Echt jetzt! (87)

Wenn Kirchen sterben - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Abriss der St. Wigbert-Kirche in Bad Hersfeld.
Archivfoto: O|N

12.12.2025 / REGION - Wann waren Sie eigentlich das letzte Mal in der Kirche? Kann man doch mal fragen im Advent, Endspurt-Zeit fürs Weihnachtsfest. Jetzt nicht verlegen rumhüsteln, wir wissen doch alle Bescheid. Mein Tipp: Vergangenes Jahr an Heiligabend. Oder war’s damals zu kalt für den Kirchweg (immerhin knapp unter Null)? Da bleibt man doch lieber in seiner überheizten Muckel-Bude. Oder waren die Kirchenglocken zu leise für die Isolierglas-Fenster? Oder ist uns just an diesem Abend der Abende eingefallen, dass wir eigentlich mit der Kirche gar nichts mehr am Klingelbeutel haben? Stellen wir uns mal einen Moment vor, wie das wäre, wenn’s gar keine Kirchen mehr gäbe. Unsere Dörfer wie enthauptete Häuser-Haufen. In Fulda leuchtet nur noch diese Turm-Karikatur am Stadtschloss. Die Glocken stehen schweigend in irgendwelchen Museen. Da glauben Sie nicht dran? Tja, was soll man überhaupt noch glauben?



"Sag beim Abschied leise Amen." Das steht über einer Art Untergangs-Reportage in der "Zeit" im April 2006. Die zentrale Kronzeugin der Reporter hieß Inge Labsch, Jahrgang 1932. Katholisch, wohnhaft in Gelsenkirchen. Ihre Kirche war St. Georg – gleich dahinter kam die Schalke-Arena. Inge Labsch brauchte keinen Fußball, ihr reichte die Kirche. Jeden Sonntag und darüber hinaus. "Wenn man wat hat, dann wird man et dort los." Kommunion ihrer Kinder, Firmung, Heirat, Taufe der Enkelkinder, Totenmesse für den Mann; ein wichtiger Ort für die gesamte Familie war dieses Gotteshaus. St. Georg war eine "Schlappenkirche". Wenn man’s zeitlich nicht so geschafft hatte, konnte man auch rasch in Hausschuhen dorthin schlurfen.

Weil sich die Gläubigen in ihrer Kirche zu Hause fühlten. Irgendwann nach der Jahrtausendwende hat der Küster die Fußbodenheizung gedrosselt. Der Pastor ließ die Turmuhr abstellen. Wenig später las er ein Bischofswort vor: Das Bistum muss sparen, 96 von 350 Kirchen sollen schließen. Auch St. Georg. Schweigen nach dem Bischofswort. "Dann brach Tumult in der Georgskirche los, Menschen begannen zu weinen, sprangen auf und liefen ins Freie." Schrieb die Westdeutsche Allgemeine. Plötzlich drängen die Gelsenkirchener in Scharen in jeden Gottesdienst. Ein Förderverein wird gegründet. Mahnwachen formieren sich, 2.500 unterschreiben Protest-Listen. Inge Labsch ist immer dabei. Jeden Dienstag Vollversammlung in der Kneipe gleich neben der Kirche.

Das Bistum kämpft selbst ums Überleben. Auf einmal geht es fast nur noch ums Geld. 1997 präsentiert die Beratungs-Firma McKinsey die irdischen Wahrheiten. 85 Prozent des Bistumsetats waren Personalkosten. Da muss man doch einfach ran, 60 Millionen kann man da locker sparen, es sollte "elegant" abgebaut werden. Und dann: zu viele Kirchen, zu wenig Gläubige. Dem neuen Bischof Felix Genn, der Anfang des Jahrtausends die Abrissarbeiten geerbt hatte, halten manche Geistliche vor, er lasse sich zu sehr von der Vernunft leiten, mit "Herzenswärme" habe ihn der liebe Gott wohl nicht ausgestattet. Aber was ist, wenn das ganze Bistum zusammenkracht? Was macht man mit all den Kirchen, in die sich kaum noch Gläubige verirren? Begegnungsstätten, Altenheime, Kindergärten, Kultur-Einrichtungen – so hätten‘s die Kirchen-Manager gern gehabt. Aber dabei bleibt es nicht. Kirchen werden Tanzschuppen, Restaurants, Sportstätten, Büros. "Hauptsache kein Puff", sagt ein Küster den Zeit-Reportern 2006. Galgenhumor. Inzwischen weiß man längst: Gelsenkirchen ist überall. Am 2. Februar 2019 wurde in St. Georg die letzte Messe gelesen.

