Echt jetzt! (72)

Nicht schlecht, Herr Specht - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Ein Buntspecht in Aktion.
Fotos: Loimo auf Wikimedia

29.08.2025 / REGION - Der Specht hat echt ´ne Meise. Hat der etwa nichts Besseres zu tun als immer und immer wieder auf Bäumen rumzuhacken, in manchen Lebensphasen 12.000 Mal am Tag? Was ist in den gefahren? Der hat doch sicher Migräne oder wenigstens Schädelbrummen?

Ach, seien wir nicht so schnellfertig. Gevatter Specht ist ein Vorbild für die schlauesten Denksportler unserer Erdkugel. Ein Hippie, bunt wie die einst so beliebten Schlabberhosen. Ein Held für Außenseiter und Schlagzeuger. Vor allem aber hackt er wie ein Wilder, weil er Hunger hat. Und weil er sich nach Liebe sehnt.

Vielleicht hatte der Klopf-Vogel seine ganz große Zeit in den 60er und 70er Jahren. Woodpecker, so wurde Bernard Mickey Wrangle genannt. Auf deutsch: Specht. Weshalb der Hippie-Schriftsteller Tom Robbins seine Zentral-Figur im Roman "Still Life With Woodpecker" nach unserem Vogel benannte, hat er nie offenbart. Wahrscheinlich wegen des Krachs. Woodpecker hatte Spaß am Krach, aber ein wenig Rumhämmern im Wald reichte ihm nicht. Es mussten schon Explosionen sein. Das brachte ihn in diesem Achterbahn-Roman hinter Gitter.

Seine Bücher, hat Robbins gesagt, seien "Stimmungsfahrstühle, intellektuelle Garagentüröffner und metaphysische Müllschlucker". Als er 30 war, in den 60ern, lebte Robbins in Haight/Ashbury, "dem Disneyland der Hippiebewegung". Ein Hauch von Haschisch weht durch diese Bücher; Robbins wurde zum Helden vieler Aussteiger. Hip sein wollten damals viele. Weg von der wohlgeordneten Wohlstandsgesellschaft. Sie predigten Friede, freie Liebe, ewige Jugend, und sie schufen sich ein Parallel-Universum. Für das Bürgertum waren die Hippies arbeitsscheue, langhaarige, kiffende "Gammler". Aber es gibt sie immer noch: alle Jahre wieder zu bestaunen beim größten und ältesten Hippie-Festival Europas, auf der Burg-Herzberg.

1974 schrieb Bob Dylan sein "Forever Young", eine Hymne nicht nur für Hippies. Eine Textprobe:

"Möge Gott Dich segnen und behüten,
Mögen Deine Wünsche in Erfüllung gehen
Mögest Du eine Leiter zu den Sternen bauen
Und jede Sprosse aufwärtssteigen.

Mögest Du für immer jung bleiben.
Mögest Du für immer jung bleiben!"

Tom Robbins konnte das noch kürzer ausdrücken. In seinem erst 1980 erschienenen "Buntspecht" klingt das so: "Es ist niemals zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben."

Ist der Specht nicht tatsächlich wie ein entfesseltes Kleinkind, das mit allem, was ihm in die Patschhändchen gerät, verzückt herumtrommelt? Mit Legosteinen, Messer und Gabel, Spielzeugautos, Schraubenziehern. Hauptsache, es macht Krach und bringt die Erwachsenen auf die Palme. Den Specht hingegen hören wir recht gern, jedenfalls momentan. Derzeit ist er nämlich zurückhaltend. Ein wenig Tok Tok Tok; da hat jemand Hunger und puhlt sich ein paar Würmer aus den Baumlöchern. Zwischendurch kann er sogar zwitschern; Vogelkundler haben herausgehört, wie das klingt: Spechte "schnurren, dröhnen, knarren, schnarren, rufen Pick Pick oder Kik Kik oder auch Käck Käck Käck." Aber warten wir mal, bis der Spätwinter da ist. Dann geht es um Sex und um Abschreckung, dann schlägt der liebestolle Kerl mit dem Meißel im Gesicht bis zu 20mal in der Sekunde zu. Normale Bäume reichen da nicht. Dürres Geäst ist zum Einstieg schon ganz nett, diese "Klang-Äste" machen jedenfalls mehr Alarm als die dumpfen Stämme. Aber noch besser klingen natürlich Laternenmasten, Dachbleche, Aluleitern. Alles, was das Weibchen anlockt und den Konkurrenten signalisiert: bleib lieber weg, sonst hau ich dir auch einen rein. Das Schnabel-Stakkato kann bis April dauern. Wer jetzt im Spätsommer noch weiterhackt, ist ein verzweifelter Junggeselle. Der Ärmste hat kein Weibchen abgekriegt.

