Echt jetzt! (71)

Beamte sind auch Menschen! Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Wo die Bürokratie zu Hause ist: Behörden in Fulda und Künzell.
Fotos: Michael Otto

22.08.2025 / REGION - Das schwarze Ledermäppchen ist futsch. Das ist blöd; der Fahrzeugschein und unsere Führerscheine sind damit auch verloren. Nach fruchtlosem Suchen gibt es kein Entrinnen vor der Erkenntnis: wir müssen aufs Amt. Was für ein Schock! Was mag uns da bevorstehen? Jahrzehnte voller Berichte über Beamten-Willkür und Paragraphen-Terror haben sich tief in uns eingegraben; das hat man auch im 25sten Jahr des dritten Jahrtausends noch nicht abgeschüttelt. Und wurde nicht die Bürokratie gerade als größtes Schreckgespenst unserer Gesellschaft ausgerufen? Hilft ja nichts; eine Expedition ins Dschungelreich der Bürokraten ist sowieso überfällig.

Sind Sie eigentlich schon einem echten Bürokratiemonster begegnet? In meinen schlimmsten Alpträumen sehe ich‘s vor mir: ultrabreite Hosenträger, die Hemdsärmel mit Manschettenknöpfen fixiert. Lippen wie Radiergummis, Bürstenfrisur a la Hindenburg, Schwabbelbacken, bösartige Schweinsaugen. Nana, werden jetzt viele von ihnen vor sich hinmurren, jetzt übertreibt er aber wieder. Aber was soll man machen? Sind wir nicht alle Opfer von Romanen, Filmen, Liedern und Witzeerzählern? Das Mutterland aller Beamten-Willkür ist zweifellos Kakanien, wie Scherzbolde die österreichisch-ungarische k. und k.-Monarchie nennen. Schriftsteller wie Robert Musil, Franz Kafka, Joseph Roth und Arthur Schnitzler fanden in den Amtsstuben ihre Lieblingsfeinde. So sahen die Literaten laut der Germanistin Sabine Zelger den typischen Beamten: "Die klassische Beamtenfigur ist männlich und differenziert sich von den Nichtbeamten durch mangelnde Sportlichkeit, funktionalisierte Bewegungen, penible Raum- und Zeitaufteilungen, Vorliebe für ordnende Tätigkeiten sowie Angst vor unvorhersehbaren Ereignissen und Veränderungen." Der Beamte, notiert Zelger, sei "für jeden anderen Beruf völlig ungeeignet." Freilich sei auch der Amtmann ein Mensch – mitunter aber erst dann, "wenn er im Ruhestand oder tot ist."

Zurück zum verlorenen Ledermäppchen. Dienstagmorgen, kurz nach neun, Kreuzbergstraße 42b in Fulda, "Fahrerlaubnisbehörde". Hier gibt’s Ersatz für Kfz-Scheine, Führerscheine und Auto-Zulassungen. Im Wartesaal sind alle Plätze belegt. Leises Murmeln, noch leiseres Papierrascheln. Wir sind schneller als der Rest; wir sind nämlich mit einem vierstelligen Zahlencode bewaffnet. Den hat eine Lady im Telefon-Service uns bei der Terminvereinbarung überlassen. Die vier Ziffern tippt man in ein Terminal; kurz darauf erscheint unsere Geheimzahl auf einem Bildschirm und wir sind dran. Hinter einer Glastür eine Atmosphäre wie in der Privat-Klinik. Alle sind freundlich, hilfsbereit und sachorientiert. "Ah, Sie haben einen Punkt in Flensburg", amüsiert sich meine Sachbearbeiterin. So sieht’s also aus in der angeblichen Höhle des Bürokratie-Monsters. Fulda ist halt besser als der Ruf Berlins. Müssen wir etwa unsere Vorurteile über Bord werfen?

Im Bürokraten-Dschungel ist der Beamte unser Tarzan. Natürlich blökt er nicht, dass die Affen vor Schreck aus den Bäumen plumpsen (wie Johnny Weissmüller Anno 1932). Und selbstverständlich sitzt er niemals im Lendenschurz hinterm Schreibtisch. Aber keiner blickt so durch wie er, keiner kann das Gestrüpp der Millionen Regeln derart entwirren – wenn er will. Rund fünf Millionen Menschen arbeiten heute im öffentlichen Dienst, von ihnen sind 1,8 Millionen Beamte. Kern-Aufgabe der Beamten ist die Herstellung von Ordnung. Kurt Tucholsky fiel dazu nur ein: "Die Basis jeder gesunden Ordnung ist der Papierkorb."

