Echt jetzt! (25)

Leerstand trifft Weltniveau - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Immer, wenn ein Fuldaer Geschäft schließt, warnen besorgte Einheimische vorm Untergang der Innenstadt.
Fotos: Michael Otto / Annemaria Gefeller

27.09.2024 / REGION - Immer wieder, wenn ein Fuldaer Geschäft schließt, warnen besorgte Einheimische vorm Untergang der Innenstadt. Gewerbevertreter, Händler, Verbände schlagen schon seit Jahren Alarm: "Stirbt der Handel, stirbt die Stadt." Wenn unser Lieblings-Bäcker, unser bester Kleiderladen, unser gewohntes Kaufhaus sich davonmachen – dann müssen wir leiden. Aber wie steht es wirklich um Fulda? Beim Streifgang durch die Stadt entdeckt man allerlei Niedergangs-Signale, aber noch mehr Belege für Aufschwung und sogar Boom. Wie kriegt man das zusammen? Neulich habe ich einen T-Shirt-Spruch gesehen, der uns alles erklärt: "Fulda ist wie New York – nur ganz anders."



Erinnern Sie sich noch an den alten Kellner im Löwen? Na, kommen Sie schon – das ist doch erst 50 Jahre her. Damals regierte der wunderbare "Herr Ober" im ersten Stock. Zur Mittagszeit schleppte er an die Tische, was der rumpelnde Speisenaufzug aus der Küche nach oben schuf. "Die Suppe kann ich ja schon bringen", bestimmte er, kaum saß der Kunde – und dann kam sie sogleich. Die Nudelbrühe schwappte bis an den Tellerrand, und immer hing sein Daumen mittendrin. "Die einzige Fleischeinlage", spotteten die Stammgäste. In der Gaststube im Erdgeschoss – dort, wo heute das Guinness zu irischer Folkloremusik serviert wird – hielt die Löwen-Küche ihre Spezialität bereit: eine fetttriefende Schlachteplatte mit Erbspüree. Mmmh! Für derart anspruchsvolle Kost sind unsere Mägen heute nicht mehr stark genug, oder?

Schilder und Schriften halten die Erinnerungen wach

Wer in Fulda alt und älter geworden ist, kann derartige Anekdoten zuhauf aus seinem Gehirnkasterl hervorkramen. Mag auch manches längst vergangen sein, in der Erinnerung lebt vieles weiter. Die Fuldaer haben gern behauptet, sie gingen gleich "zum Kerbersch", obwohl’s den schon längst nicht mehr gab; der Kaufhof, inzwischen auch Geschichte, hatte sich dort eingenistet. An den Löwen erinnert inzwischen nur noch ein goldfarbener geschwungener Schriftzug am schmiedeeisernen Gitter der Eingangstür zum Irish Pub. Schräg gegenüber, Peterstor 11, wirbt noch immer die "Ochsen-, Kalb- und Schweinemetzgerei Josef Will" – drinnen residiert freilich längst die Feinkost-Adresse Nobel & Josef. Im Eckhaus vis-a-vis hat die einst hochgepriesene "Bäckerei-Conditorei Sennefelder" schon viele Nachfolger erlebt, derzeit schneidet, wäscht und fönt dort ein Friseur.

Die schönen Schilder und Schriften an den Altstadt-Häusern halten die Erinnerungen wach – zeigen aber auch, was verloren ging. Manche fühlen sich deshalb in einer Art Jurassic-Park vergangener Epochen; die meisten freilich genießen das Gefühl, in einem lebendigen Freiluft-Museum der Geschichte begegnen zu können. Noch ein paar Beispiele gefällig? Buttermarkt 1, das "Haus am Sonnabendmarkt", 1445 erstmals erwähnt und heute vom Brillen-Trabert okkupiert. Buttermarkt 6: "Zum Schwarzen Bären" – heute: Marco-Polo. Buttermarkt 22: "Das Steinerhaus" – heute: die Privatbank Merkur.

