Echt jetzt! (38)

Von Halbgöttern und Kassenpatienten - Bemerkungen von R. M. Gefeller

Von Halbgöttern und Kassenpatienten - Bemerkungen von R. M. Gefeller
Symbolfoto: ON

03.01.2025 / FULDA - Gesundes neues Jahr, wie geht’s Ihnen? Alles fit? Oder sind Sie just über die Feiertage von Krankheiten, Schmerzen oder kleineren Wehwehchen überfallen worden? Macht nichts, wofür gibt’s denn unsere verehrten Heilsbringer, die Ärzte? Rufen wir doch einfach mal an... Okay, das war ein schlechter Witz. Auf uns wartet die Warteschleife. Die heißt bekanntlich so, weil sie die Nerven-Enden der Anrufer abschleift.


Wie sollen wir Termine vereinbaren, wenn niemand mit uns spricht? Die Warteschleife macht freilich keinen Unterschied zwischen Kassenpatienten und privat Versicherten – der kommt erst an Licht, wenn wir mal durchkommen. Gerade wird wieder erbittert darüber gefochten, wie stark die gesetzlich versicherte Mehrheit gegenüber den paar Privados benachteiligt wird. Im Catch-Ring des Gesundheitssystems treffen sich: echte Ärzte, halbe Götter und deren Funktionäre, Versicherungsvertreter, Politiker, Wissenschaftler. Mitten im Getümmel der unvermeidbare Karl Lauterbach, Gesundheitsminister mit Professorentitel. Wir Patienten schauen einfach nur zu. Wie immer.

Kommen wir erstmal in Stimmung mit einer Phantasie, die Ephraim Kishon 1978 aufgeschrieben hat:

In einem Spital litt ein Mann nach einer komplizierten Magenoperation unter grausamen Hungerqualen. Es wurde beschlossen, ihm mittels Hypnose zu helfen.

"Sie essen jetzt eine heiße Kartoffelsuppe, einen großen Teller gute, nahrhafte Kartoffelsuppe!" suggerierte ihm der Arzt.


"Warum können Sie ihm nicht etwas Besseres weismachen?", fragte eine teilnahmsvolle Krankenschwester. "Zum Beispiel Brathuhn mit Reis und gemischtem Salat?"


Der Arzt zuckte die Achseln: "Bedaure. Er ist Kassenpatient."


Wir lernen: Der Kassenpatient war schon vor 50 Jahren Ziel von Spott und Mitgefühl. Gerade eben haben die gesetzlichen Krankenkassen, lautstark unterstützt von Karl Lauterbach, mal wieder zum Generalangriff auf das Gesundheitssystem geblasen. Die Benachteiligung bei der Terminvergabe – aber auch bei kostspieligeren Behandlungsmethoden – müsse schleunigst beendet werden. Wenn es den Ärzten an den Kittel geht, ist Andreas Gassen stets zur Stelle. Er ist Chef und damit Ausputzer der "Kassenärztlichen Bundesvereinigung" (KBV) und hält die Berichte über Termin-Stau für "Blödsinn". Für "viele" Hausarztpraxen gelte das sowieso nicht, und bei Fachärzten müsse man "die Kirche im Dorf lassen".

2020 haben Hessens Grüne 370 Facharzt-Praxen des Landes einem Test unterzogen. Gesetzlich Versicherte mussten demnach durchschnittlich 38 Tage auf ein Rendezvous warten. Bei privat Versicherten ging es sehr viel flotter: durchschnittlich elf Tage Wartezeit. Am längsten mussten laut Grünen-Test die Kassenpatienten in Fulda ausharren (41 Tage länger als die Privaten). Immerhin: in bis zu 30 Prozent der Facharzt-Praxen gab es keine Unterschiede bei den Versicherungsarten.