Was haben die Italiener, was wir nicht haben? Sie glauben. Bis in die 90er Jahre waren über 90 Prozent der Italienerinnen und Italiener Mitglieder der katholischen Kirche. Heute sind’s immer noch 74 Prozent, allen kirchlichen Skandalen zum Trotz. 1951 waren noch fast alle Westdeutschen (96,4 Prozent) Mitglied in einer christlichen Kirche. 1990 waren es immer noch fast drei Viertel der inzwischen wiedervereinigten Deutschen (72,3 Prozent). 2014 wusste die FAZ, seit der Wiedervereinigung sei der Anteil der Christen an der Bevölkerung um acht Millionen gesunken. "Nicht wegen der Einwanderung von Muslimen, sondern wegen der Auswanderung von Katholiken und Protestanten aus ihren Kirchen." Im vergangenen Jahr betrug der Anteil der Katholiken und Evangelischen an der Gesamtbevölkerung nur noch 46 Prozent. Und wie soll das weitergehen?

Bruce Springsteen ist wie ein Kapuziner-Prediger: deutlich, wütend und laut. Der Mann, den die Rock-Fans "Boss" nennen, steht auf der Bühne und predigt – mit seinen Songs, aber besonders inbrünstig gegen Amerikas gewählten Boss Donald Trump. Der US-Präsident sei "die lebendige Verkörperung dessen, wofür es eine Amtsenthebung gibt". Trump gehöre "auf den Müllhaufen der Geschichte." Solche Attacken betrachtet Springsteen als christlichen Auftrag. "Je älter man wird", sagt der 76-Jährige, "desto wichtiger wird die Spiritualität". Vor zwei Sommern betete, nein: brüllte er auf der Bühne eines New Yorker Broadway-Theaters das Vaterunser fast wie einen seiner Songs. Vater Douglas Frederick war Ire, Mutter Adele Italienerin. Beide katholisch. Springsteen: "Die Katholiken sind schlau. Wenn sie dich kriegen, dann kriegen sie dich, und du kommst nie mehr davon los." Das würden ihm die hiesigen Kirchenführer gern abkaufen. Aber Deutschland ist nicht Italien.

23.000 Kirchen haben die Evangelischen noch in Deutschland, 24.000 die Katholischen. Seit 1990 hat die Katholische Kirche 603 Gotteshäuser aufgegeben, 173 davon wurden abgerissen. Evangelische Kirche: 514 Kirchen weg, davon 128 abgerissen. In ganz Italien wurden laut einer Liste im Internet 22 Kirchen und Kapellen entweiht, davon vier in Rom und fünf in Venedig. Allein im Bistum Fulda wurden bislang 49 Kirchen verkauft, umgewidmet, umgebaut oder abgerissen. So sieht’s aus. Die Abbruchbagger kommen näher.

28. Oktober 2018 in Neuhof. In der St. Barbara-Kirche drängten sich 400 Gläubige, viele hatten feuchte Augen, als das Ende ihrer Kirche endgültig besiegelt wurde. "Traurig und bedrückend" nannte Ordinariatsrat Thomas Renze diesen letzten Akt der Kirchen-Geschichte. "So viele Menschen haben hier geheiratet und sind getauft worden." Es war ein schleichendes Ende. Zu wenige Gläubige bei den Gottesdiensten. Das Gebäude verfiel – die Heizung defekt, das Dach undicht, die Empore einsturzgefährdet. Aber konnte das sein, dass im Fuldaer Land eine Kirche nicht mehr lebensfähig ist? St. Barbara war das erste große Gotteshaus in Osthessen, das es erwischte. Pfarrer Dagobert Vonderau sagte damals, die Profanierung einer Kirche sei "ein seltenes und trauriges Ereignis zugleich". Was für ein Irrtum.

