Echt jetzt! (84)

Was die Karten verraten - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Kartenlegen, und seine weitreichenden Facetten.
Fotos: Annemaria Gefeller

21.11.2025 / REGION - "Wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her." Herrschaften, das müssen Sie doch auch schon mal irgendwo gelesen haben. Was soll ich sagen: Rainer M. Rilke hatte recht, als ihm dieser Reim einfiel. Der Depri-Monat November ist noch gar nicht zu Ende, da werde ich plötzlich mit kosmischen Glücks-Botschaften bestrahlt: Ich bin pumperl-gesund. Der Erfolg klebt an mir wie Pattex. Und Kinder, Frau und Hund haben eine glückliche Zukunft. Woher ich das weiß? Eine Frau aus Fulda hat mir die Karten gelegt. Was, wie, wird das aufgeweckte Publikum sich entrüsten – ist der Mann jetzt vollends durchgeknallt? Ach, bleiben Sie gelassen. Für ein paar Sätze mit guten Nachrichten können wir uns doch mal anhören, was die Kartenlegerin zu sagen hat. Gleich nachher wird uns Frau Daubner in der Tagesschau wieder ihre bedrohliche, vergiftete Welt servieren. Da ist ein Rendezvous mit der Magie doch irgendwie eine schöne Ablenkung.



Eigentlich habe ich mir mehr Brimborium erhofft. Stattdessen: keine Glaskugel, keine Räucherstäbchen, kein aufwändig bestickter Kapuzen-Umhang. Vor mir hockt eine Frau in dezentem Schwarz. Hat die Frau denn gar kein magisches Accessoire? Ah doch, da – um den Hals trägt sie ein "Orgonit-Amulett" mitsamt einem schwarzen Turmalin. Der gilt unter Kundigen als höchster Schutzstein gegen alles, was von außen angreifen kann. Vor was ist ihr bange? Auf dem Tisch liegen ein paar Schachteln mit Karten, ein Notizblock. Erstmal gibt’s ein paar Hinweise: "Hast du die Füße nebeneinander? Du mischst die Karten.

Wir legen fest: der Herr im Kartenbild bist du. Die Dame im Kartenbild ist Deine Dame." Wachsam schaue ich ihr zu. Sie verteilt 36 Karten, sechs in einer Reihe. "Meine Dame" liegt neben mir. "Das ist schonmal cool", sagt die Kartenlegerin. Wer beisammen liegt, ist einander vielleicht auch im echten Leben gewogen. Ihren Namen will Frau X aus FD nicht veröffentlicht sehen. Ihr Geld verdient sie in einem normalen Beruf, das hier ist ihre Leidenschaft – nur für Freunde, übrigens. Wie ist sie in diese Welt geraten? Genetisch, könnte man denken. Ihre Oma hat sie schon gehabt, "diese Gabe". Ihr Vater ebenfalls. Er ließ aber die Handleserei bleiben, weil sich seine Kumpels andauernd über ihn belustigt haben. Sie hat, erzählt sie, schon als 12-Jährige im Freundeskreis deren Schicksal betrachtet. Das war wie eine Psychotherapie unter Jugendlichen. "Wenn die weggingen, haben sie sich häufig besser gefühlt." "Warum hast du das nicht als Gewerbe angemeldet?" "Das Kartenlegen ist meine Passion, mein Erbe. Ich will das nicht als Business betreiben."

Was haben sich die Menschen nicht alles einfallen lassen, um die Zukunft vorherzusagen. Mal stocherten sie in den Eingeweiden von Opfertieren umher, um die Frage aller Fragen zu klären: Gibt’s Krieg oder bleibt es friedlich? Alles wurde als Zukunfts-Signal verwertet. Wie quaken die Tiere? Wie fliegen die Vögel? Wie funkeln die Sterne? "Wenn der Mond den Planeten Jupiter verdunkelt, wird in diesem Jahr ein König sterben." Auch für die antiken Griechen war alles vorherbestimmt, selbst Platon war ein Fan der Wahrsagerei. Im Mittelalter sicherten sich Fürsten und Bischöfe die Dienste der besonders angesagten Zukunfts-Seher, Hexen wurden auch gern um Rat gefragt. Beim "Eierorakel" wurden Knochen, Würfel und Eier zusammengeworfen, daraus konnte man dann allerlei ablesen. Das Kartenlegen freilich wurde erst im 18. Jahrhundert populär.

