Echt jetzt! (25)
Leerstand trifft Weltniveau - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Fotos: Michael Otto / Annemaria Gefeller
27.09.2024 / REGION -
Immer wieder, wenn ein Fuldaer Geschäft schließt, warnen besorgte Einheimische vorm Untergang der Innenstadt. Gewerbevertreter, Händler, Verbände schlagen schon seit Jahren Alarm: "Stirbt der Handel, stirbt die Stadt." Wenn unser Lieblings-Bäcker, unser bester Kleiderladen, unser gewohntes Kaufhaus sich davonmachen – dann müssen wir leiden. Aber wie steht es wirklich um Fulda? Beim Streifgang durch die Stadt entdeckt man allerlei Niedergangs-Signale, aber noch mehr Belege für Aufschwung und sogar Boom. Wie kriegt man das zusammen? Neulich habe ich einen T-Shirt-Spruch gesehen, der uns alles erklärt: "Fulda ist wie New York – nur ganz anders."
Schilder und Schriften halten die Erinnerungen wach
Wer in Fulda alt und älter geworden ist, kann derartige Anekdoten zuhauf aus seinem Gehirnkasterl hervorkramen. Mag auch manches längst vergangen sein, in der Erinnerung lebt vieles weiter. Die Fuldaer haben gern behauptet, sie gingen gleich "zum Kerbersch", obwohl’s den schon längst nicht mehr gab; der Kaufhof, inzwischen auch Geschichte, hatte sich dort eingenistet. An den Löwen erinnert inzwischen nur noch ein goldfarbener geschwungener Schriftzug am schmiedeeisernen Gitter der Eingangstür zum Irish Pub. Schräg gegenüber, Peterstor 11, wirbt noch immer die "Ochsen-, Kalb- und Schweinemetzgerei Josef Will" – drinnen residiert freilich längst die Feinkost-Adresse Nobel & Josef. Im Eckhaus vis-a-vis hat die einst hochgepriesene "Bäckerei-Conditorei Sennefelder" schon viele Nachfolger erlebt, derzeit schneidet, wäscht und fönt dort ein Friseur. Die schönen Schilder und Schriften an den Altstadt-Häusern halten die Erinnerungen wach – zeigen aber auch, was verloren ging. Manche fühlen sich deshalb in einer Art Jurassic-Park vergangener Epochen; die meisten freilich genießen das Gefühl, in einem lebendigen Freiluft-Museum der Geschichte begegnen zu können. Noch ein paar Beispiele gefällig? Buttermarkt 1, das "Haus am Sonnabendmarkt", 1445 erstmals erwähnt und heute vom Brillen-Trabert okkupiert. Buttermarkt 6: "Zum Schwarzen Bären" – heute: Marco-Polo. Buttermarkt 22: "Das Steinerhaus" – heute: die Privatbank Merkur.
Umsätze und Zahl der Geschäfte im Einzelhandel gehen vorwiegend abwärts
"Wild. Feinkost." Das verheißen die abgeblätterten Schilder in der Gasse Am Peterstor – und das gab’s hier früher auch, im Feinkostladen Oswald. Heute steht auf dem Bürgersteig davor an sonnigen Tagen ein Liegestuhl, hinter den Scheiben werkelt ein Barbier. Ein paar Straßenzüge weg, Friedrichstraße 6: ein schöner Schriftzug am Haus wirbt noch für Oskar Kramers Buch- und Kunsthandlung. Aber statt geistiger Kost gibt es süße Geschmacksbomben von der Eismanufaktur Bonifatius. Silvester 2002 kam die Nachricht, dass Kramers "christliche Buchhandlung" nach zehn Jahren schließen musste. Theologische Schriften und christliche Literatur waren schon damals weithin unverkäuflich. Die "Buchhandlung am Dom" (Domdechanei 2) hat noch bis zum Beginn dieses Jahres durchgehalten und schlüpfte unter bei Uptmoor, Lindenstraße. Gleich neben der Eisdiele gibt’s bald statt Damenmode einen Wein-Discount. Das Modegeschäft Classic hat vor einem Jahr geschlossen; 31 Jahre lang war es dort für viele Fuldaer kaum wegzudenken. Zu wenig Kunden? Falsches Angebot? Kein Personal?