Der Buntspecht unter den Rockmusikern heißt Ron Bushy. Der polterte sich 1968 durch ein hemmungsloses Herumgeklopfe auf seinem Schlagzeug in die Musikgeschichte. Zwei Minuten und 52 Sekunden lang bearbeitete er die Trommeln und Bleche – es war das erste echte Schlagzeug-Solo des Rock’n’Roll, mitten in dem 17 Minuten langen Klassiker "In-A-Gadda-Da-Vida" von Iron Butterfly. Immerhin musste Mr. Bushy nicht seinen Kopf aufs Schlagzeug schmettern. Laut dem Fachblatt "Nature" haut der Specht mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h aufs Holz. Beim Aufprall muss der kleine Schädel eine Verzögerung aushalten, die mehrere hundert Mal größer ist als das, was Astronauten bei der Landung aus dem All ertragen müssen. Und das alles ohne Kopfschmerzen: sein Gehirn sitzt starr im Schädel, wodurch der kleine Denkapparat beim Hämmern nicht hin und her geschleudert wird. Muskeln dienen dem Kopf als Stoßdämpfer, sie fangen die Aufprall-Energie ab. Eine Millisekunde vorm Schlag aufs Holz knipst der Specht die Augen zu. Damit ihm keine Holzspäne in die Pupillen fliegen. Vielen Unfallforschern ist der Baum-Trommler immer noch ein Rätsel. Hundertausende Menschen werden jedes Jahr mit Kopfverletzungen in Kliniken eingewiesen, tausende sterben. Wie kann es sein, dass dieser kleine Vogelkopf Schläge verkraftet, die dem Tausendfachen der Erdbeschleunigung entsprechen? Kann der Specht dabei helfen, den perfekten Fahrrad-Helm zu konstruieren? Woody Allen amüsiert sich: "Der Specht verdankt seinen Erfolg der Tatsache, dass er seinen Kopf benutzt."

Für seine Nester braucht der Specht mürbe alte Bäume. Da es davon in den Städten immer weniger gibt, klopft er sich seine Höhlen auch gern in Häuser-Fassaden. Die Eingänge zu den Nesthöhlen sind nicht größer als 50 Millimeter – das reicht für den Buntspecht, der noch kleiner ist als eine Amsel. Hat der Specht erstmal eine lohnende Hausfassade erobert, kann er die Wärmedämmung geradezu perforieren. In winzigen Schraublöchern versteckt sich zudem Beute. Hausbesitzer sollten schnell handeln und Spechtlöcher verschließen. Sonst nutzen Meisen, Mauersegler, Sperlinge und sogar Eichhörnchen die Wand-Eingänge als Unterschlupf.

Die Zunge ist gleichfalls ein Meisterwerk: Lang, dünn und borstig, mit kurzen, steifen Stacheln. Die wirken, schrieb Alfred Brehm, wie Widerhaken an einer Pfeilspitze. "Die Zunge dringt vermöge ihrer Fadenartigkeit in alle Löcher und vermag, dank ihrer allseitigen Beweglichkeit, jeder Biegung der ausgehöhlten Gänge zu folgen." Der Specht futtert Insekten und Insektenlarven, Käfer, Spinnen, Eier und manchmal sogar Jungvögel. Statt Beilagen-Salat kommen Kiefern- und Fichtensamen sowie Haselnüsse in den Magen. Kollege Grünspecht, meldet ein Südtiroler Jagdportal, futtert bis zu 2.000 Ameisen am Tag. Zu den Leibspeisen unseres bunten Vogels zählt außerdem der größte Schädling unserer Wälder. Wenn "der verderbliche Borkenkäfer sich übermäßig vermehrt" (Brehm), schwingt sich der Specht zur Höchstform auf. Dann strömen die Klopf-Vögel "aus allen Seiten in den heimgesuchten Wald, um unter der verderblichen Brut aufzuräumen". Brehm fordert "Schutz und Geleit für diesen nützlichsten und wichtigsten aller unserer Waldhüter." Der Appell scheint nicht viel genützt zu haben. Vor allem der scheußliche "Große Achtzähnige Fichtenborkenkäfer" vernichtet Hektar um Hektar unser Fichtenwälder. Wie soll sich der kleine Specht diesen Millionenheeren entgegenstemmen?