Selbst die DDR, wo doch alles so ordentlich zuging wie bei den Sieben Zwergen, wurde unterwandert von den Hellsichtigen. Wem sollte man auch trauen? Dem "Neuen Deutschland"? Ganz bestimmt waren die Kartenmischer schuld an der massenhaften Republikflucht. Zum Beispiel Charlotte Marquardt aus Suhl. Gerichtsverhandlung am 16. April 1956, Bezirksgericht Meiningen. Die damals 53-Jährige war angeklagt, zwischen 1951 und 1955 "18 erwachsene Personen mit ihren Familien" veranlasst zu haben, aus dem Arbeiter- und Bauernparadies "rüberzumachen" in den deutschen Westen. Wie sie das geschafft hat? Durchs Kartenlegen. Ein eindeutiger Verstoß gegen Artikel 6, "Abwerbung durch Boykott- und Kriegshetze". Frau Marquardt wurde von einem Richter namens Kraupe zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck saß die Karten-Verbrecherin (Häftlingsnummer 1758/56), bis sie nur noch ein körperliches Wrack war. Ihre Freilassung 1963 schien den Behörden recht risikofrei, weil die Grenzanlagen zwischen Thüringen und dem Westen inzwischen tiptop waren. Charlotte Marquardt starb 1975 in Suhl an Schilddrüsenkrebs.

Beim Kartenlegen hat jede Karte ihre spezielle Bedeutung. Wichtig ist aber auch, an welcher Stelle sie in dem Karten-Tableau liegt. Und welche Karten um sie herum verteilt sind. Anscheinend haben meine Finger dem Kartenstapel eine optimale Mischung verpasst. Da liegen sie um mich rum: Die Fisch-Karte, die gleich das Wichtigste in sich vereinigt: Gefühle, Geld, Spiritualität, Seele. Der Mond, der für Melancholie zuständig ist. Der Baum (Stärke, Gesundheit, Geduld). Die Blumen, "höchste Glücks-Karte", liegen gleich neben mir. "Das Schicksal ist dir sehr gewogen", sagt die Reiseleiterin in mein Innenleben. Und dann ist da sogar der Hund, "Familienmitglied", "Seelentier". Tja, da muss mancher sicher lange mischen, bis er so ein Kartenbild gelegt bekommt. Und was bedeutet das jetzt konkret? Psst: das weiß der Himmel. Und die Kartenlegerin. Und ich.

Der Star der Kartenleger-Branche heißt Marie-Anne Adélaide Lenormand (1772 bis 1843). Sie war erst neun Jahre alt, als sie auf ihrer Klosterschule die Absetzung der Äbtissin prophezeit haben soll. Die Ober-Schwester wurde tatsächlich entlassen; die Verkünderin der schlechten Nachricht musste natürlich gleichfalls weg. Ihr wildes Leben zwischen professioneller Vorhersage-Kunst und Verhaftungen wegen Hochverrats und Hexerei bescherte ihr eine geschäftsfördernde Berühmtheit. Alexander I., Kaiser von Russland, und Frankreichs Kaiserin Josephine trauten den von ihr gelegten Karten. "Lenormandkarten" sind für viele Kartenleger noch heute das Maß aller Dinge.

Im Frühjahr 2006 entdeckte der Spiegel eine Invasion ganz spezieller Zukunfts-Forscher im deutschen Fernsehen: Astrologen, Hellseher, Kartenleser drängten sich vor die Kameras. Das Hamburger Magazin belustigte sich zum Beispiel über eine Annita, die sich auf "Astro TV" als "original indianische Schamanin" ausgab; der rheinische Dialekt störte die Kundschaft nicht die Bohne. "Ob der Mann erkrankt oder der Hund entlaufen ist, ob die Schwiegertochter trotz Entziehungskur weitersäuft – bei Annita wird alles gut, für 49 Cent pro Anruf." Annita war Mitarbeiterin bei Questico, einem Esoterik-Moloch, der den Hilfesuchenden das Schwarze vom Himmel rosafarben anpinselt. Chef war damals noch Sylvius Bardt, Mitgründer des Hellseher-Konzerns, der in seinem früheren Leben Suppen verkauft hatte. Astro TV blieb 20 Jahre lang auf Sendung; seit Ende 2024 machen sich die mindestens 2,500 "Lebensberater" nur noch im Internet breit und breiter. Da ist entschieden mehr Geld zu holen: zwischen 1,99 und 5,00 Euro pro Minute.

Angela ist ein Multitalent, bietet aber auch "hellsichtiges Kartenlegen" mit Hilfe ihrer "sehr alten Lenormand-Karten". Außerdem verhökert sie "Engelessenz", "persönlich hergestellt". Was ist das denn, kann man das trinken? Vielleicht besser nicht. Auf der Einstiegsseite bietet Frau Angelas Arbeitgeber den Besuchern eine blaue Schaltfläche: "Unsere Berater anzeigen". Haha, guter Tipp – aber wir sind ja keine Prozess-Hansel. Als Fachkräfte für "Tarot und Kartenlegen" bieten sich heute früh bei Questico 631 Gestalten an. "Hellsichtig" sind sie alle, die Sternenkrieger, manche gehen überdies "mit reiner Christusenergie" ans Werk oder "nach alter russischer Art", als "Engelmedium" oder sogar "Erzengelmedium", ganz bestimmt aber mit "Engelkontakten". Schön, dass die Deutungs-Hoheiten im Foto gezeigt werden. Da kann jeder erstmal entscheiden, ob er sich von dieser Person echt einen Gebrauchtwagen aufschwätzen lassen würde. Richtig heiter wird uns, wenn eine faltenreiche betagte Lady im gelben Fummel mit rauer Computer-Stimme verkündet, dass noch im November der Tag der Tage auf uns wartet. Ab dann werden wir uns niemals wieder "über finanzielle Schwierigkeiten" beschweren. Aber wehe, wir klicken gleich weiter – dann mag das Unheil uns verschlingen. Reich oder arm dran? Das ist jetzt unsere Entscheidung...