Wem haben wir die gesetzliche Krankenversicherung überhaupt zu verdanken? Den Bayern, natürlich, die bereits 1869 die "gemeindliche Krankenpflegeversicherung" einführten. Die Süddeutschen waren also schneller als der "Eiserne Kanzler", Otto von Bismarck. Um die Arbeiter auf seine Seite zu ziehen, setzte er 1883 Europas fortschrittlichstes System der Sozialversicherungen im gesamten Kaiserreich durch. Alle Krankenversicherten, ließ er damals verfügen, "haben grundsätzlich den gleichen Leistungsanspruch". Bismarck selbst war ein fettleibiger Patient, spachtelte zum späten Frühstück schon mal Roastbeef und Beefsteak, dazu Wildbret, Kaviar, Hering und Geflügel vorm abschließenden Pudding; alles zusammen heruntergespült mit Bier, Rotwein und Champagner. Gegen Abend vertilgte der 124 Kilo schwere Mann gern ein weiteres Sechs-Gänge-Menü. 1872 bereits, 26 Jahre vor seinem Ableben, klagte der "Eiserne": "Mein Öl ist verbraucht, ich kann nicht mehr." 1883, im Jahr der Sozialversicherungen, war Bismarck nur noch zwei Stunden am Tag arbeitsfähig. Abhilfe schuf ein neuer Leibarzt: Ernst Schweninger schaffte es, den mächtigen Mann von seiner Diät-Kur zu überzeugen – nach einem Jahr bereits hatte er den Koloss auf Normalmaß geschrumpft. Ja, solche ärztlichen Helden-Geschichten gab und gibt es auch!

"Oh Doktor, bitte hilf mir, ich bin kaputt.

Da ist ein Schmerz, wo früher mein Herz war."

1968 sangen die Rolling Stones ihr Klagelied an den "lieben Doktor". Wenn uns die Angst in die Gebeine fährt, dann suchen wir Rettung in der Medizin. Wann immer man was Kluges zu sagen sucht, zitiert man gern Homer, den berühmtesten Dichter der Antike. Dabei ist unter Historikern nicht mal gewiss, wann der alte Grieche gelebt hat – und ob überhaupt. Manchmal findet man auch Naives in seinem Zitaten-Schatz, zum Beispiel das hier: "Der Arzt aber sei der edelste unter den Männern." Da haben wir aber schon ganz andere Dinge gelesen, zum Beispiel in Sachen Finanz-Tüchtigkeit. "Du sollst den Arzt nicht vor der Rechnung loben", lautet ein Kalenderspruch. Ein anderer: "Süßigkeiten sind die Bausteine von Zahnarztvillen." Sehr nett ist auch die Spitze des Immunbiologen Gerhard Uhlenbruck: "Ein Chefarzt ist eine persona non gratis." Wieso diese Häme über unsere Doktoren?

Vielleicht liegt es einfach daran, dass der sowieso verängstigte Mensch sich seiner Selbstbestimmung beraubt fühlt, sobald er eine Arztpraxis betritt. Das war schon so, bevor es Callcenter und Warteschleifen und Krankenkassen gab. Vielleicht ist heute alles einfach perfekter geworden, nicht nur im Guten. Im Sommer 2009 kam Sandra Maischberger in einer Reportage zu der Einschätzung, die deutsche Zwei-Klassen-Medizin sei ein "Unrechtssystem". Karl Lauterbach, damals noch einfacher SPD-Gesundheitsexperte, klärte Frau Maischberger auf: "Der Fehler im System sei, dass die einflussreichsten Menschen im Land – Politiker, Professoren und Richter – privat versichert seien. Mit denen ließe sich nun mal keine Veränderung herbeiführen."

Wer der Termin-Falle entgehen will, kann sich freikaufen. Im Februar 2016 bereits beschrieb die "Welt", wie das funktioniert: Beim Test-Anruf in einer Praxis wurde dem Kassenpatienten angeraten, am ersten Tag des Folgemonats anzurufen, "da gibt es Terminvergaben für Kassenpatienten". Wartezeit ab dann: acht Wochen. Oder man zahlt selbst, "da könnte ich einen Termin in der kommenden Woche anbieten". Kostenpunkt: 150 Euro. Das gibt’s auch hier in Fulda: Kurz vor Weihnachten geriet eine gesetzlich versicherte ältere Dame in Not, plötzlich war sie auf beiden Ohren taub. Akute Hilfe wurde ihr in der Facharzt-Praxis versagt, "Termine gibt es erst im neuen Jahr", Ende Januar. Es sei denn... Gleich am nächsten Tag fand sich unversehens eine Termin-Lücke, weil sie die Rechnung privat bezahlte – mit dem bei Privatpatienten üblichen Aufschlag. Simone Kneer-Weidenhammer, Anwältin für Medizinrecht, erklärt uns: "Ungesetzlich sind Selbstzahler-Termine dann, wenn der Arzt damit eine Notlage der Patienten ausnutzt."

