Echt jetzt! (80)

Liebes Rebhuhn! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Rebhühner chillen.
Foto: Rolfes/DJV

24.10.2025 / REGION - Lange nicht gesehen! Ja, ja, ich weiß, mein Hühnchen – diese Flapsigkeit ist Dir gegenüber nicht angebracht. Bist zwar gerade zum "Vogel des Jahres" gewählt worden, aber das ist leider kein Grund zum Feiern. Wenn wir uns nicht energisch um Dich kümmern, landest Du bald bei den Dinos – adios, vorbei, ausgestorben. Viele sind überzeugt, Dein Ende sei unausweichlich. Wir nicht. Die schönsten Lebenszeichen gibt es in unserer Nachbarschaft. Halt durch, kleiner Vogel!



"Ruhigen Ganges schreitet das Rebhuhn mit eingezogenem Halse und gekrümmtem Rücken gebückt dahin." Das klingt wie der Beginn eines Märchens. Alfred Brehm, der Poet unter den Tierkundlern, hat das geschrieben, vor ungefähr 150 Jahren. Sein Text über den Hühnervogel Perdix perdix ist eine innige Liebeserklärung. Das Rebhuhn sei klug und verständig, vorsichtig und scheu, gesellig, friedliebend, treu, aufopferungsfähig, "zärtlich gegenüber dem Gatten und den Kindern". Aber wehe, da greift jemand ihre Familie an: dann wird das sanftmütige Huhn zur Hyäne. Sechsundzwanzig Tage hockt die Super-Mutti brütend auf ihren bis zu 20 Eiern. Meister Brehm steigert sich in einen Gefühlsrausch: "Mit unglaublicher Hingabe, so anhaltend, dass ihr nach und nach fast alle Bauchfedern ausfallen." Und dann ist sie da, die entzückende Brut: "Die Jungen sind allerliebste Geschöpfe. Schon am ersten Tag kraxeln sie aus dem Nest; häufig hängen noch die Eierschalen an ihnen." So lautet das Gesamturteil:

"Das Rebhuhn bringt nirgends und niemals Schaden, trägt zur Belebung unserer Fluren wesentlich bei, erfreut jedermann durch die Anmut seines Betragens, gibt Gelegenheit zu einer der anziehendsten Jagden und nutzt endlich durch sein vortreffliches Wildpret."

Guck an, selbst diesem Tier-Enthusiasten geht’s am Ende vor allem um das eine. Vor sechs Jahrzehnten stand das Rebhuhn noch auf vielen Speisekarten gutbürgerlicher Restaurants. Wie schmeckt das Tier? Ihm wird ein feiner Wildgeschmack bescheinigt, saftiger als ein Fasan, fast immer kommt heute ein Zuchttier auf den Tisch. Viele Köche empfehlen, die 450 Gramm leichten Vögelchen "im Ganzen" zu braten, damit sie nicht austrocknen und der Geschmack nicht verfliegt.

"Wenn man sich die Gefahren vergegenwärtigt, denen ein Rebhuhn ausgesetzt ist, bevor es sein volles Wachstum erreicht hat, begreift man kaum, wie es möglich ist, dass es überhaupt noch Feldhühner gibt." Schon dem Herrn Brehm schwante nichts Gutes, als er über den damaligen Massen-Vogel nachdachte. In Europa ist sein Überleben "stark gefährdet", von 1980 bis 2016 ist die Zahl der Vögel um 94 Prozent abgesackt. Der wichtigste Grund: die Zerstörung der Lebensräume des Rebhuhns "durch die Umwandlung der Agrarlandschaft in flurbereinigte und dann intensiv mit Großmaschinen bewirtschaftete Flächen". In ganz Europa, auch in Frankreich, ist das Rebhuhn laut Wikipedia mit seinem dramatischen Rückgang ein "trauriger Rekordhalter" und Schutzobjekt Nummer eins der Jäger in ihren Revieren. Derzeit wird die Population auf dem gesamten Kontinent auf 1,6 Millionen Paare geschätzt.

In Deutschland gilt das Rebhuhn als "stark gefährdet"; es gibt nur noch 50.000 Brutpaare. Bis in die 70er Jahre lebten auf hundert Hektar bis zu 120 Rebhuhn-Pärchen – heute nur noch eins. In Hessen wird der Bestand auf 5.000 bis 10.000 Brutpaare geschätzt. In der Schweiz gilt das Rebhuhn seit 1919 als ausgestorben; 2008 waren im gesamten Land weniger als zwölf Brutpaare registriert worden. Neben der intensiven Landwirtschaft wird "rücksichtslose Jagd" als wichtigster Grund genannt.

