Echt jetzt! (12)
Sind wir nicht alle ballaballa? - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Foto: picture alliance / Guido Bergmann/Bundesregierung/dpa | Guido Bergmann
13.06.2024 / REGION -
Kaum haben wir das Kracher-Event Europawahl verdaut, da beginnt morgen schon der Kultur-Sommer. Zur Aufführung kommen Hup-Konzerte, dargeboten von mobilen, Fahnen-schwenkenden Künstlern – da können wir uns was anhören. An sich sind solche Autokorsos leider ein wenig aus der Mode gekommen, selbst türkische Hochzeiten rollen weitgehend lärmfrei durch die Städte. Soll halt Leute geben, die haben es nicht gern, wenn andere in Freudentaumel geraten.
Aber jetzt gibt’s wieder Futter für die Ohren. Beliebte Aufführungsorte sind rund um den Aschenberg; die Rabanusstraße hoch, die Linden runter und dann ab auf die Heinrich; die Petersberger und die Leipziger hin und her... Anwohner sollten schon mal rechtzeitig ein Kissen auf die Fensterbank legen. Man will’s ja bequem haben, wenn die Darsteller auf der Straße sich die Seele aus dem Leib brüllen und die Hupen und Tröten ihr Werk verrichten, bis auch sie nur noch röcheln können.
Vor über 30 Jahren, am Donnerstag, 7. Juni 1990, hat das Fußball-Fachblatt "Bild" eine seiner schönsten und immer wieder verwendbaren Schlagzeilen geschaffen: "Morgen, endlich! Jaaa! Deutschland balla, balla!" Frauen, Männer, Kinder – "Damen und Herren und alle dazwischen und außerhalb", wie Jan Böhmermann seine Kundschaft zu begrüßen pflegt – werden von einer Epidemie der Feierlaune heimgesucht. Wir schminken uns. Wir tragen seltsame Kappen, selbst die Unsportlichsten streifen sich Fußball-Trikots über. Wir grölen, bis die Heiserkeit uns und unsere Nachbarn erlöst. Wir schwenken Bierbecher. Wir schmücken unsere Autos und Balkone in Landesfarben. Wir sind halt alle ballaballa.
Seitdem drängen sich Regierende in die Kabinen der Nationalelf. Selbst Angela Merkel hat sich in Rio fürs Foto zwischen die schwitzenden Weltmeister gestellt. Und Olaf Scholz lässt sich auch nicht lumpen und gab schon bei der Mannschafts-Visite vor der EM den Kick-Starter. Als der Kanzler im Februar mit Bundestrainer Nagelsmann zusammentraf, fragte ihn der Chef der Deutschen Presse Agentur, was sich Nagelsmann von der Ampel-Regierung abgucken könnte, um erfolgreich zu sein. Scholz antwortete erstaunlich ehrlich: "Besser nichts!"
Gute Freunde kann niemand trennen
Gute Freunde sind nie allein
Weil sie eines im Leben können
Füreinander da zu sein
In jenem Jahr wurden die Deutschen (ausgerechnet gegen die Briten) lediglich durch ein vermutlich etwas zu niedrig gebautes Tor daran gehindert, Weltmeister zu werden. Derzeit ist der Stuhlkreis, der sich in unserer Regierung alleweil zusammenhockt, weit davon entfernt, überhaupt das Endspiel zu erreichen. Singt doch mal das gute alte Franzl-Lied, klatscht in die Hände, hakt Euch unter – vielleicht wartet auf Euch auch noch ein Sommer-Märchen. Nun ja, vielleicht auch nicht...
Genug davon! Wie läuft denn nun das Kultur-Programm der kommenden vier Wochen? Morgen Abend, ab 22:45 Uhr, geht’s los, dann ungefähr wird das Eröffnungsspiel Deutschland-Schottland abgepfiffen. Die Zahl der in Fulda lebenden Schotten ist so niedrig, dass sie von der Statistik kaum ausgewiesen werden – aber hoffen wir mal, dass die Vertreter der Whiskey-Nation sowieso nichts zu feiern haben. Aber WIR! Freie Fahrt für siegreiche Germanen. Einen Tag später, am Samstag, gehört die Straßen-Bühne den nicht-deutschen Fuldaern: Laut Statistik leben hier 277 Ungarn, 404 Italiener, 164 Spanier, 463 Kroaten – die lassen bekanntlich alle nichts anbrennen. Albaner und Schweizer fallen zwar statistisch durch den Rost, aber wir wissen ja: Wenn vor allem die für ihr wildes Temperament berüchtigten Eidgenossen Grund haben sollten, in Triumph-Geheul auszubrechen, wackeln in Fulda die Wände. Wie der Schweizer sagt: Da werded ihr stuune!
Zur Einstimmung auf die Fußball-Party daheim sei ein 70 Jahre alter Radio-Leckerbissen empfohlen: die Spiel-Reportage vom WM-Finale 1954: https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/tooor-tooor-toor-das-wm-finale-in-bern-die-ganze-reportage-100.html
Oder hätten Sie’s lieber musikalisch? Dann kann’s nur der Beckenbauer-Hit sein, auf YouTube in einer eigens für die ARD-Fernsehlotterie zu bewundern. Alle Lautsprecher-Regler nach rechts: https://www.youtube.com/watch?v=kQUJfpcSRQ0 (Rainer M. Gefeller) +++
Foto: picture alliance / Eibner-Pressefoto | Eibner-Pressefoto/Jenni Maul
Grafik: O|N
Echt jetzt! - weitere Artikel
Echt jetzt! (19)
Sommer, Sonne, Rasenmäher - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (18)
Hallo, Bauzaun - du bist ja immer noch da - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (17)
Hello Again - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (16)
Tränen lügen nicht - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (15)
Du Wetter, Du Sau! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (14)
Fulda schießt ein Tohohoor! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (13)
Der Fußball geht am Himmel auf - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (11)
Die Dicken, die Dünnen und der Jojo-King - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (10)
Mer kann sich die Mensche net backe - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (9)
Tötet den Bärenklau - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (8)
Heiliger Bimbam! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (7)
Die Rollkoffer-Symphonie - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (6)
Bella Germania - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (5)
Es lebe der Fulder Rucksack - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (4)
Opa Scholz & Oma Strazi - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (3)
Der liebe Gott sieht alles! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (2)
Hanf-Dampf in allen Gassen - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Echt jetzt! (1)
Sankt Weselsky! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
"Echt jetzt!" von Rainer M. Gefeller
Journalisten-Legende schreibt exklusive Kolumne bei OSTHESSEN|NEWS