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Kann man Karneval lernen? - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Abschiedsparty in Berlin 1994. Zum Abgang Gefellers nach Köln ließ die BZ-Redaktion die preußische Prinzengarde aufmarschieren.
Foto: privat

14.02.2025 / REGION - Haben wir Mitleid mit den Millionen Kindern in Deutschland, denen nie in ihrem jungen Leben der Karneval begegnet. Keine RoMos, keine närrischen Verkleidungsfeste im Kindergarten oder in der Grundschule. Keine Mütter, die ihre Kostüme wochenlang selbst zurechtschneidern. Keine Schmink-Exzesse vorm Badezimmerspiegel. Kein Bonbon-Regen, kein närrischer Ausnahmezustand. Können Menschen, die in ihrer Kindheit derart benachteiligt werden, jemals dieses gewisse Kribbeln, diese wohligen Fieberschübe, diese Lust am Ausflippen erleben, die man in Fulda Foaset nennt?

Aus karnevalistischer Sicht ist man echt zurückgeblieben, wenn man in Ostwestfalen aufwächst. Mag sein, dass man zur närrischen Hochsaison ein paar Pappnasen begegnet – aber die wollen wahrscheinlich nur ihren Schnupfen kaschieren. An sich ist der ostwestfälische Menschenschlag ziemlich unlustig. Können Menschen, die mit einer solchen Herkunft geschlagen sind, jemals die Feinheiten und Abgründe des Karnevals entdecken? Sie ahnen schon, das Thema ist mir ein persönliches Anliegen. Sortieren wir mal ein paar närrische Fundsachen meines Lebens.

60er Jahre, immer noch in Ostwestfalen. Einmal im Jahr lacht sich der Schwarzweiß-Fernseher schlapp: Karneval im Fernsehen. Ernst Neger singt "Heile, heile Gänschen" und "Humba Tätärä". "Frau Babbisch" und "Frau Struwwelisch" und die Margot Sponheimer noch dazu bringen Stimmung in die Bude, jedenfalls bei den Alten. Die freuen sich über "Mainz bleibt Mainz" und nippen an ihrem Schaumwein. Ich flüchte ins Bett. Immerhin: damals durften Kinder sich am Rosenmontag als Cowboys oder lustige Tanzbären verkleiden, Erwachsenen malten sich bunte Striche aufs Gesicht. Beim Bäcker gab’s "Berliner" mit nem Marmelade-Klecks drin. Das war’s.

Abschiedsparty in Berlin 1994. Zum Abgang Gefellers nach Köln ließ die BZ-Redaktion die preußische Prinzengarde aufmarschieren. 1969, Fulda. Die erste Begegnung mit der Allmacht des Karnevals. Lilly Fahr, legendäre Karnevalistin, Redakteurin der Fuldaer Zeitung und eine Freundin meiner Lieblingstante, hat mir ein Volontariat bei der FZ vermittelt. Der Chefredakteur will nur eines wissen: "Du bist doch sicher getauft, oder?" Klar doch. Den Rest, sagt er, habe Frau Fahr ja bereits geregelt...

Die folgenden Jahre schunkelt man sich so durch. Der legendäre Turnermaskenball (TuMaBa) in der Orangerie. Bis Mitte der 80er Jahre wildes Treiben im "Haus Oranien", der protestantischen Bastion im katholischen Fulda. Absacken in der "Kapp" ("Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei"). Im chronisch überfüllten Café Sauer. In der Alten Post (dort, wo heute die Caritas ihre Suchtberatung anbietet). Im Löwen (heute ein Irish-Pub). Bis Ende der 60er Jahre war auch die "Goldene Krone" Pflicht, Heimat vieler Stammtische (Turnverein, Lehrerverein, Ärzte. Und Karnevalisten). Manchmal ging’s auch ins Gasthaus "Zur Eintracht", wo früher die Brunnenzeche zechte. Heute residiert hier "Im Segment". Dart, Fußball, freitags ist Jack-Daniels-Tag. Noch nicht genug? Zwischendurch werden noch ein paar Kalauer aus den Büttenreden weitergegeben. Zum Beispiel von der legendären Mechtild Remmert, "Königin der Herzen", die ihren zartfühlenden fuldischen Humor auf die Zuschauer niederprasseln ließ. Kleine Kostprobe aus dem Jahr 2007: "Für Schönheitsmittel werbe ich auch. Aber die müssen darmtheologisch getestet sein."

