Echt jetzt! (20)

Kennen Sie die Tätärä? Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Eine Bratwurst wie gemalt.
Archivfoto: ON/Marius Auth

16.08.2024 / REGION - Neulich in einem abseits schlummernden Rhön-Dorf. Einer meiner Lieblings-Gastwirte beugt sich über den Tresen und fragt listig: "Warst Du eigentlich schon in der Tätärä?" Den Ausdruck habe ich wirklich lange nicht mehr gehört. Gemeint ist natürlich nicht der Refrain aus dem 60 Jahre alten Fastnachts-Reißer "Humba Humba" von Ernst Neger (darf man den überhaupt noch so nennen?). Sondern diese leicht schelmische und hundertprozentig herablassende Bezeichnung für jenes unaussprechliche Gebilde, das vielen Bundesbürgern wie eine Warze am westdeutschen Staatskörper erschien, lästig und hässlich. "Tätärä" sagten viele statt DDR. Die untergegangene Ostzone, die wir echt längst vergessen haben sollten, ist uns ziemlich nah und immer noch weit weg. Haben wir Hessen mit unseren nächsten Nachbarn, den Thüringern, überhaupt was gemein? Aber natürlich! Zum Beispiel: Goethe, Höcke und die Bratwurst!



Echt jetzt, Goethe? Aber ja! Der Dichterfürst der Deutschen, 100 Kilometer westlich von Fulda (in Frankfurt) geboren, 170 Kilometer östlich (in Weimar) gestorben. An der Ortswahl seiner Geburt war er naturgemäß nicht beteiligt, hielt aber lebenslang seiner hessischen Leibspeise die Treue: Grüne Soße, am liebsten nach dem Rezept seiner Mutter. Und seinen Frankfurter Dialekt konnte er auch nie verleugnen. Mit 26 verließ er, damals bereits ein Mega-Star, sein Heimatland Hessen und zog nach Thüringen; dort blieb er die restlichen 57 Jahre seines Lebens. Bereits nach zwei Jahren, im September 1777, notierte er eine Liebeserklärung an seine Wahlheimat: "Die Gegend ist überherrlich." Drei Jahre später, September 1880, kritzelte Johann Wolfgang von Goethe mit einem Bleistift "Wandrers Nachtlied", sein wohl berühmtestes Gedicht, an die Bretterwand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn, mit 861 Metern einer der höchsten Berge des Thüringer Waldes. Sie können es bestimmt auswendig hersagen:

Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch...

Mauerfall 1989. In Osthessen konnte man hautnah erleben, wie das Ost-Volk aufbrach, den Westen zu erkunden. Trabi-Schlangen an den Übergängen. Euphorisierte Ossis umarmten euphorisierte Wessis. Ein Vopo aus Erfurt kehrte auf der Bahnhofstraße in Fulda nach dem Besuch eines Drogerie-Marktes seinen Mageninhalt nach außen – bis zuletzt hatte er geglaubt, was ihm im wöchentlichen Polit-Unterricht beigebracht wurde: "Habt Ihr nicht bemerkt, dass in der West-Werbung immer nur eine Flasche von diesem Haarwaschzeug gezeigt wird?!" Das sei nur Luxus-Stoff für Superreiche, unerreichbar für die Normalos. Und jetzt stand er da vor übervollen Regalen, und es traf ihn und seinen Verdauungstrakt ein erster Kultur-Schock. Es würden noch viele folgen. Ein Landsmann zog damals sofort seine eigenen Schlüsse: Er schob einen überfüllten Einkaufswagen an der Kasse eines Supermarktes vorbei, Bezahlen war nicht seine Absicht. Der Kassiererin teilte er wütend mit: "Ihr habt vierzig Jahre lang fett gelebt. Jetzt sind wir dran!"

Goethe war ein Geschenk der Hessen an die Thüringer. Ob man das über Björn Höcke auch sagen kann? 2008 soll’s gewesen sein, als er aus Hessen ins thüringische Bornhagen zog, die Grenze zu Hessen fast in Spuckweite. In Gießen und Marburg hatte er Sport und Geschichte studiert, bis 2014 war er Lehrer an hessischen Gesamtschulen. Hat man ihm schon angemerkt, welch Geistes Kind er war? Manche Schüler erinnern sich nur an einen kumpelhaften Pauker, anderen will schon mal was aufgefallen sein: Erzählungen über den Opa, der Adolf Hitler getroffen habe und von dessen blauen Augen schwärmte. Manche Abiturienten nannten den heutigen Chef-Strategen der radikalen Rechten bereits 2013 "heimlichen Familienminister der AfD". Andere Schüler kritisierten, Höcke habe im Geschichtsunterricht die Nazizeit weitgehend ausgespart.