Darf der Klerus den Gläubigen einfach ihre Kirchen wegnehmen? "Eine Kirche ist Gott in vier Wänden", sagt ein französisches Sprichwort. Was bleibt übrig, wenn die Wände geschleift werden? Darf man mit diesen "Gotteshäusern" so umspringen wie mit Sparkassen-Filialen? Dürfen kirchliche Institutionen sich bei ihren Sanierungsarbeiten verhalten wie Konzerne? "Wir Priester möchten ja nicht die Kirchen schließen sondern eher welche bauen, und den Glauben zu den Menschen bringen", sagt Mario Lukes in dem HR-Magazin Mex; der "leitende Pfarrer" im Eschweger "Pastoralverband" wirkt hilflos. Von so vielen Kirchen musste er sich schon verabschieden; gerade erst wieder drei auf einen Streich: Grebendorf und Abterode im Werra-Meißner-Kreis, Richelsdorf in Hersfeld-Rotenburg. "Zu viele Kirchen", klagt Pfarrer Lukes. Sommer 2024, "Maria vom Guten Rath" in Besse, Baujahr 1956. Juli 2020, Wigbert-Kirche in Bad Hersfeld 38 Jahre nach ihrem Bau abgerissen. Neujahr 2022: Kirchen in Schrecksbach, Oberaula und Frielendorf werden geschlossen. November 2024: eine Immobilienfirma kauft die Kirche in Niederkaufungen. Im Sommer 2024 wird die Klemenskirche in Gilserberg entweiht. Pfarrer Michael Brüne spricht davon, als wäre es ein Todesfall: Die Gemeinde habe der Kirche "die letzte Ehre" erwiesen.

Was für ein Niedergang. Ältere Gläubige erinnern sich noch an die Boomzeit nach dem Weltkrieg. Überall wurden eilig Kirchen hochgezogen, manche waren nur Bet-Baracken. Die vielen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen importierten ihren Glauben nach Deutschland. Allein in Nordhessen, einer Diaspora für Katholiken, wurden seit 1945 107 katholische Kirchen gebaut. Zur selben Zeit richtete der Ost-Herrscher Walter Ulbricht seine bedrohlich klingende Fistelstimme gegen die Kirchen in der DDR. 7. Mai 1953 in "Stalinstadt" (heute: Eisenhüttenstadt): "Ja, wir werden Türme haben, zum Beispiel einen Turm fürs Rathaus, einen Turm fürs Kulturhaus. Andere Türme können wir in der sozialistischen Stadt nicht gebrauchen." Das war ein Vernichtungs-Auftrag. 60 Kirchenbauten wurden in der Folge im deutschen Osten gesprengt oder abgerissen, allein 17 in Berlin. Blödsinn, Herr Ulbricht: Diese Kirchen brauchen wir sehr wohl. Selbst wenn uns der Weihrauch die Nasen verklebt und die Sprechweise und Inhalte der Geistlichen uns fremd erscheinen: Werden wir etwa nicht berührt von der magischen Stimmung in diesen alten Mauern? Auch wenn wir nicht gläubig sind: Ginge nicht unseren Dörfern ohne Kirchen der Mittelpunkt verloren? Feuerwehrhäuser sind, glaube ich, kein gleichwertiger Ersatz. "Wo Gott eine Kirche baut, da baut der Teufel eine Kapelle daneben", hat Martin Luther gewütet. Das ist auch vorbei: Die meisten Dorfkneipen sind ja schon vor den Kirchen dicht.