Liegt Frankfurt in Ostwestfalen? Viel närrischer geht’s da nämlich auch nicht zu. Ein paar Kappenabende gibt’s und natürlich einen Narrenzug – aber die Eingeborenen haben sich sogar im Tag vertan: der Rosenmontag fällt auf den Sonntag. Geschunkelt wird nicht aus Lebenslust, sondern allenfalls gegen die Kälte. Binding-Bier im Pappbecher, närrische Musik scheppert, Currywürste und Leberkäs-Brötchen, verkleidete Kinder, angemalte Erwachsene. Am lustigsten sind Zugezogene. Aber Ausnahmen gibt es: das "närrische Dorf" – Heddernheim ("Klaa Paris") im Frankfurter Norden kann Karneval, und viele Kneipen (vorwiegend die Ebbelwei-Paläste) können’s natürlich auch. Vor allem aber kann’s die "Butze" in der Schäfergasse. Auch bei Überfüllung drängt man sich immer noch hier rein. Kölsche Lieder und Früh-Kölsch.

März 1994, eine Kneipe in Berlin. Ich stehe vorm Umzug nach Köln, die Kollegen lassen zum Abschied das Berliner Prinzenpaar mit dem gesamten Stab einmarschieren. Die Prinzessin hängt mir am Hals und lallt: "Du hast es gut. Du ziehst ins Paradies." Aus karnevalistischer Sicht ganz bestimmt. Wenn am Rosenmontag der armselige Hauptstadt-Zug über die verregneten Straßen tuckert, reißen am Straßenrand ein paar traurige Zuschauer ihre Plastiktüten hoch: zu faul oder zu betrunken, sich nach den Bonbons zu bücken. Es gibt tatsächlich Kneipen, in denen Luftschlangen über den Tresen hängen. Mann, da kommt Stimmung auf. Und erst im Bundestag! 2003 verkündeten die Personalräte des Parlaments feierlich, dass an Weiberfastnacht ab 13.11 Uhr "der Büroalltag unterbrochen" werden dürfe, um sich in der Lobby des Jakob-Kaiser-Hauses närrisch zu betätigen. Haha! Die einzig wahre Karnevals-Institution in der preußischen Metropole ist die "Ständige Vertretung" (StäV) am Schiffbauerdamm. Wer hat’s erfunden? Zwei Rheinländer. Drei Häuser weiter residiert Bert Brechts altes Theater, das Berliner Ensemble. Moritz Netenjakob, Komiker aus Köln, juxt: "Meine Eltern sind Intellektuelle. Meine Mitschüler gingen im Karneval immer als Cowboys, ich als Bertolt Brecht." Armer Kerl.

Woher kommt die Foaset? Am Ende des Winters, einem Leben in bitterer Kälte und in verqualmten Häusern, wollten die Menschen einfach mal auf die Grütze hauen. Bereits 1508 wurden in Fulda Masken und "larffen" gesichtet. Das Volk pfiff auf herrschaftliche Regeln. Der Alkohol floss, es wurde getanzt und gefuttert. Für aufwändige Kostüme gab’s in der Rhön kein Geld; machte nichts. Gottfried Rehm in seinem Buch "Die Rhön in alten Zeiten": "Der größte Teil der Jungen verkleidete sich mit einem alten geflickten ‚Motze vom Vodder‘, der links gemacht war, man zog einen Schlapphut auf mit einer Maske davor, und ‚der Lump war fertig‘." 1825 marschierte der erste "organisierte Maskenzug" durch Fulda. Es gab Maskenbälle und Kappenabende. "Der Obrigkeit" war der Mummenschanz verdächtig. Bereits im 8. Jahrhundert verbot Bonifatius die Verkleidungs-Feste, die Tiermasken, die Umzüge im Februar als heidnische Bräuche. 1575 verordnete der Würzburger Bischof auch für große Teile der Rhön Fastnachts-Verbote, "aus sittlichen Gründen". 1656 wurden den hessischen Protestanten "leichtfertige Üppigkeiten nach heydnischer Weis" untersagt, und 1707 wurde in der Fuldaer Fastenordnung aufgelistet, was dem Foaset-Volk alles verboten war: "alle Fastnachtsmißbräuche, närrische Verkleidungen, unehrbares Aufführen und alle ärgerliche Ausgelassenheit". Haben die Feinde des Narren-Volks sich durchgesetzt? Aber nicht doch. Selbst als die Preußen ganz Deutschland mit ihren "Tugenden" überzogen (Fleiß, Disziplin, Gehorsam), machten sich die Karnevalisten wenigstens ein paar Tage im Jahr frei davon.

