Echt jetzt! (44)
Kann man Karneval lernen? - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Foto: privat
14.02.2025 / REGION -
Haben wir Mitleid mit den Millionen Kindern in Deutschland, denen nie in ihrem jungen Leben der Karneval begegnet. Keine RoMos, keine närrischen Verkleidungsfeste im Kindergarten oder in der Grundschule. Keine Mütter, die ihre Kostüme wochenlang selbst zurechtschneidern. Keine Schmink-Exzesse vorm Badezimmerspiegel. Kein Bonbon-Regen, kein närrischer Ausnahmezustand. Können Menschen, die in ihrer Kindheit derart benachteiligt werden, jemals dieses gewisse Kribbeln, diese wohligen Fieberschübe, diese Lust am Ausflippen erleben, die man in Fulda Foaset nennt?
Aus karnevalistischer Sicht ist man echt zurückgeblieben, wenn man in Ostwestfalen aufwächst. Mag sein, dass man zur närrischen Hochsaison ein paar Pappnasen begegnet – aber die wollen wahrscheinlich nur ihren Schnupfen kaschieren. An sich ist der ostwestfälische Menschenschlag ziemlich unlustig. Können Menschen, die mit einer solchen Herkunft geschlagen sind, jemals die Feinheiten und Abgründe des Karnevals entdecken? Sie ahnen schon, das Thema ist mir ein persönliches Anliegen. Sortieren wir mal ein paar närrische Fundsachen meines Lebens.
März 1994, eine Kneipe in Berlin. Ich stehe vorm Umzug nach Köln, die Kollegen lassen zum Abschied das Berliner Prinzenpaar mit dem gesamten Stab einmarschieren. Die Prinzessin hängt mir am Hals und lallt: "Du hast es gut. Du ziehst ins Paradies." Aus karnevalistischer Sicht ganz bestimmt. Wenn am Rosenmontag der armselige Hauptstadt-Zug über die verregneten Straßen tuckert, reißen am Straßenrand ein paar traurige Zuschauer ihre Plastiktüten hoch: zu faul oder zu betrunken, sich nach den Bonbons zu bücken. Es gibt tatsächlich Kneipen, in denen Luftschlangen über den Tresen hängen. Mann, da kommt Stimmung auf. Und erst im Bundestag! 2003 verkündeten die Personalräte des Parlaments feierlich, dass an Weiberfastnacht ab 13.11 Uhr "der Büroalltag unterbrochen" werden dürfe, um sich in der Lobby des Jakob-Kaiser-Hauses närrisch zu betätigen. Haha! Die einzig wahre Karnevals-Institution in der preußischen Metropole ist die "Ständige Vertretung" (StäV) am Schiffbauerdamm. Wer hat’s erfunden? Zwei Rheinländer. Drei Häuser weiter residiert Bert Brechts altes Theater, das Berliner Ensemble. Moritz Netenjakob, Komiker aus Köln, juxt: "Meine Eltern sind Intellektuelle. Meine Mitschüler gingen im Karneval immer als Cowboys, ich als Bertolt Brecht." Armer Kerl.
90er Jahre, auf nach Köln! Der Karneval als Urgewalt, als Lavastrom der Verrücktheit, als unbedingter Wille zu guter Laune. Wo spielt hier die Musik? Wie Gerd Köster, den man "kölschen Tom Waits" getauft hat, schon so schön schräg singt:
"Ohne Musik es quasi alles lau.
Kumm mer jonn noh Kölle un singe Helau."