Als 2016 aus dem Glockenturm von St. Michael in Bad Orb Betonbrocken zu Boden krachten, schien das Schicksal der gut 50 Jahre zuvor eingeweihten Kirche besiegelt. Erst im Herbst 2023 konnten die Kirchen-Oberen verkünden, was aus dem Gebäude wird: eine "Boulder-Church". Im größeren Teil des Hauses klettern schwindelfreie Sportler an Betonwänden aufwärts, im Rest bleiben Kapelle und Sakristei erhalten für geschrumpfte Gottesdienste. Gut so! In Haueda, einem Ortsteil von Liebenau, war ein idyllisch mitten in der Natur gelegenes Kirchlein vom Untergang bedroht. Heute grüßen die neuen Eigentümer auf ihrer Webseite: "Willkommen in der 1. Ginkirche Deutschlands." In den Sommermonaten ist die "St. Albert Distillery" von Sonnenschirmen umzingelt, der Gin aus eigener Herstellung zieht seinen Geschmack aus "heimischen Wacholderbeeren".

Noch ein Versuch mit einer Kirche, der das Kirchliche verloren gegangen ist: St. Martini im ostwestfälischen Bielefeld. "Glückundseligkeit" heißt sie heute, hier gibt’s was zu futtern. Da macht die Bezeichnung "Feinschmecker-Tempel" mal echt Sinn. In den 1897 im neugotischen Stil errichteten Bau aus roten Backsteinen wurde eine 18 Meter lange Bar geschoben, Reihe an Reihe weiß gedeckter Tische schieben sich bis hinauf in den einstigen Altar-Raum. "Essen wie Gott in Bielefeld" haben irgendwelche Podcaster gesimpelt. Bleibt einem nicht das Chateaubriand (600 Gramm, 139 Euro) im Halse stecken, wenn man sich beim Dinner von Original-Kirchenfenstern mit Bibel-Motiven bestrahlen lässt? Keine Ahnung. Wir haben lieber draußen gespeist.

Beim Thema Kirche und Glauben werden selbst knackharte Rocker pudding-weich. Hören Sie selbst!

Tasha Cobbs Leonard, John Legend: Church. https://www.youtube.com/watch?v=Wy-hJ0V7v2U

Hozier: Take Me To Church. https://www.youtube.com/watch?v=PVjiKRfKpPI

Jelly Roll: Church. https://www.youtube.com/watch?v=mc0f3EznaYE

Bruce Springsteen: God Sent You. https://www.youtube.com/watch?v=D2ijaRzWZkE&list=RDD2ijaRzWZkE&start_radio=1

Bruce Springsteen: Faithless. https://www.youtube.com/watch?v=k93-4AyJR5ohttps://www.youtube.com/watch?v=04v-SdKeEpE&list=RD04v- SdKeEpE&start_radio=1

Johnny Cash: Life’s Railway To Heaven. https://www.youtube.com/watch?v=UKoIuz71hbg&list=PLF4A52232025022E9

Johnny Cash: Amazing Grace. https://www.youtube.com/watch?v=9p_K0o2Oclg&list=PLF4A52232025022E9&index=3

Doobie Brothers: Jesus Is Just Alright with Me. https://www.youtube.com/watch?v=JEvy8mROAj0

Genesis: Jesus He Knows Me. https://www.youtube.com/watch?v=35K6vQRt67g

Bob Dylan: Gates of Eden. https://www.youtube.com/watch?v=r9MXMHzlGIM&list=RDr9MXMHzlGIM&start_radio=1

Beach Boys: God Only Knows. https://www.youtube.com/watch?v=NADx3-qRxek&list=RDNADx3-
qRxek&start_radio=1

George Harrison: My Sweet Lord. https://www.youtube.com/watch?v=04v-SdKeEpE&list=RD04v-
SdKeEpE&start_radio=1

Led Zeppelin: Stairway To Heaven. https://www.youtube.com/watch?v=QkF3oxziUI4&list=RDQkF3oxziUI4&start_radio=1

Leonard Cohen: Hallelujah – live in London. https://www.youtube.com/watch?v=YrLk4vdY28Q&list=RDYrLk4vdY28Q&start_radio=1 (Rainer M. Gefeller)+++

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