Heute sind die einst sehr viel mächtigeren Stadtoberen echt lockerer geworden. In dieser Session stand der Fulda-Promi Stephan Buß, von Beruf Stadtpfarrer, im Stadtsaal der Orangerie auf der Bühne: Fremdensitzung der FKG. Der Geistliche als Narr. Er sinnierte über ein Gerücht, wonach der "junge Bischof" (Michael Gerber, 55) möglicherweise deshalb so häufig in Rom sei, weil er die Möglichkeiten eines beruflichen Aufstiegs erkunden wolle. Sprach’s, und schwupp fiel dem Pfarrer eine Bischofsmütze aus seinem Birett. "Wir müssen in jedem Moment für Veränderungen bereit sein", erläuterte er noch – aber die 500 im Saal brüllten bereits vor Lachen. Der Bischof war auch da, er soll auch gelacht haben...

90er Jahre, auf nach Köln! Der Karneval als Urgewalt, als Lavastrom der Verrücktheit, als unbedingter Wille zu guter Laune. Wo spielt hier die Musik? Wie Gerd Köster, den man "kölschen Tom Waits" getauft hat, schon so schön schräg singt:

"Ohne Musik es quasi alles lau.
Kumm mer jonn noh Kölle un singe Helau."

Lassen Sie sich nicht vereimern. Helau ruft man nur im Angeber-Städtchen Düsseldorf – in Köln brüllt man Alaaf. Musik ist hier garantiert hausgemacht. Zum Beispiel von den Bläck Fööss (auf deutsch: nackte Füße), die sich schon die Haare grau geschunkelt haben. Die Fööss gibt’s seit 1970; ihre Klassiker werden auch im Hochsommer gesungen: "Drink doch eine met", "En unserem Veedel", "Mer losse de Dom in Kölle". Die Paveier ("Straßenpflasterer"). Ihr "Buenos Dias, Mathias" wird auch am Ballermann gebrüllt. Die Höhner. Die Veteranen der kölschen Musikszene traten in den ersten Jahren in Hühnerkostümen auf und versorgten die Szene mit allerlei Schunkel-Hits, zum Beispiel "Ich bin ene Räuber" und vor allem "Viva Colonia". Den Text kennt man auch in Fulda:

"Da simmer dabei! Dat is prima! Viva Colonia!
Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust
Wir glauben an den Lieben Gott und ham uch immer Durscht!"

Karneval in Köln, das ist Anarchie. Nur jeder dritte Mitarbeiter schafft es ins Büro. Alle sind irgendwie verkleidet, zumindest mit Pappnasen, lustigen Mützen, Motto-T-Shirts. An Weiberfastnacht hängen sich alle ihre ältesten Krawatten um; sollen die Frauen doch abschneiden, was sie wollen. Auf den Schreibtischen spuckt schon vor der Frühkonferenz das erste Pittermänchen (so heißt ein kleines Blech-Fass) sein Kölsch in die Gläser. Wie soll man hier bloß arbeiten, denkt der Ostwestfale – aber das wird ihm schnell abgewöhnt. Das Dreigestirn (Prinz, Bauer, Jungfrau) kommt vorbei, die Prinzengarde führt ein Tänzchen vor. Orden werden großzügig um den Hals gehängt, Tusch und weg und die nächste Karawane. Im "Schmitze-Lang" in der Südstadt sitzt an Weiberfastnacht, wie jedes Jahr, ein Mann im Büro-Anzug, er ist Chefredakteur eines Wirtschafts-Magazins in Hamburg. Er trägt einen grauen Büro-Anzug, sein blasses Gesicht ist von Kuss-Spuren übersät; er ist glücklich. "Was sagen die Kollegen in Norddeutschland eigentlich zu Ihrer Lust auf Karneval?" "Die sind fassungslos und würden mich am liebsten in eine Anstalt einweisen lassen." Lacht und brüllt Alaaf und beißt sodann in ein Brötchen mit "Kölschem Kaviar". So nennt man hier die Blutwurst.