In Frankreich ist das Jagen Volkssport. Die Blog-Seite "Mein Frankreich" schreibt: "Zu Jagen ist ein Gewohnheitsrecht, das jedem Bürger zusteht. Fünf Millionen Franzosen haben die Prüfung zum Jagdschein abgelegt. 1,2 Millionen von ihnen sind aktive Jäger. Damit hält Frankreich den Europarekord." Zum Vergleich: In Deutschland gibt es 460.000 Jäger. In Frankreich werden 1,5 Millionen in Gehegen aufgezogene Rebhühner pro Jahr freigelassen. Raten Sie mal, was die Vögel in dieser Freiheit erwartet. Der Jagd-Tourismus boomt. "Der raketenartige Flug des kleinen Vogels fordert dem Jäger einiges an Können ab", schwärmt eine Jagdseite über das Rebhuhn-Paradies Spanien. "Anfänger und erfahrene Flintenschützen" können dort unbeschwert losballern und gerne "stressfrei" bis zu 100 Vögel vom Himmel holen. Pro Tag. Ist im Pauschalpreis enthalten.

Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755 bis 1826) ist auf Pére Lachaise, dem Pariser Friedhof der Berühmtheiten, beerdigt. Das hätte dem Mann, der den großen Auftritt liebte, sicher behagt:

Zwischen all diesen Promis sein letztes Lager zu beziehen –Balzac, Bizet, die Callas, Casanova, Chabrol, Chaplin, Molière, Moustaki und natürlich Jim Morrison, um nur einige aufzuzählen... Brillat Savarin liegt hier, weil er die Welt der Genießer mit Weisheiten aller Art versorgte. Zwei Flaschen Wein am Tag, urteilte er zum Beispiel, garantierten ein langes Leben; dieselbe Menge Kaffee führte einen unweigerlich in den Schwachsinn. Selten sah man ihn anders als in seinem überkandidelten blauen Frack und den als prächtig beschriebenen Hosen. Und selten ohne was zu verputzen. Der Mann war einer der ersten Gastro-Kritiker der Welt und sicher einer der bedeutendsten. Durch ihn wurde aus Nahrungsaufnahme ein Festmahl. "Tiere fressen, Menschen essen." Das war einer seiner Sinnsprüche. Oder auch der hier: "Sage mir, was Du isst, und ich sage Dir, was Du bist." Am häufigsten freilich begegnet uns seine eigenwillige Definition eines Gourmets: "Ein echter Feinschmecker, der ein Rebhuhn verspeist hat, kann sagen, auf welchem Bein es zu schlafen pflegte." Der Satz klingt immer noch putzig und wird gerne zitiert, ist aber Quatsch: Viele Vögel schlafen auf einem Bein – das Rebhuhn nicht.

Rebhühner schlummern nicht auf Bäumen, sondern liegen meistens zusammengedrängt auf dem Boden, bestenfalls von Hecken geschützt. Und im Vertrauen darauf, dass ihr Federkleid Tarnung genug ist: Orangebrauner Kopf, graue Flügel mit braunen Querstreifen, grau-braun gemusterter Rücken, hellgrauer Latz mit einem dunkelbraunen Fleck. Rebhühner kauern sich an das Erdreich und hoffen, dass sie von der Umgebungsfarbe aufgesogen werden und mit der Landschaft verschmelzen. 30 Zentimeter lang. Kurze Beine, kurzer Schwanz, kurze Flügel. Drücken sich bei Gefahr flach an den Boden. Wenn’s nötig ist, kann das Rebhuhn aber auch hurtig losspurten oder im Zickzack fliegen und sogar schwimmen. Das Rebhuhn ist ein Flexitarier. Vor allem während der Aufzucht futtert das Weibchen anstelle vegetarischer Leckerbissen verstärkt Ameisen, Blattläuse, Käfer und Schmetterlingsraupen. Die Babys brauchen Insekten als Kraftquelle, bevor sie zu Vegetariern werden, mit Sämereien, Wildkräutern und Getreidekörnern. Mutti legt in der Frühlingsmitte ordentlich viele Eier, wegen der geringen Überlebenschance. "Am ersten Mai das erste Ei!"