Bürokratie wird als "Ausführen von Verwaltungstätigkeiten nach klaren Vorgaben und innerhalb festgelegter Strukturen" beschrieben. Die gute alte Bürokratie wirkt und wütet in sämtlichen Lebensbereichen. Nicht nur in Behörden, sondern auch in Werkstätten, Hotels und Restaurants, Vereinen, Kirchen, bei Bäckern und Metzgern, in Banken, Fabriken, Werbeagenturen... Und sogar bei uns daheim. Allein die direkten Kosten für Unternehmen werden auf 67 Milliarden Euro geschätzt, pro Jahr. So viel Arbeitszeit muss man aufwenden, um sämtliche Regeln und Vorgaben, alles Kleingedruckte und jede tückische Formulierung genauestens zu erfüllen. 2022 hatten wir 1.773 Bundesgesetzen und deren 50.738 Paragraphen zu folgen. Dazu kommen "Rechtsverordnungen", Ländergesetze – und die EU hatte natürlich auch noch was zu verfügen. Dabei verbirgt sich der wahre Schrecken in der Regulierungs- Wut. Bayerns früherer Finanzminister Erwin Hubert hat mal vorgerechnet: "Der Satz des Pythagoras umfasst 24 Worte, das Archimedische Prinzip 67, die Zehn Gebote 179, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 300 – und allein Paragraph 19a des deutschen Einkommenssteuergesetzes 1.862 Worte!" Wird nicht allenthalben das blühende Zeitalter der Ent-Bürokratisierung ausgerufen? Hessen, immerhin, ist ein bisschen weiter als der Rest unseres Landes. Seit einem Jahr gibt’s hier den ersten Bürokratie-Melder; fast 1.000 Hessen haben dort schon darauf hingewiesen, was alles wegkann. Manfred Pentz, in Hessens Landesregierung zuständig für den Abbau von Bürokratie, erläuterte in Osthessen-News: "Jeder eingesparte Handgriff, jedes gestrichene Formular und jede vereinfachte Regel machen unser Land schneller, effizienter und lebenswerter." Auf in den Kampf! Aber kann die Politik die Feldschlacht im Bürokraten-Dschungel gewinnen?

I bin Beamter – des is ka Schand
S gibt vül Beamte bei uns im Land
I bin ka Dokter, bin kein Genie
Und trotzdem mach ich a Karriere –
Ja und wissens a wie?

Ich bin im Amt noch kane fünfazwanzig Johre
Ka Protektionskind und von niedriger Geburt
I kann net Englisch, net Französisch – Deutsch schon goanet
Aber wen am Oasch lecken, das kann i guat!

Ja, der Georg Kreisler – der konnte einen schon mit seinem Schmäh überziehen, dass man zumindest peinlich berührt war. Kein Hirn, kein Herz, kein Rückgrat – so soll er also sein, unser Beamter. Aber vielleicht ist er im Innersten ganz anders. Vielleicht ist unser humorloser Paragraphenreiter ein Mensch mit Witz und Charme. Sollten wir nicht wenigstens ein ganz klein bisschen Verständnis für ihn haben?

Schauen wir erst nochmal in unser Ledermäppchen. Der Ausweis meiner Frau, unter Fachleuten gern Perso genannt, ist abgelaufen. Damit wieder alles läuft, wie es soll, muss das Bürgerbüro eingreifen. Die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter im Fuldaer Stadtschloss erweisen sich als derart hilfsbereit und gut gelaunt, dass der Formular-Zirkus fast schon zu schnell vorbei ist. So geht’s also ab in einer modernen Amtsstube. Im Internet äußern sich die Kunden ebenfalls enthusiastisch: "Danke, Stadt Fulda", schreibt einer. "So viel Herz, Engagement und Flexibilität", eine andere. "Ich wünschte, so wäre es in allen Behörden." "Unglaublich freundlich, menschlich, unkompliziert." "Tolles und hilfreiches Personal." "Kenne ich aus Hamburg anders. Bin positiv überrascht." "Keine Minute gewartet." "Hier muss ich jetzt keinen Dampf ablassen, sondern großes Lob aussprechen." Ist Fulda eine Oase in der Service-Wüste?

