Echt jetzt! (67)

Mach die Fliege! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

So sehen sie aus, die „Lästlinge“.
alle Fliegenfotos: Michael Otto

25.07.2025 / REGION - Soll ich oder soll ich nicht? Brrrrumm fliegt dieses verstörende Untier um den Frühstückstisch; meine Hand krampft sich um die Fliegenpatsche. Und da, steuert das Ding etwa mein Brötchen an? Das gute Knacki, ordentlich mit italienischer Salami belegt. Das Ding wird doch nicht! Wird es doch. Zack hockt die Fliege mit ihrem ekligen grün schimmernden Hintern auf meinem Frühstück, und ich sitze blöd da. Jetzt ist es zu spät für den Einsatz der Patsche. Habe eben schon nachgeschaut: Der ungebetene Gast ist eine Lucilia Sericata; auf Deutsch heißt sie weniger geheimnisvoll Grüne Schmeißfliege. Fragen Sie nicht, wovon sie sich normalerweise ernährt. Müssen wir uns sorgen, wenn solches Geschmeiß auf unseren Delikatessen herumstolpert? Und wieso ist die ganze Welt plötzlich voll von diesen Sch...-Fliegen?



Die Fliege glotzt unsentimental in die Welt durch ihre riesigen glitzernden Facettenaugen. Regungslos, gleichgültig, kalt starrt sie herum, wie eine dieser Kreaturen in Alien-Filmen. Das Fliegentier hat keinen Bock, sich mit uns zu beschäftigen. Juckt sich an seinen Hinterbeinen und fällt dabei fast auf den Rüssel. Das Ding brummt unwirsch (vor allem, wenn man’s unter einem Glas festgesetzt hat). Das Leben ist zu kurz für gute Laune: nach ein paar Wochen oder Tagen ist es schon vorbei. Die längste Zeit davon verbringt das Tierchen als "beinlose Larve", der armselige Rest des Lebens wird darauf verschwendet, an unseren Nerven herumzusägen. Die grüne Frühstücksfliege wird bis zu elf Millimeter lang. Die Stubenfliegen, die unsere Fenster verschmieren und gern in Rudeln um uns kreisen, schaffen acht Millimeter. Die Forschung rechnet sie zu den "Lästlingen" – die sollen zwar keinen Schaden anrichten, sind aber nerviger als Dieter Bohlen. 2005 bereits ermittelten Forscher bei Expeditionen auf südenglischen Müllkippen, dass der Klimawandel die Population von Schmeiß-, Haus- und anderen Fliegen geradezu explodieren lässt. Zwei Grad Erderwärmung bedeuten: zweieinhalbmal so viele Fliegen. Kein Wunder, dass sie sich immer mehr an unseren Kaffee- und Dinner-Tafeln breitmachen. Das Fliegzeug hat nämlich unentwegt Schmacht.

Womit wir bei der Kulinarik unserer Flugobjekte angelangt wären. Irgendwann im zweiten Jahrhundert hat Lukian von Samosata, ein Star-Autor der griechischen Antike, die Fliege als Feinschmeckerin entlarvt: "Allenthalben ist für sie der Tisch gedeckt. Für sie wird die Ziege gemolken: für sie bereitet die Biene ihren Honig: für sie würzt der Koch seine besten Gerichte. Sogar auf des Königs Tafel spaziert sie umher, kostet alle Schüsseln zuerst, und lässt sich, so gut als der König selbst, von jeder Speise belieben." Das klingt doch nett. Die moderne Forschung freilich verweist darauf, dass sich die Fliegen "mit ihren leckend-saugenden oder stechend-saugenden" Mundwerkzeugen vorzugsweise an "im Zerfall befindlichen organischen Stoffen" laben. Auf Deutsch: sie sind Aasgeier, nur kleiner. Mit ihren sechs behaarten superdünnen Beinchen trampeln sie wonnevoll in allem herum, was uns Ekelpickel auf die Haut treibt. Wenn Sie weiterdenken, landen wir unweigerlich irgendwann bei meinem Salami-Brötchen.

Ich kann Mark Twain nur von Herzen zustimmen, der einem Kumpel 1910 mitgeteilt hat: "Ich hätte lieber zehn Schlangen im Haus als eine Fliege." Der schalkhafte Mr. Twain hat sogar die Schöpfungsgeschichte umgedichtet, um dem aufdringlichen Insekt eine Hauptrolle zu verschaffen. Demnach hatte die Crew der Arche Noah vergessen, eine Fliege an Bord zu nehmen. Sie segelten zurück zum Land, fanden das Tierchen und holten es ans rettende Deck. Und wie hat’s die Fliege ihnen gedankt? Indem sie Seuchen wie Typhus auf der Welt verbreitet hat. Die alten Aramäer haben schon vor vielen Jahrhunderten nur das Schlechteste von den Brummern gedacht. Das offenbart ein Spruch, der bei uns heute auch noch gebräuchlich ist: "In der Not frisst der Teufel Fliegen". Im Aramäischen, erklärt Alexandra Stellmacher vom Institut für Religionswissenschaft in Berlin, wird der Teufel ba’al-debaba bezeichnet. Das bedeutet: "Herr der Fliegen!" Wäre der Teufel etwa bereit, in der Not die eigenen Untertanen aufzufuttern? Aber ja! Dem Teufel trauen wir selbstverständlich alles zu. Nicht nur dem!

