeld 88,50 Euro). Stadt-Pressesprecher Johannes Heller gegenüber der Fuldaer Zeitung: "Erfahrungsgemäß gibt es im Beisein von uniformierten Kräften nur selten Verstöße." Na dann: Uniformierte raus auf die Straße! Bei der großen "Kompass"-Befragung durch das Kriminologische Institut der Uni Gießen zählten 3800 Fuldaer auf, was sie aufregt. Nummer 1 der Schandtaten: "Undiszipliniertes Autofahren". Als Raser-Hochburger werden vor allem Ost- und Nordend, Horas und Kohlhaus genannt. Da würden uns auch noch ein paar einfallen! Und dann sind da noch die "Angst-Orte": Bahnhofsplatz. Uniplatz. Jerusalemplatz. Schlossgarten. Und der Aschenberg geht den Fuldaern auch nicht aus dem Kopf.

"Jetzt mach mal hinne", drängte mein Kollege Werner, "sonst sind hier gleich die Radkappen weg." Er saß in seiner etwas deplatziert wirkenden Limousine am Offenbacher Hauptbahnhof. Ich hockte im Regionalzug RE 50, der sich natürlich verspätete. Werner wollte mich abholen; sein Auto wurde von einer bedrohlich wirkenden Schar junger Männer umkreist. Tja, diese Vorzeige-Adresse für Verwahrlosung, Dreck und Gewalt kann einem schon mal die Angst in die Schnürschuhe treiben. Auf den ersten Blick wirkt daneben Hbf-Frankfurt wie ein großzügig ausgeleuchteter Palazzo. Aber auf den zweiten sieht man die bedrohlichen Orte. Biegen Sie hinterm Haupteingang besser nicht nach links ab, das ist der erste Sammelplatz für apathische Fixer und aggressive Stark-Trinker. In den angrenzenden Gassen lagern ungezählte Drogenkranke auf den Bürgersteigen; hin und wieder werden sie von Polizisten der Wache 4 vertrieben. Auf der Rückfahrt nach Fulda wollen wir uns einen Zwischenstopp in Hanau lieber schenken. Ist hier nicht 2022 die Zahl der Diebstähle um 80 Prozent angestiegen? Gab’s hier nicht etliche Messer-Attacken auf Reisende? Hat hier nicht, im August 2023, eine vermummte fünfköpfige Bande den ICE 522 überfallen und Gepäckstücke geklaut? Na siehste. Nichts wie heim.

Ankunft am "Angst-Ort" Bahnhofsvorplatz in Fulda. Viele Frauen meiden solche Plätze – vor allem, wenn sie allein unterwegs sind. Einige haben sich zur "Stadtbild"-Debatte geäußert: In der Gruppe fühlten manche Männer sich so stark, dass der gute alte Macho geweckt wird. Anzügliche Bemerkungen, fiese Anmache – das beherrschen Kerle aus allen Regionen der Erde. "Betrunken sind sie besonders bedrohlich", hat eine Lady geschrieben. Heute stehen drei harmlose Grüppchen hier rum. Lautes Lachen, lautes Reden. Manche wippen auf ihren weißen Sneakern, nach einem Rhythmus, den nur sie hören können. Die Zahl der Straftaten ist hier rasant zurückgegangen, seit alles video-überwacht ist und Streifenbeamte immer mal nachschauen. Außerdem ist das Wetter einfach zu schlecht, um draußen rumzuhängen. Für ein paar Jahre war hier ein Treffpunkt vieler Jungmänner afrikanischer und arabischer Herkunft. Die meisten von ihnen sind weg. Wo sind die nur alle geblieben? Sind jene, die illegal hier waren, vor dem wachsenden politischen Druck in die Großstädte untergetaucht? Noch Ende Januar forderte Landrat Bernd Woide in einem dramatisch klingenden Interview mit Osthessen-News eine "Migrations-Wende", heißt: "Begrenzung im Zuzug". Woide damals: "So geht es nicht weiter." 2024 wurden dem Landkreis noch 1.088 Menschen "zugewiesen". 58 Prozent davon (632) waren ukrainische Flüchtlinge. Bis Ende August musste der Landkreis nur noch 321 Menschen aufnehmen, davon 154 Ukrainer. Vor wenigen Tagen formulierte Woide gegenüber der O/N sehr viel entspannter. "Fulda ist nicht Berlin", sagte er, und: "Unsere Region ist eine sichere Region." Dennoch hat auch Fulda schon Gewalt erlebt. Und natürlich gibt es dieses "Gefühl", eine schwer greifbare Furcht vor den und dem Unbekannten. Es sei aber "völliger Unsinn", sagt Woide, "dass Menschen, die eine andere Hautfarbe oder Herkunft haben, automatisch problembehaftet sind." Das musste auch mal gesagt werden.