2018 haben zwei schwedische Schach-Großmeister den Specht zum Vorbild für Geistes-Sportler entdeckt. In ihrem Lehrbuch für die elitäre Schach-Gemeinde haben Hans Christian Tikkanen und Axel Ragner Smith die "Woodpecker-Methode" zum Erfolgsrezept ernannt. Wer ganz oben mitmischen will bei den intellektuellen Brettspielern, muss demnach taktische Aufgaben immer und immer wieder trainieren und dabei fortwährend das Tempo erhöhen. So lange, bis selbst die raffiniertesten Züge automatisch, blitzfix und ohne weiteres Nachdenken funktionieren. Die Schachwelt ist ganz hin und weg von dieser Trainings-Methode, die das beharrliche Hämmern des Spechts nachahmt. Für Handwerker, Mathematiker und Latein-Schüler ist das freilich Schnee von gestern. Nennt man diese Specht-Methode nicht einfach Üben, Üben, Üben?

Unser Specht ist echt bunt. Schwarzer Rücken, weißer Bauch – und dazwischen weiße Rallye-Streifen, weiße Flecken auf schwarzen Flügeln, scharlachrote Schwanzfedern, braunrote Augen, bleifarbener Schnabel, grüngraue Füße. Herr Specht hat zudem einen roten Fleck am Hinterkopf, der sich manchmal zu einer punkigen Frisur auswächst. Bis zu zehn Jahre alt wird unser Vogel und bleibt meistens seiner Heimat treu. Auf dem Boden hat er nur selten was zu suchen; da torkelt der Specht umher wie ein zu fett gemästeter Mops. Lieber gleitet der elegante Flieger durch die Luft wie beim Wellenreiten. Und noch lieber führt er ein Leben in der Senkrechten. Seine Zehen sind wie Steigeisen, der Stützschwanz hält den Vogel selbst an glatten Hausfassaden in der Wucht. Nachts ruht er in einer der Höhlen, die er sich tagsüber zurechtmeißelt. Man kann ja nie genügend Immobilien besitzen; Specht-Weibchen sind wählerisch. Nur bei der Inneneinrichtung ist das Paar etwas schlampig. Einige Holzspäne als Nest, das muss reichen. Drei bis acht Eier legt Mutti Specht, nach 14 Tagen spätestens wird die Schale von innen geknackt. Zum Vorschein kommen "überaus hässliche Geschöpfe", ereifert sich Herr Brehm. Macht nichts, im Alter wird man halt immer schöner.

Wie wär’s zum Schluss mit einem Ausflug nach Rockport (Massachusetts)? Dort sind Autobesitzer vor drei Monaten dazu übergegangen, ihre Außenspiegel mit Tüten abzudecken. Eine Schutzmaßnahme gegen "Rocky", den Specht. Der schräge Vogel attackiert Autospiegel. Mit wütenden Schnabelhieben hackt er auf sie ein, bis sie abknicken. "Der hält den Typen im Spiegel für einen Widersacher", analysiert ein Ornithologe im fernen New York. "Wilde Frisur, übertriebenes Männlichkeitsgehabe und ordentlich Lärm" – so beschreibt eine in München beheimatete Zeitung den Spiegel-Killer. TsTsTs. Die Süddeutsche kann sich’s echt nicht verkneifen, selbst bei einer solch harmlosen Tier-Story dem Chef im Weißen Haus eins reinzureiben. Macht man denn sowas?

So tönt der Buntspecht: https://www.youtube.com/shorts/EDhtT6TV8z0
Und so tönt Bob Dylan mit seinem "Forever Young": https://www.youtube.com/watch?v=Frj2CLGldC4
Für alle, die etwas Zeit haben: In-A-Gadda-Da-Vida: https://www.youtube.com/watch?v=UIVe-rZBcm4 . (Rainer M. Gefeller) +++



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