Lauschen wir doch nochmal diesem eigentümlichen Fliegen-Versteher Samosata. Der arme Mann hatte es offenkundig an den Ohren, denn er empfand den drohnenartigen Lärm kreisender Fliegen als "eine besondere Gabe, dass sie nicht stillschweigend, sondern singend fliegen". Nicht mit dem "widerlichen Tone der Mücken und Schnaken", sondern "in demselben Grade melodisch, in welchem Flötentöne lieblicher klingen als der Lärm von Trompeten und Cymbeln." Hat dieser Herr jemals versucht, nachmittags in den Schlaf zu sacken, wenn zugleich eine einzige Stubenfliege ihre nervenzerfetzende Melodie anstimmt? Singen kann sie freilich nicht, der Sound wird allein von den beiden Flügeln erzeugt. Jetzt ist die Zeit, da sie überall ihre Angriffe auf uns startet. Kaum stehen die Pommes im Theresienhof-Biergarten auf dem Tisch, sabbern die Fliegen umher. Beim Spaziergang durch die Wälder rund um Giesel, über den Grillplatz am Gerloser Häuschen, um den Hünfelder Haselsee... Man kommt ganz schön rum, merke ich gerade. Die Fliegen allerdings auch. Und wenn sie ein für alle Mal ausgenervt haben, liegen sie tot umher – auf den Teppichen, im Waschbecken, auf den Tischen und der Computer-Tastatur. Am liebsten aber legen sie sich auf den Fensterbänken zur letzten Ruhe.

Gibt’s denn nichts, womit die Fliegen uns Freude machen (außer, wenn sie die Fliege machen)? Dem schon mehrfach zitierten alten Griechen ist allemal was eingefallen: "Ihre Flügel übertreffen an Feinheit alle anderen Flügel – so weit wie die Indischen Gewebe unsre griechischen Mäntel." Gegen die Sonne entfaltet sich, schwärmt Samosata, ein Farbenspiel, "so schön als das des Pfauengefieders". Blind ist der Mann also auch noch ... Stimmt es eigentlich, dass diese Flug-Torpedos strunzdumm sind? Wieso sollten sie sonst unablässig die Fenster auf und ab surren? Gar nicht selten rammen sie, den Kopf voran, gegen die Scheiben, dass es einen Knall tut. Selbstmordversuch? Nein, nein, sagt der Kunsthistoriker Peter Geimer, ein Fliegen-Kenner der Extraklasse. In seiner Schrift "Fliegen", einer Ehrenrettung für das Nerv-Insekt, bescheinigt der Prof den Flugtieren "stoische Unbekümmertheit". Sind die Störenfriede also in Wahrheit ultra-entspannt?

Guck mal, dieses majestätisch verblasste Foto von Mameluckengräbern, 1870 aufgenommen von dem Architektur-Fotografen Antonio Beato. Was hockt am unteren Bildrand, mitten im Wüstengeröll? Genau! Irgendwie war die Fliege in das Kameragehäuse gelangt und wurde dort gleich mit belichtet. Wetten, dass das Tierchen auf Ausstellungen mehr Beachtung findet als die ehrwürdigen Bauten? In diesen Wochen lässt die US-Regierung über Texas und Mexiko Milliarden von Fliegen aus Flugzeugen herabregnen, allesamt Männchen. Das gewaltige Heer hat einen einzigen Auftrag: sich am Boden mit weiblichen "Neuwelt-Schraubenwurmfliegen" zu paaren. Der kurze Akt des Vergnügens ist ein Vernichtungsfeldzug; die Fliegen-Kerle wurden radioaktiv entmannt und sollen dafür sorgen, dass sich die grässlichen Schraubenwurm-Mädels nicht vermehren. Deren Volksstämme haben sich bedrohlich in die Region der großen Rinderherden vorgearbeitet, denen sie schonmal massenhaft Krankheit und Tod gebracht haben...

Geben wir’s auf! Fliegen taugen nicht als Kuscheltiere. Bewaffnen wir uns mit Fliegengittern, Fliegenfallen, Fliegenpatschen. Pflanzen wir Lavendel, Gewürznelke und Basilikum – alles, was den Untieren Kopfschmerzen bereitet. Erschöpft hocke ich mich vor ein Gläschen Grauburgunder. Wenigstens den kann man doch noch in aller Unschuld herunterschlürfen. Aber ... Moment mal! Die Wissenschaftsplattform Spectrum hatte im Winter 2011 eine echte Alarm-Meldung im Angebot. Überschrift: "Warum schon eine tote Fliegenfrau den Wein ruiniert." Schwedische Forscher hatten für fünf Minuten Fliegen in Gläsern mit badischem Wein versenkt – je zur Hälfte Männchen und Weibchen. Sodann wurde der Fliegenwein von acht Experten verkostet. Die kamen alle zu dem Urteil: Der Wein, in dem die Weibchen ertränkt worden waren, schmeckte "irgendwie merkwürdig". Der Grund: Die Ladies sondern unentwegt ein Hormon ab, das Männchen anlocken soll. Igitt!

Jetzt brauchen wir dringend eine Portion gute Laune, mit Fliegen-Einlage! Freuen Sie sich über ein Kinderlied, das jeder kennt: Wir haben Hunger, Hunger, Hunger. Auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=FuzQraV8d1Q
(Rainer M. Gefeller)+++

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