Echt jetzt! (76)

Mit Flipflops auf den Berg - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Schloss Bieberstein
Alle Fotos: Annemaria Gefeller und Michael Otto

26.09.2025 / REGION - Guck, wie herrlich: die Temperaturen sinken, die Wolken hängen sich drall vor die Sonne. Endlich können wir wieder unbeschwert durch die tropfnasse Natur marschieren. Nicht wie an diesen grausam heißen Tagen, an denen auf jeden Schritt ein Schweißausbruch folgt. Wandern ist ein Volkssport, der alle vereint: Denker, Poeten, Blumen-Schnüffler, Selfie-Walker, Junge und Alte, Sänger, Schweiger und natürlich jene, die unbedingt ihre nagelneuen Teleskop-Wanderstöcke aus Carbon vorzeigen wollen. Und außerdem all die, die zu sich selbst unterwegs sind. Haben wir welche vergessen? Ganz bestimmt – das Wandervolk ist gewaltig. Mindestens 40 Millionen machen sich häufig auf die Socken. Im Wald und auf der Heide gibt’s manchmal Gedränge.



Frag mal einen Wanderer, weshalb er so gern in der Landschaft herumstampft. Die Antwort können wir schon mitsingen: Der Weg ist das Ziel. Das ist doch Mumpitz, oder? Sind wir etwa alle Anhänger von Konfuzius? Wollen wir nicht oben ankommen, um runterzugucken? Oder uns in der Weite der Landschaft verlieren? Oder den Himmel mit seinen unendlichen Blautönen enträtseln? Oder das Wolken-Spektakel auf uns wirken lassen? Oder uns ein Triumph-Bier einlöffeln? Doch, doch, all das wollen wir auch. "Wandern ist Gehen in der Landschaft", schreibt der Deutsche Wanderverband. Wenn’s kürzer ist als eine Stunde oder fünf Kilometer, handelt es sich nur um einen Spaziergang. Das ist dieses Dahinschlendern in gezähmter Natur, für das man noch nicht mal stabiles Schuhwerk oder einen Rucksack braucht. Herumspaziert wird gern an Sonntagen, die Wege sollten mit Bänken ausgestattet sein.

Was braucht der wandernde Mensch, um echt stylish unterwegs zu sein? Fette Trekkingschuhe von Meindl, Salewa, Lowa und Co. Feuchtigkeitsregulierende Socken "in perfekter Passform" (rät der Alpenverein). Wie wär’s mit einem Päckchen Blasenpflaster für unsere zarten Füße? Unterhosen aus Mischgewebe (Merinowolle, Polyester, strapazierfähige Kunstfasern). Merino-T-Shirt. Bequeme Leichtlauf-Hose. Fleece-Jacke. Für kühle Tage: "Softshell"-Jacke. Für "richtiges Sauwetter" rät der Alpenverein zu einer "Hardshell"-Jacke. Sie ahnen, warum mit dieser Massenbewegung über elf Milliarden Euro im Jahr umgesetzt werden.

Wie klingt eigentlich das Wandern? Das Knirschen, Raspeln und Schmatzen der Schritte. Das Glucksen der Wasserflaschen. Die letzten Vögel äußern sich. Ein gut gelaunter Jungbulle poltert in einem Anfall von Übermut über seine Weide. Ansonsten herrscht Ruhe. Wenn ein behutsamer Wandersmensch was mitzuteilen hat, spricht er leise: Man will die Stille nicht stören. Man schaut den Rhönschafen beim Kauen zu und der Rhöndistel, wie sie am Wegrand vor sich hindöst. Und dann dröhnt es plötzlich. Ein junges Paar kommt uns entgegen, aus ihren Ohren hängen dünne weiße Strippen. Wozu brauchen die überhaupt Kopfhörer? Der gepresste Schreigesang eines Rappers verscheucht die allerletzten Hummeln. Hoffentlich überlebt ihr Trommelfell. Die Ruhe danach ist von kurzer Dauer, dann wehen bekannte Melodien um die Ecke. Es ist Mittagszeit, dennoch singen da welche unverdrossen "Im Frühtau zu Berge wir zieh‘n, fallera." Angeführt von textsicheren Kampfsängern schmettert eine gut gelaunte Lauf-Gruppe einen Klassiker nach dem anderen. "Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, steigen dem Gipfelkreuz zu, brennt eine Sehnsucht in unseren Herzen." Menschen, die jetzt ungläubig kichern, kennen vermutlich auch keine Weihnachtslieder mehr. Hören Sie, da gibt’s sogar ein Lied über die genetische Prägung des Wanderns: "Mein Vater war ein Wandersmann, und mir steckt’s auch im Blut." Die Hymne an den voranwandernden Vater ist nur echt mit der großartigen Lautmalerei am Ende jeder Strophe: "Valeri, valera, ha ha ha ha ha."