1931 gab es in Deutschland noch 6985 Krankenkassen. 1993 waren es 1367, zum 1. Januar 2019 wurden noch 109 Krankenkassen registriert. Fast 90 Prozent der Bundesbürger sind Kassenpatienten. 2018 hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa die "Kassis" befragt, was sie vom deutschen Gesundheitssystem halten. Das Ergebnis: 85 Prozent von ihnen sind zufrieden. Fast alle Kassenpatienten (96 Prozent), die in den zwei Jahren vor der Befragung einen Hausarzt aufgesucht hatten, äußerten sich "sehr zufrieden". 88 Prozent sagten dasselbe über ihre Facharzt-Behandlungen. Auf dem Land allerdings war jeder vierte unzufrieden mit der medizinischen Versorgung. Und jeder dritte urteilte negativ über die Terminvergabe bei Fachärzten.

Insgesamt jedenfalls steht es gar nicht schlecht um das Ansehen der rund 420.000 Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. Daran ändern auch Schlagzeilen über Korruption, Betrüger im Weißkittel und menschenverachtende Medizinmänner nichts. 2005 enthüllte Panorama, wie manche Ärzte sich über Kassenpatienten äußern – mal als "schmarotzendes Gesocks", mal als "Kassenzecken". Diese zügellose Wut mag mitunter in Wahrheit dem molochartigen Gesundheitssystem gelten. Während für Privatpatienten fast jede Behandlungsform bezahlt wird (zu einem höheren Erstattungsgrad), beschneiden die gesetzlichen Krankenkassen die ärztliche Hilfe für Normal-Patienten durch ein Budgetierungssystem. Ob ein Kranker einmal oder zehnmal im Quartal Hilfe braucht, ist egal – die Praxis verdient keinen Cent mehr an ihm. Das ist vor allem bei chronisch Kranken ein Problem, "die lohnen sich nicht", sagt ein Hausarzt.

Aber natürlich haben sich auch Sonder-Existenzen den Arztkittel übergestreift, die lieber in einer Wurstfabrik oder esoterischen Buchhandlung wirken sollten. Corona-Leugner, Spiritualisten, Impfgegner, Größenwahnsinnige, Kurpfuscher, Geldgeier... Tun die Ärzteverbände genug gegen die verirrten Doktoren in den eigenen Reihen? Betreten wir zum Schluss eine sehr spezielle Praxis in Fulda. Dort wird man ruckzuck hundert Jahre zurückversetzt in eine verstaubte Amtsstube. In den Behandlungszimmern stehen zwischen Doc und hilfesuchendem Kunden eingerahmte "Regeln". Regel Nummer 1: "Der Patient spricht nur, wenn er gefragt wird." Jawoll, wird gemacht, Herrin! Es ist Corona-Zeit, die Ärztin nuschelt irgendwas durch ihre Maske; wir fragen: wie bitte? Sie antwortet, dieses Mal klar: "Wenn Sie nichts verstehen können, gehen Sie erstmal zum Ohrenarzt, bevor wir die Behandlung fortsetzen!" Wie sprach Gerhard Kocher, der Schweizer Gesundheitsökonom, über die Menschengattung Arzt: "Seine Bescheidenheit zeigt sich daran, dass er sich nur als Halbgott fühlt."

Vielleicht möchten Sie sich musikalisch auf den nächsten Arztbesuch einstimmen? Hier sind die Rolling Stones: https://www.youtube.com/watch?v=D8Ci47X96H0

Oder wie wär’s mit einem Liebesschmerz-Song von Udo Lindenberg? Der war in den 90ern auch unter Fuldaer Kardiologen ein Hit, schon wegen des Titels: "Ein Herz kann man nicht reparieren": https://www.youtube.com/watch?v=DZgTN-yjVyg (Rainer M. Gefeller) +++

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