Lassen Sie sich nicht vereimern. Helau ruft man nur im Angeber-Städtchen Düsseldorf – in Köln brüllt man Alaaf. Musik ist hier garantiert hausgemacht. Zum Beispiel von den Bläck Fööss (auf deutsch: nackte Füße), die sich schon die Haare grau geschunkelt haben. Die Fööss gibt’s seit 1970; ihre Klassiker werden auch im Hochsommer gesungen: "Drink doch eine met", "En unserem Veedel", "Mer losse de Dom in Kölle". Die Paveier ("Straßenpflasterer"). Ihr "Buenos Dias, Mathias" wird auch am Ballermann gebrüllt. Die Höhner. Die Veteranen der kölschen Musikszene traten in den ersten Jahren in Hühnerkostümen auf und versorgten die Szene mit allerlei Schunkel-Hits, zum Beispiel "Ich bin ene Räuber" und vor allem "Viva Colonia". Den Text kennt man auch in Fulda:
"Da simmer dabei! Dat is prima! Viva Colonia!
Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust
Wir glauben an den Lieben Gott und ham uch immer Durscht!"
Karneval in Köln, das ist Anarchie. Nur jeder dritte Mitarbeiter schafft es ins Büro. Alle sind irgendwie verkleidet, zumindest mit Pappnasen, lustigen Mützen, Motto-T-Shirts. An Weiberfastnacht hängen sich alle ihre ältesten Krawatten um; sollen die Frauen doch abschneiden, was sie wollen. Auf den Schreibtischen spuckt schon vor der Frühkonferenz das erste Pittermänchen (so heißt ein kleines Blech-Fass) sein Kölsch in die Gläser. Wie soll man hier bloß arbeiten, denkt der Ostwestfale – aber das wird ihm schnell abgewöhnt. Das Dreigestirn (Prinz, Bauer, Jungfrau) kommt vorbei, die Prinzengarde führt ein Tänzchen vor. Orden werden großzügig um den Hals gehängt, Tusch und weg und die nächste Karawane. Im "Schmitze-Lang" in der Südstadt sitzt an Weiberfastnacht, wie jedes Jahr, ein Mann im Büro-Anzug, er ist Chefredakteur eines Wirtschafts-Magazins in Hamburg. Er trägt einen grauen Büro-Anzug, sein blasses Gesicht ist von Kuss-Spuren übersät; er ist glücklich. "Was sagen die Kollegen in Norddeutschland eigentlich zu Ihrer Lust auf Karneval?" "Die sind fassungslos und würden mich am liebsten in eine Anstalt einweisen lassen." Lacht und brüllt Alaaf und beißt sodann in ein Brötchen mit "Kölschem Kaviar". So nennt man hier die Blutwurst.
Wer es nicht überwinden kann, dass an Aschermittwoch alles vorbei sein soll, fährt nach Maastricht. Liegt nur 100 Kilometer von Köln entfernt, da tobt der Karneval immer noch in allen Gassen. Dieselben Lieder wie im Rheinland – die Texte freilich klingen auf holländisch noch niedlicher. Denken Sie vorm Besuch an festes Schuhwerk! Am Eingang zu manchen Trink-Palazzos drücken Türsteher den Gästen ungefragt saure Heringe in die Hand. Zu später Stunde sind die Böden mit Fischgerippen übersät. Glitschige Sache!
Schlussbemerkung: Lilly Fahr wurde 95 Jahre alt. Sie stand auch im hohen Alter noch auf den Fuldaer Bühnen. Ihre Bluse war derart mit den Orden ihres närrischen Lebens vollgehängt, dass mancher befürchtete, die kleine, zerbrechlich wirkende Frau könne vom Gewicht des Metalls heruntergezogen werden. Passierte natürlich nicht. Karneval macht stark!
Falls Sie jetzt in Schunkel-Laune sind:
Ernst Neger mit Humba Tätärä, dem ultimativen Fastnachts-Reißer aus den 60er Jahren: https://www.youtube.com/watch?v=OjovNTvozcc
Bläck Fööss mit ihrem bekanntesten Hit: Mer losse d’r Dom en Kölle https://www.youtube.com/watch?v=m9Ph0AHYgQE&t=52s
Die Höhner mit Viva Colonia: https://www.youtube.com/watch?v=3bUMMAhYsk8&t=81s
(Rainer M. Gefeller) +++
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