Die Tätärä fühlt sich weiter weg an als die Walachei.

Im Oktober 1990 vereinigten sich 62 Millionen Wessis mit 15 Millionen Ossis. 2022 lebten im Westen 68, im Osten 12,6 Millionen Menschen. Die Entleerung des deutschen Ostens ist dramatisch – viele sind weg, andere (wie die nach Deutschland drängenden Migranten) wollen dort nicht hin. Viele Übriggebliebene in der Tätärä fühlen sich, Aufbau Ost hin oder her, ausgenutzt, gedemütigt, zurückgelassen. Viele Westdeutsche quittieren das mit Achselzucken. Die meisten kennen sich sowieso an den Stränden des Mittelmeers besser aus als auf dem Rennsteig, im Spreewald oder in der Uckermark. Die Tätärä fühlt sich weiter weg an als die Walachei.

Jetzt, da Landtagswahlen bevorstehen, interessiert sich plötzlich wieder die ganze Welt für das andere Deutschland. Könnte sein, dass in Thüringen am 1. September die im Westen noch gepflegte Parteienlandschaft umgepflügt wird: Schaffen Grüne und FDP es überhaupt ins Parlament? Kommt die SPD auf zehn Prozent? Wie stark werden Höckes blau angemalte Braunis? In der "Schrumpfgesellschaft" des deutschen Ostens, sagt der Berliner Soziologe Steffen Mau, ticken die Uhren anders. Die Vorstellung, dass sich irgendwann die politischen und gesellschaftlichen Werte und Institutionen des Westens auch in der Ex-DDR durchsetzen würden, sei eine geplatzte Illusion. Wir sollten uns besser darauf einstellen, dass sich daran nichts ändern wird.

Und nun? Gibt’s denn gar nichts, was Ossis und Wessis verbindet? Keine Panik: Wir haben ja noch die Bratwurst. Weshalb leben wir denn hier im fränkisch-hessisch-thüringischen Wurst-Himmel? Also hocken wir uns um den Tisch und servieren uns gegenseitig unser Bestes. Maigriller und grobe Hausmacher aus Fulda. Über Kiefernzapfen schwarz geröstete Coburger. Die drolligen kleinen Nürnberger. Und dann sind da noch die Bayreuther mit ihrem Bratwursthäuschen – "unsarawörschdlaschmecknfeiimma", behaupten die. Her damit! Was fehlt? Natürlich die Königin des Bratwurst-Universums, die Thüringische. Als es die Grenze noch gab zwischen den beiden Deutschlands, wurde am Wurststand auf der Hochrhön eine angeblich "original Thüringer" verkauft. Die mampften wir mit Blick auf das mit Stacheldraht und Minenfeldern eingekerkerte Dörfchen Birx. Die Wurst war knackig und gut, aber jeder Bissen hatte auch den Geschmack von Trennung und Trostlosigkeit.

Am Wurststammtisch weiß man schon lange, dass nicht jeder gleich ist – auch wenn er hier das gleiche isst. Kann schon sein, dass ein Meinungsaustausch mitunter zum Streit hochkocht. Dann hilft, wie in jeder anständigen Familie, zur Besänftigung ein schlechter Witz. Wie wär’s mit dem hier:

Sie: Schatz, hör mal die Grillen.
Er: Ich rieche nichts.

Hernach können wir uns wieder zügig der Bratwurst zuwenden, nur echt mit jeder Menge Röstaromen. Herr Goethe würde sicher auch gern bei uns hocken, der Mann soll sogar unsere Lieblingswurst mit poetischer Tunke übergossen haben: "Doch fliehen uns die schweren, tönernen Gedanken, wenn nur die Bratwurst uns zum Munde lacht." Der Geschichtslehrer hingegen passt wohl nicht in die Runde. Dem würden wir eher zu fränkischen Sauren Zipfeln raten, in Essigsud gekochten bleichen Würsten. Solch eine Schlechte-Laune-Wurst passt doch bestens in die unheitere biestige Welt des Herrn H. (Rainer M. Gefeller) +++

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