Liebe Frau Amtsrätin, lieber Herr Oberinspektor (oder wie auch immer man ihnen korrekt nahe genug treten darf), fast sind wir ein wenig klamm wegen eingangs geäußerter Vorurteile. Allerdings haben wir durchaus bemerkt, dass die meisten Bürger-Betreuerinnen vom Amt keine Beamtinnen sind. Andererseits nehmen wir voller Mitgefühl zur Kenntnis, dass es Ihnen, dem harten Kern des Staatsdienstes, an den Kragen gehen soll. Weg mit dem Beamtentum? Hat der Stempel, das Schwert des Staatsdieners, bald endgültig ausgedient? Bereits 2022 hat der berüchtigte Ökonom Bernd Raffelhüschen gewarnt: "Die Versorgungsausgaben fliegen uns um die Ohren!" Er meinte Euch, Amtsdienerinnen und Amtsdiener. Die Pensionäre futtern dem Staat die Haare vom Kopf. Schon wird verlangt, dass Beamte fünfeinhalb Jahre länger arbeiten sollen als der Rest der Bevölkerung. Weil sie aufgrund ihrer ausgeruhten Arbeitsweise eine entsprechend längere Lebenserwartung hätten. Der Steuerzahlerbund will die Zahl der Beamten rasieren, auch CDU-General Carsten Linnemann propagiert den Kahlschlag. Beamte, sagt er, brauche man nur noch für "hoheitliche Aufgaben".

Echt jetzt? Was wären wir ohne unsere Beamten-Folklore? Ich fordere Artenschutz für diese vom Untergang bedrohte Spezies. Vor allem wegen ihrer Verdienste um die deutsche Sprache. Daran kann mich auch der Duden nicht hindern, der das in Ämtern gepflegte "Papierdeutsch" als "trocken", "unlebendig", "umständlich" und "steif" benörgelt. Auch nicht der Sprach-Kritiker Wolf Schneider, der allen Ernstes die Behauptung aufgestellt hat, Beamten-Deutsch diene dazu, "das gemeine Volk auf Distanz zu halten". Und erst recht nicht das "Leipniz-Institut für Deutsche Sprache", das 2021 zu der Erkenntnis gelangte, über die Hälfte der Germanen empfänden vor allem die schriftlichen Verlautbarungen der Finanzbehörden – Steuerbescheide! Bußgeldbescheide! – als schwer verständliche, mit Bandwurmsätzen überfüllte Zumutung.

All diese Menschen haben einfach keinen Sinn für den Erfindungsreichtum und die Poesie der Beamten-Sprache. Wem sonst könnten solche Wörter einfallen: "Sozialversicherungsfachangestelltenausbildungsvergütung". Oder gar dieses hier: "Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz". 1999 wurde dieses Meisterwerk von der Landesregierung in Meck-Pomm erfunden; 2013 leider wieder abgeschafft. Begreifen Sie? In der Kürze liegt keineswegs die Würze! Viel eher in der Raffinesse. In den Lyrik-Fabriken unserer Amtsstuben werden sogar eigene Wörter produziert. Staunen Sie über die schönsten Beispiele, mit Übersetzung: "Straßenbegleitgrün" ist ein begrünter Mittelstreifen. "Spontanvegetation" ist Unkraut. "Häusliche Absonderung" heißt die Quarantäne. "Einachsiger Dreiseitenkipper": Schubkarre. "Personenvereinzelungsanlage": Drehkreuz. "Beelterung": Vermittlung einer Pflegefamilie. Bravo! Woher nehmen sich unsere Staatsdiener nur Zeit und Kraft, uns mit all diesen Sprach-Schönheiten zu beschenken? Und was haben sie davon? Ach, Undank ist der Welten Lohn!

Wie schreit der Herr des Dschungels? Brüll uns mal an, Johnny Weissmüller. Zum Nachsingen: https://www.youtube.com/watch?v=6pMC_y5lQ-Q
Georg Kreislers Song "Der Beamte" zum Nachhören: https://www.youtube.com/watch?v=9lHPl_e_axg
Reinhard Mey singt 1977 über "einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars": https://www.youtube.com/watch?v=BrcKzP4B6UE (Rainer M. Gefeller) +++



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