Kartenlegen ist nicht verboten. Vor 60 Jahren verfügte das Bundesverwaltungsgericht, dass "Wahrsager" nicht von der Berufsfreiheit ausgeschlossen werden dürften. Im Unterschied zu "Berufsverbrechern" und all jenen, die "der Gewerbsunzucht" nachgingen. Ob es sich bei der Zukunfts-Schau um Hokuspokus handelt oder nicht, das müsse schon jeder selbst rausfinden. Zur Not kann man ja die Gerichte bemühen. Zum Beispiel, wenn man sich über den Tisch gezogen fühlt. So wie jener Unternehmer, dem die Lebensabschnittsgefährtin abhandengekommen war. 2008 zahlte der schwerstens Verknallte 35.000 Euro an eine Kartenlegerin, die ihm dafür eine Wiedervereinigung verheißen hatte. Aber die Liebste blieb verschwunden. Reinhold Beckmann klagte 2015, online und im Fernsehen würden labile Menschen in Krisensituationen "systematisch ausgenommen". Und in die Sucht getrieben.

Die Katholische Kirche verfügt in ihrem "Katechismus" von 1997: "Sämtliche Formen der Wahrsagerei sind zu verwerfen." In dramatischen Worten warnt die Kirche vor "Handlungen, von denen man zu Unrecht annimmt, sie könnten die Zukunft ‚entschleiern‘". Das aber könne nur einer: "Gott kann seinen Propheten und Heiligen die Zukunft offenbaren." Die Protestanten sind in der Frage entspannter. Die "Inanspruchnahme von Wahrsagung" sei schließlich "die Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses."

Zum Schluss wollen wir mal testen, ob die Karten auch die ganz große Politik im Blick haben. "Sind die mächtigen Despoten, die derzeit die gesamte Menschheit in Angst und Unruhe versetzen, imstande, unsere Welt zu zerstören?" Das würden wir doch alle gern wissen, oder? Wer gemeint ist, weiß wohl jeder... Die Kartenlegerin schnippt vier Bild-Pappen auf den Tisch und sagt, was sie sieht. Die linke Karte "steht für Gesetze, Androhungen, Befehle. Für alles, was die Despoten bestimmen". Die mittlere Karte: "Die Mäuse fressen sämtlichen Unrat, den die Despoten auf die Welt geschüttet haben." Die rechte Karte, das Kind, "steht für den Neuanfang. Für die Überwindung der dunklen Zeit." Und dann liegt da, über den anderen, die vierte Karte. Die besagt, "dass die Welt noch eine Zeit der Unruhe, der Gefahren hinter sich bringen muss. Dieser traurig blickende Mond, diese düstere Burg sollen zeigen, dass nicht kurzfristig alles wieder gut wird. Aber der Neustart kommt!" Sagt die Kartenlegerin. Das glauben wir ihr unbedingt. Nicht nur, weil demnächst Weihnachten ist...

P.S.: Das kosmische Glück ist echt mein bester Freund. Eben teilt mir Hessen-Lotto mit, dass ich bei 6 aus 49 gewonnen habe: 19 Euro 20. Das sind beinahe vier Becher Bier. Danke, Schicksal!

Ein bisschen Musik muss natürlich auch sein. Hier geht’s los:

Sting, Shape Of My Heart, 1993. Song über einen Mann, der der Magie der Karten verfällt: https://www.youtube.com/watch?v=NlwIDxCjL-8

Zwei glatzköpfige Schnulziers namens Santorinis haben eine hellsichtige Lady besungen. Der Refrain: "Die Kartenlegerin von Santorin, das erste Mal, dass ich voll Hoffnung bin." Die Insel-Bilder sind schön! https://www.youtube.com/watch?v=RKq2tR00SvQ

Robert Schumann: Die Kartenleserin, vorgetragen von Anne Sofie von Otter mit der verheißungsvollen letzten Zeile "Nein, die Karten lügen nicht":

https://www.youtube.com/watch?v=Butz6unJ8Ls

Ouvertüre zur Operette "Die Kartenschlägerin" (später umgetauft in "Pique Dame") von Franz von Suppé: https://www.youtube.com/watch?v=QG2ff9rx0JE&list=RDQG2ff9rx0JE&start_radio=1

Rolling Stones, "Fortune Teller" (auf deutsch: Wahrsager), 1964. Den Song haben viele Rock-Promis eingespielt – Robert Plant, die Hollies, Iggy Pop, The Who: https://www.youtube.com/watch?v=H5Q3IZ0N7QI&list=RDH5Q3IZ0N7QI&start_radio=1(Rainer M. Gefeller). +++

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