Wer es nicht überwinden kann, dass an Aschermittwoch alles vorbei sein soll, fährt nach Maastricht. Liegt nur 100 Kilometer von Köln entfernt, da tobt der Karneval immer noch in allen Gassen. Dieselben Lieder wie im Rheinland – die Texte freilich klingen auf holländisch noch niedlicher. Denken Sie vorm Besuch an festes Schuhwerk! Am Eingang zu manchen Trink-Palazzos drücken Türsteher den Gästen ungefragt saure Heringe in die Hand. Zu später Stunde sind die Böden mit Fischgerippen übersät. Glitschige Sache!

Die Fuldaer müssen irgendwie verwandt sein mit den Kölnern; das Foaset-Gen wird offenkundig vererbt, dagegen kann man sich nicht wehren. Kann man’s denn lernen? Aber natürlich. Es sei denn, man ist so spaßfrei wie ein Veganer im Steak-Restaurant. Ein paar Lockerungs-Übungen können nicht schaden. Mancher bringt sich vielleicht mit einer Tasse Schokolade in Stimmung, andere greifen lieber zum Hochstift. Muss ja jeder selbst wissen. Wenn die Foaset in den Sälen Platz nimmt, geht’s nicht nur um Tanz-Einlagen, prunkvolle Einmärsche und schmissige Musik, sondern auch um den Geist der Aufsässigkeit, mit der die Mächtigen der Lächerlichkeit preisgegegeben werden. Beliebteste Zielpersonen sind in dieser Saison sämtliche Ampel-Politiker und der hiesige Stadtbaurat (für seine ebenso unverwüstliche wie närrische Schöpfung einer Stahl-Haube für den Schlossturm). Gern wird auch der AfD einer verpasst. Bereits 2004 knöpfte sich Marianne Link den erst später zur Rechtsaußen-Partei konvertierten Martin Hohmann vor. Die "Gemüseverkäuferin" sang: "Ach wärst du doch am Kaliberg geblieben!" In diesem Jahr berichtete der Bütten-Star Aki Elm, Sohn des gleichfalls berühmten Günther Elm, wie ihm nach einem Sturz ein AfD-Mann aufhalf. "Jetzt kannst Du uns ja auch in drei Wochen gewähl", sagt der freundliche Rechtsbürger. Elms Antwort: "Kuitz, ich bin auf de Hinnern gefalle und net uff de Kopp."

Schlussbemerkung: Lilly Fahr wurde 95 Jahre alt. Sie stand auch im hohen Alter noch auf den Fuldaer Bühnen. Ihre Bluse war derart mit den Orden ihres närrischen Lebens vollgehängt, dass mancher befürchtete, die kleine, zerbrechlich wirkende Frau könne vom Gewicht des Metalls heruntergezogen werden. Passierte natürlich nicht. Karneval macht stark!

Falls Sie jetzt in Schunkel-Laune sind:


Ernst Neger mit Humba Tätärä, dem ultimativen Fastnachts-Reißer aus den 60er Jahren: https://www.youtube.com/watch?v=OjovNTvozcc

Bläck Fööss mit ihrem bekanntesten Hit: Mer losse d’r Dom en Kölle https://www.youtube.com/watch?v=m9Ph0AHYgQE&t=52s

Die Höhner mit Viva Colonia: https://www.youtube.com/watch?v=3bUMMAhYsk8&t=81s
(Rainer M. Gefeller) +++

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