Umsätze und Zahl der Geschäfte im Einzelhandel gehen vorwiegend abwärts

"Wild. Feinkost." Das verheißen die abgeblätterten Schilder in der Gasse Am Peterstor – und das gab’s hier früher auch, im Feinkostladen Oswald. Heute steht auf dem Bürgersteig davor an sonnigen Tagen ein Liegestuhl, hinter den Scheiben werkelt ein Barbier. Ein paar Straßenzüge weg, Friedrichstraße 6: ein schöner Schriftzug am Haus wirbt noch für Oskar Kramers Buch- und Kunsthandlung. Aber statt geistiger Kost gibt es süße Geschmacksbomben von der Eismanufaktur Bonifatius. Silvester 2002 kam die Nachricht, dass Kramers "christliche Buchhandlung" nach zehn Jahren schließen musste. Theologische Schriften und christliche Literatur waren schon damals weithin unverkäuflich. Die "Buchhandlung am Dom" (Domdechanei 2) hat noch bis zum Beginn dieses Jahres durchgehalten und schlüpfte unter bei Uptmoor, Lindenstraße. Gleich neben der Eisdiele gibt’s bald statt Damenmode einen Wein-Discount. Das Modegeschäft Classic hat vor einem Jahr geschlossen; 31 Jahre lang war es dort für viele Fuldaer kaum wegzudenken.

Im Einzelhandel gehen Umsätze und Zahl der Geschäfte gemäß Bundesamt für Statistik vorwiegend abwärts. 2022 wurden 334.591 Unternehmen gezählt, das sind zwar knapp 15.000 mehr als im Corona-Jahr 2020 – aber 2002 gab es in Deutschland noch 418.122 Einzelhändler. Ohne den Einzelhandel, barmt der Branchenverband HDE, hätten die Städte kaum Zukunftsperspektiven. Freilich: Andere Studien machen deutlich, dass nur noch 40 Prozent der Besucher vorwiegend zum Shopping in die Stadt kommen. In einer IFH-Vergleichsstudie über die Attraktivität von Innenstädten (116 Städte, 60.000 Befragte) schnitt Fulda überdurchschnittlich gut ab. Das Flair, das Ambiente, die touristischen Attraktionen hätten zusammen mit dem Geschäfts-Angebot dafür gesorgt, dass Fulda "in der oberen Liga" spiele, jubelte 2019 bei der Vorstellung der IFH-Studie deren Projektleiter Nicolaus Sondermann. Der Ratschlag der IFH: Weiter so.

Zu wenig Kunden? Falsches Angebot? Kein Personal?

Die Innenstadt-Entwickler aus Köln haben allerdings ausschließlich Besucher der Stadt befragt – und denen geht Leerstand naturgemäß nicht so nahe. Einheimische registrieren untergegangene und demnächst schließende Geschäfte hingegen sehr genau. Das Modehaus Peters am Buttermarkt, das Nicolissima einige Häuser weiter, den Schuh-Sauer in der Rabanusstraße, das Kenny’s in der Marktstraße: überall herrscht Ladenschluss-Verkauf. ­­­­Die Firmenzentrale der in die Insolvenz gerutschten Kenny’s-Kette beschied schmallippig: "Die Stores rentieren sich nicht mehr." Was ist da los? Falsches Angebot? Zuwenig Kunden? Kein Personal? Keine Nachfolger? Zu übermächtig das Internet? Zu hohe Mieten? Wahrscheinlich ist: von all dem stimmt irgendwas. Was haben die Geschäftsleute nicht alles versucht: Verkaufs-Events um Mitternacht. Konzertabende. Ein Herrenausstatter schickte den Stammkunden vorm Fest Weihnachtsbäume nach Hause, gratis. Und allenthalben werden Kundinnen mit Prosecco geflutet, damit ihre Kauf-Zurückhaltung davongeschwemmt wird.