Für die Betreuung von Asylbewerbern und Flüchtlingen engagieren sich die AWO, Caritas, DRK und Grümel. Sie betreiben Gemeinschaftsunterkünfte und helfen den Hilfesuchenden bei den schwierigen Wegen durch den deutschen Bürokratie-Dschungel. Den allermeisten (70 Prozent) muss "Ausfüllhilfe" bei Anträgen und Formularen geleistet werden; häufig müssen die Berater die amtlichen Schriftstücke erstmal übersetzen. Und wie geleitet man die Flüchtlinge in die digitale Welt? Schließlich arbeiten viele Behörden papierlos. Das bereitet ja sogar uns Probleme.

Armut trifft nicht nur Flüchtlinge. Armut verbirgt sich. Aber wie überleben die, die nichts haben? Die "Fuldaer Tafel" versorgt 1.700 Menschen in 600 Haushalten mit Nahrung, die Helfer arbeiten am Limit zur Linderung der Not. Seit fast zweihundert Jahren hilft das "Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern" in Fulda. Die Mittagsmahlzeit der "Vinzenzküche" ist für viele Bedürftige wie ein Geschenk von oben. Über die Anfänge in den 1830er Jahren schreibt eine Chronik: "Es kamen Arme aus der Stadt und Umgebung, arme Familien, Alleinstehende, ebenso Brüder von der Landstraße." 150 Bedürftige wurden hier mit warmen Mahlzeiten versorgt, im Krieg waren es noch weitaus mehr. Wir versuchen, schreiben die Ordensschwestern auf ihrer Webseite, "wie viele andere Einrichtungen hier in der Stadt unkonventionell für Menschen in Not da zu sein, nicht wegzuschauen und mit dem Herzen zu sehen. Und wenn möglich Sinn und Hoffnung zu geben."

Danke! Jetzt, kurz vorm Ende dieser kleinen Erkundungs-Tour, wird uns klar, dass der Kanzler Fulda gar nicht gemeint haben kann. Der Mann war doch auch schon ein paarmal hier; bei uns tobt die Idylle, genau wie bei Friedrich Merz daheim, in Arnsberg. Vielleicht sollte er seine beiden Töchter mal zur Kontrolle vorbeischicken. Unser Stadtbild – das sind wir alle. Und wenn’s mal unbehaglich wird, kümmern wir uns drum.

Einladung zum Konzert: Liebeslieder für Lieblings-Städte.

Paolo Conte, Genova per noi: https://www.youtube.com/watch?v=3AjmcJm3wPM

Frank Sinatra, New York, New York https://www.youtube.com/watch?v=le1QF3uoQNg

Jaques Brel, Amsterdam: https://www.youtube.com/watch?v=-Z0UGGvb4sQv

Scott McKenzie, San Francisco: https://www.youtube.com/watch?v=7I0vkKy504U

Nina Simone, Baltimore: https://www.youtube.com/watch?v=ztCgNQg9FCQ&list=RDztCgNQg9FCQ&start_radio=1

John Cale, Paris 1919: https://www.youtube.com/watch?v=q5YHqWqhFkU&list=RDq5YHqWqhFkU&start_radio=1

Stevie Wonder, Living in the City: https://www.youtube.com/watch?v=Nu95a_RiH54&list=RDNu95a_RiH54&start_radio=1

Element of Crime, Delmenhorst: https://www.youtube.com/watch?v=H5SrdnzuXPQ

Astrud Gilberto, Joao Gilberto, Stan Getz, The Girl from Ipanema: https://www.youtube.com/watch?v=c5QfXjsoNe4&list=RDc5QfXjsoNe4&start_radio=1

Tina Turner, Nutbush City Limits: https://www.youtube.com/watch?v=DbivX78Degg&list=RDDbivX78Degg&start_radio=1

Die Fuldaer Fastnachtssänger, Ich bin in Fulda verliebt: https://www.youtube.com/watch?v=DMKA_AyoW2E (Rainer M. Gefeller) +++

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