Der Wanderverband hat eine halbe Million Mitglieder. Ein freiheitsliebender Club, der den Vereinszweck so beschreibt: "sich fortbewegen, ohne dass man es muss". Und wer hat’s erfunden? Natürlich die Fuldaer: Am 14. Mai 1883 wurde im Kurfürst, der damals noch Hotel war, der erste nationale Wanderverband gegründet. Der zügig ausschreitende Normalo bleibt (im Unterschied zu manchen Mountain-Bikern) meistens brav auf den ausgeschilderten Pfaden. Davon gibt’s genügend: über 300.000 Kilometer. Zum Vergleich: das deutsche Autobahn-Netz kommt gerade mal auf 13.223 Km. Es gibt mystische, kulinarische und historische Wanderungen und welche, bei denen man ein Alpaka an der Leine führt. Wer will, kann sich auch im Neoprenanzug die Bäche aufwärts kämpfen. Oder einfach gehen, soweit die Füße tragen. Die amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit hat das Wandern zu einer Gegenbewegung gegen unsere hektische Lebensform erhoben. "Das Denken", beklagt sie, "wird generell in unserer Leistungs-Gesellschaft als Nichtstun betrachtet." Am besten sei es, seine Untätigkeit als irgendeine Art von Tätigkeit zu verkleiden – "und das Wandern kommt dem Nichtstun am nächsten". Und noch was lernen wir von Frau Solnit: "Das moderne Leben bewegt sich schneller als unsere Gedanken. Ich glaube, dass sowohl die Füße als auch der Geist sich am besten bei fünf Kilometern pro Stunde entfalten."

"Wandersehnsucht reißt mir am Herzen, wenn ich Bäume höre, die abends im Wind rauschen." Das hat Hermann Hesse geschrieben. Allerdings müssen wir uns sputen. Die ersten Rausche-Blätter zappeln schon bunt und trocken an den Zweigen. Die beste Wanderzeit ist jetzt, September und Oktober. Und die besten Wanderwege liegen vor unserer Haustür. Folgen wir mal kurz den Pfaden der Bier-Marschierer. Zum Fuldaer Haus stapft man rund um die Maulkuppe oder entlang dem von Skulpturen flankierten "Rentner-Schnellweg". Wer's etwas anstrengender mag, quält sich über die Milseburg – immer dem Ziel entgegen, einem frisch gezapften Hochstift. Das belohnt uns auch in der Enzianhütte, sobald wir einen der steilen oder betulichen Aufstiege gemeistert haben. Zum Schweinfurter Haus in der Hochrhön kann man von Oberelsbach marschieren, meistens die Els entlang und das Getränk im Sinn: Rother Bräu. Oder wie wär’s mit der Bachtour im Vogelsberg, als deren "kulturhistorisches Highlight" Schloss Eisenbach bezeichnet wird. Da wollen wir hin, zum Lauterbacher Pils in der Gaststätte Burg Post. Und dann wartet da noch das Kreuzberger Bier in der fränkischen Rhön, benannt nach dem wuchtig aufragenden Kloster. Oder war’s etwa umgekehrt? Münchens Erzbischof Michael Faulhaber hat bereits 1901 den Durstigen mit einem Knittelvers im Gästebuch seinen Segen gegeben: "Den Kreuzberg herauf kam ein endloser Zug, die einen zur Kirche, die anderen zum Krug." Das "Kreuzberglied" kommt komplett ohne Erwähnung des Klosters aus: "Schatz, merke dir: Hier gibt’s prima Kreuzbergbier. Wer sich da schadlos hält, dem verschönt’s die ganze Welt." Ach so: Um die Heimat zu erkunden, reicht manchen natürlich der Besuch der gleichnamigen Gaststätte am Fuldaer Buttermarkt.