Der Männer-Spezialist "Rasierer-Müller" in der Karlstraße hat nach über 30 Jahren, aufgegeben, ebenso wie das "Esprit" in der Marktstraße. Schräg gegenüber ist "Vorwerk", der Tempel für Staubsauger-Freaks, schon lange futsch – seither steht der Laden leer. Das Modehaus Büttner in der Friedrichstraße ist alten Fuldaern noch immer ein Begriff – das "Liebling’s," das ihm folgte, fast zwei Jahrzehnte ein besonderer großstädtischer Lifestyle-Store, glotzt die Passanten nur noch aus leeren Fensterhöhlen an. "Alles muss raus" brüllte die Internetseite zum Abschied in diesem Sommer und ließ noch mal seine Internationalität raushängen: "Wir sagen Ade, Bye, Adieu, Ciao, Tschö!" "Wieder stirbt ein Stück Innenstadt", textete die Fuldaer Zeitung. Das verlockende Geschäft ist perdu, bald zieht der Italiener von nebenan ein. Ersetzen Essen und Trinken das Einkaufserlebnis?

Fulda macht was her - ein Hauch von New York?

Mancher kritisiert, in Fulda werde einfach zu viel gefeiert. Da wird Heiko Wingenfeld, Oberbürgermeister und gemeinhin ein konzilianter Mann, energisch: "Nein! Lebendige Innenstädte zu erhalten und in die Zukunft zu führen, das ist keine Selbstverständlichkeit – und ohne Anlass kommen die Menschen überregional nicht", sagte er der Osthessen-News. Es sei gelungen, Fulda zu einer Kulturmetropole zu entwickeln. Fulda macht was her. Auf der Bühne vorm Dom drängen sich die Superstars, die Musical-Shows werden immer spektakulärer. "Weltniveau", preist der OB, und er hat Recht. Vielleicht tatsächlich ein Hauch von New York? Na ja, lassen wir mal den Dom in der City. Jedenfalls sind auch viele Einheimische stolz auf ihre Stadt, ihre berückende Ausstrahlung, ihren grandiosen Erfolg. Und dennoch sind viele besorgt, dass die guten alten Geschäfte ins Abseits geraten – und sich damit bröckchenweise ein wenig Heimat verflüchtigt. Ist das der Preis des Erfolgs? Oder wäre es um Fulda nicht eher schlimmer bestellt, wenn es diesen Kultur-Rausch und die gastronomischen Höhenflüge nicht gäbe – und die Shops trotzdem schließen müssten?

Zurück in den Alltag. Metzger in der Innenstadt kann man inzwischen an zwei Fingern abzählen – aber unsere Bäcker, die lassen sich doch durch nichts verdrängen. Oder? Oder vielleicht doch? Seit vergangenem Jahr ist Regulski, erster Bio-Bäcker in der Stadt und Spezialist für Vollkorn-Backwaren, endgültig geschlossen (Marktstraße 10). Die Altstadt-Bäckerei Ballmaier (Severiberg 4) hat aufgegeben, weil der Zugang zum berühmten Medicus-Brot monatelang durch Bauarbeiten blockiert war. Der hochgepriesene Bäcker und Konditor Wess hat seine Niederlassung in Horas schon lange geschlossen und backt in seinem Haupthaus (Kanalstraße 2A) nur noch auf Sparflamme. Einen Nachfolger hat er nicht gefunden, jetzt bietet er auf der Webseite auch seine Immobilien zum Kauf an.

Das macht traurig. Wo etwas weggeht, kommt nichts Besseres nach, wird gern behauptet. Aber einen Moment mal: Am Peterstor steht plötzlich eine Geige in einem Schaufenster. Ein neuer Mieter ist eingezogen: Geigenbauer Moritz Camillo Pietzsch, der auch dabei ist, sein Atelier hierhin zu verlagern. Ein Tusch: Kein Friseur! Keine Kebab-Bude! Kein Handy-Laden! Kein Nagelstudio! Hey, Mann: Willkommen. Wenn Sie mal schauen möchten: geigenbau-pietzsch.de. Und wenn Sie mal hören möchten: Das Kölner Duo Kravets-Kassung spielt ein feines kurzes Stück von Gabriel Fauré – Tobias Kassung auf der klassischen Gitarre, Lena Kravets auf einem Violoncello, das von Meister Pietzsch gefertigt wurde. https://www.youtube.com/watch?v=R1r7fdgeut0&t=217s (Rainer M. Gefeller)+++

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