Die Innenstadt-Entwickler aus Köln haben allerdings ausschließlich Besucher der Stadt befragt – und denen geht Leerstand naturgemäß nicht so nahe. Einheimische registrieren untergegangene und demnächst schließende Geschäfte hingegen sehr genau. Das Modehaus Peters am Buttermarkt, das Nicolissima einige Häuser weiter, den Schuh-Sauer in der Rabanusstraße, das Kenny’s in der Marktstraße: überall herrscht Ladenschluss-Verkauf. Die Firmenzentrale der in die Insolvenz gerutschten Kenny’s-Kette beschied schmallippig: "Die Stores rentieren sich nicht mehr." Was ist da los? Falsches Angebot? Zuwenig Kunden? Kein Personal? Keine Nachfolger? Zu übermächtig das Internet? Zu hohe Mieten? Wahrscheinlich ist: von all dem stimmt irgendwas. Was haben die Geschäftsleute nicht alles versucht: Verkaufs-Events um Mitternacht. Konzertabende. Ein Herrenausstatter schickte den Stammkunden vorm Fest Weihnachtsbäume nach Hause, gratis. Und allenthalben werden Kundinnen mit Prosecco geflutet, damit ihre Kauf-Zurückhaltung davongeschwemmt wird.Der Männer-Spezialist "Rasierer-Müller" in der Karlstraße hat nach über 30 Jahren, aufgegeben, ebenso wie das "Esprit" in der Marktstraße. Schräg gegenüber ist "Vorwerk", der Tempel für Staubsauger-Freaks, schon lange futsch – seither steht der Laden leer. Das Modehaus Büttner in der Friedrichstraße ist alten Fuldaern noch immer ein Begriff – das "Liebling’s," das ihm folgte, fast zwei Jahrzehnte ein besonderer großstädtischer Lifestyle-Store, glotzt die Passanten nur noch aus leeren Fensterhöhlen an. "Alles muss raus" brüllte die Internetseite zum Abschied in diesem Sommer und ließ noch mal seine Internationalität raushängen: "Wir sagen Ade, Bye, Adieu, Ciao, Tschö!" "Wieder stirbt ein Stück Innenstadt", textete die Fuldaer Zeitung. Das verlockende Geschäft ist perdu, bald zieht der Italiener von nebenan ein. Ersetzen Essen und Trinken das Einkaufserlebnis?
Fulda macht was her - ein Hauch von New York?
Mancher kritisiert, in Fulda werde einfach zu viel gefeiert. Da wird Heiko Wingenfeld, Oberbürgermeister und gemeinhin ein konzilianter Mann, energisch: "Nein! Lebendige Innenstädte zu erhalten und in die Zukunft zu führen, das ist keine Selbstverständlichkeit – und ohne Anlass kommen die Menschen überregional nicht", sagte er der Osthessen-News. Es sei gelungen, Fulda zu einer Kulturmetropole zu entwickeln. Fulda macht was her. Auf der Bühne vorm Dom drängen sich die Superstars, die Musical-Shows werden immer spektakulärer. "Weltniveau", preist der OB, und er hat Recht. Vielleicht tatsächlich ein Hauch von New York? Na ja, lassen wir mal den Dom in der City. Jedenfalls sind auch viele Einheimische stolz auf ihre Stadt, ihre berückende Ausstrahlung, ihren grandiosen Erfolg. Und dennoch sind viele besorgt, dass die guten alten Geschäfte ins Abseits geraten – und sich damit bröckchenweise ein wenig Heimat verflüchtigt. Ist das der Preis des Erfolgs? Oder wäre es um Fulda nicht eher schlimmer bestellt, wenn es diesen Kultur-Rausch und die gastronomischen Höhenflüge nicht gäbe – und die Shops trotzdem schließen müssten?
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Journalisten-Legende schreibt exklusive Kolumne bei OSTHESSEN|NEWS