Das Rebhuhn-Leben ist vom ersten Tag an ein einziges Risiko. 60 Prozent der Küken erleben ihren ersten Geburtstag nicht, allzu viele ihrer Mütter ebenfalls nicht. Auch bei uns fehlen ihnen blühende Büsche und Wiesen, die Insekten anlocken. Und dann ist da diese endlos lange Liste natürlicher Feinde, denen schon die Eier munden – von den Vögeln selbst ganz zu schweigen: Füchse, Raubvögel, Raben und Krähen, Marder, Wildkatzen, Wiesel, Wildschweine, Dachse, Igel, Wanderratten und Waschbären. Kann es uns wundern, dass Pessimisten überzeugt sind: Dieser Vogel gehört bald zu den Dinos.

Liebes Rebhuhn! Sei froh, dass Du kein Franzose bist und kein Spanier. In Deutschland haben die Jäger Dir gegenüber längst einen Waffenstillstand ausgerufen. In vielen Teilen des Landes sind sie an Rettungs-Initiativen beteiligt. Schauen wir mal in Mittelhessen vorbei. Zwischen Gießen und der Wetterau hat das Projekt "Rebhuhn retten – Vielfalt fördern" ein kleines Wunder vollbracht. Von 2022 bis heute stieg die Zahl der Brutpaare von 300 auf 460. Auf einer Fläche von 100 Hektar leben jetzt immerhin 5 Rebhühner. In einer konzertierten Aktion von Landwirten und Jägern ist das gelungen. 40 Bauern richten zum Beispiel einen Teil ihrer Flächen als Blühwiesen ein. Jäger stellen spezielle Futtereimer für die Vögel auf und Lebendfallen für die Räuber. In Rhön und Vogelsberg sind die Retter auch im Einsatz. Der Webseite des Landkreises Fulda kann man entnehmen, dass im Sommer 1969 im Raum Eichenzell-Lütter noch 89 Rebhühner gezählt wurden. Heute sind die Zahlen so mickrig wie fast überall. Seit vier Jahren engagiert sich der Landkreis. 43 landwirtschaftliche Betriebe machen mit und stellen Land zur Verfügung, auf dem die Vögel brüten, chillen und Nahrung finden können. Insgesamt sind schon 122 Hektar zusammengekommen. Tja, das Rebhuhn hat anscheinend mehr Fans als gedacht. Sie alle eint ein Ziel: unser Feld- und Wiesen-Vogel soll runter von der Roten Liste.

Menschen mit sehr feinem Gehör behaupten, sie hätten die Sprache der Rebhühner entschlüsselt. Ganz schön laut können sie plärren, im Fliegen wie im Sitzen klingt es so: "Girrhik". Ein alter Hahn freilich krächzt so: "Girrhäk" – sowohl, um Frau und Kinder herbeizurufen als auch, um einen Gegner zum Kampf aufzufordern. Und so geht’s weiter, das Konzert des Lebens und Überlebens bei Rebhuhns: Ängstliche Hühner fiepen "Ripripriprip" oder schnarren "Tärt". Die Küken piepen "Tüpegirr tüp". Wenn’s ihnen wohl ist, singen die Rebhühner "Kurruck". Liebes Rebhuhn: Das wollen wir hören. "Kurruck!" Wir können ja daheim schon mal üben. Dann singen wir beim nächsten Sonntagsspaziergang mit: "Kurruck!"

Da wir jetzt alle so schön sentimental sind, bleiben wir doch einfach in der Stimmung: ein Konzert für unsere Rebhühner, Youtube macht’s möglich:

Marianne Faithful, This Little Bird, 1965: https://www.youtube.com/watch?v=YyfPiKoypxQ

The Beatles, Blackbird, 1968: https://www.youtube.com/watch?v=Man4Xw8Xypo

Bob Marley, Three Little Birds, 1977: https://www.youtube.com/watch?v=HNBCVM4KbUM

Prince, When Doves Cry, 1984: https://www.youtube.com/watch?v=UG3VcCAlUgE

Fleetwood Mac, Songbird, 1977: https://www.youtube.com/watch?v=y9Hqn8x6a8s

Annie Lennox, Little Bird, 1992: https://www.youtube.com/watch?v=kCpc3CXlQ64

Julie Andrews in Mary Poppins, Feed the Birds, 1964: https://www.youtube.com/watch?v=3p5EtFEk16Q

Leonard Cohen, Like a Bird on the Wire, 1969: https://www.youtube.com/watch?v=BqGArXHDOKY (Rainer M. Gefeller) +++

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