Kehren wir mal zurück zum tatsächlichen Wander-Zweck. Manuel Andrack, früher Fernseh-Partner von Harald Schmidt und heute eine Art Wanderprophet, behauptet: "Die Wahrheit ist: Wandern macht glücklich. Angeblich soll es außerdem schlau machen." Jeder Schritt rüttelt unsere Hirnzellen durch. Der Philosoph Michel de Montaigne entdeckte bereits vor 450 Jahren: "Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze. Mein Geist rührt sich nicht, wenn meine Beine ihn nicht bewegen." Sein Kollege Jean-Jacques Rousseau sah das genauso: "Ich kann nur beim Gehen denken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken." Thomas Hobbes, englischer Mathematiker und Philosoph (1588 bis 1679), ließ sich sogar ein Tintenfass in seinen Wanderstock einbauen: damit er unterwegs bloß jeden seiner Gedanken notieren konnte.

Stellen Sie sich vor, an den Aufgängen zur Wasserkuppe oder zum Kreuzberg, zum Schwarzen Moor oder rund um den Hoherodskopf stünden Drehkreuze mit Geldautomaten. Nur wer 5 Euro einwirft, darf die Natur betreten. Gell, da juckt es unterm Schädel. In Südtirol ist es schon so weit. Im vergangenen Jahr fielen 5,4 Millionen Touristen über die italienische Alpen-Idylle her. "Früher", empört sich Carlo Zanella, Präsident des Südtiroler Alpenvereins, "kamen Bergsteiger vorbereitet, ausgerüstet, mit Karte. Heute fahren manche mit Sonnenschirm und Flipflops hoch und bleiben oben hängen, weil sie nicht wissen, wann die Bahn fährt." Die Knips-und-Weg-Touristen sind mit Selfie-Sticks und Film-Drohnen bewaffnet, der Weg zum Ziel ist ihnen schnurzpiepegal: Sie sind scharf auf die Schnappschüsse, die es in den Sozialen Medien bereits millionenfach zu bestaunen gibt.

Vier frustrierte Bauern haben Drehkreuze installiert, weil täglich 8.000 Instagram-Touristen ihre Grundstücke gestürmt haben. Einer von ihnen, der Landwirt Rabanser: "Die laufen über die Wiesen, verrichten ihr Geschäft hinter unseren Hütten und lassen ihren Müll überall liegen." Oha! Wie kann man sich solche "Gäste" von der Pelle halten? Auf Mallorca versuchen es Einheimische neuerdings so: Sie locken die Sensations-Gierigen zu Traumstränden, die es gar nicht gibt. Zum Beispiel nach Son Gotleu ("sanfter Strand, glasklares Wasser"), in Wahrheit ein Problemviertel im Norden Palmas. Oder nach Corea ("Korallenstrand"), einer verfallenen Arbeitersiedlung in Palma. Müssen wir uns merken. Allerdings: gibt es solche ultrahässlichen Viertel bei uns überhaupt?

Einladung zur Singstunde: Heino schmettert "Im Frühtau zu Berge": https://www.youtube.com/watch?v=7TEj4iZt4Eg. Die Harmonika-Radler stehen im Chiemgau und zelebrieren "Wenn wir erklimmen": https://www.youtube.com/watch?v=d0HnfbZpkMI

Und hier singt Udo Jürgens "Mein Vater war ein Wandersmann": https://www.youtube.com/watch?v=N2Lw5L4gb6E

Vielleicht sind Ihnen ferne Songs näher? Bitte sehr: Canned Heat mit "Going up the Country" im Beat Club: https://www.youtube.com/watch?v=BK_SntrRw6c&t=14s. Nancy Sinatra mit "These Boots Are Made For Walkin": https://www.youtube.com/watch?v=GM1kzbAgo_E. Und Gerry & The Pacemakers mit "You’ll Never Walk Alone": https://www.youtube.com/watch?v=OV5_LQArLa0.(Rainer M. Gefeller) +++

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