Echt jetzt! (68)

Wehe, es regnet ins Bierglas - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Chillen in der Fulda-Aue: Spielgelände, Skaten-Paradies, Biergarten
Fotos: Michael Otto, Künzell

01.08.2025 / REGION - Die Radiosender haben einen unverwüstlichen, 50 Jahre alten Schlager wieder hervorgekramt: "Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?" von Rudi Carrell. Ist mir doch egal, sagt der wetterfeste Osthesse: Der hiesige Lifestyle kann auf die vor zwei Monaten angedrohte Mörderhitze gern verzichten. Bratwurst und Wein auf dem Wochenmarkt schmecken auch im Regencape. Wenn die Himmelsdusche Pause macht, geht’s zum Chillen an den Aueweiher und in den fuldischen Hydepark, zum Boulen aufs Dach oder zum Skaten in den Auepark. Radfahren, E-Scooter-Ausflüge, Angeln, Paddeln. Oder warum lassen wir nicht mal wieder die Gehstöcke fliegen? Und wenn sich die Wolken dann erneut über uns auswringen, haben wir unser Lieblingsthema der Saison: Wieso hat meine Wetter-App schon wieder versagt?



Das Frühstück und das Skateboard-Fahren haben bekanntlich eines gemeinsam: Wer das Gelbe vom Ei sehen will, muss erstmal die Schale knacken. "Beim Skaten gehören Stürze dazu", mahnt der Sportartikel-Hersteller Decathlon. Deshalb betreten kluge Brett-Künstler die Piste nur in einer Rüstung, die dem Kampf-Kostüm des Sternen-Kriegers Darth Vader nachempfunden ist: Hartschalen-Protektoren für Knie, Ellenbogen und Handgelenke. "Crashpants" genannte Vollpolster-Hosen. Helm. Wie sorgt man außerdem vor? Aufwärmübungen. Sturztechnik lernen. Konditionstraining. Vorm Losrollen schauen, ob keine Hindernisse im Weg sind: Äste, Red-Bull-Dosen, frei umherlaufende Hunde und Kinder.

Früher, da traten Skater gern auf wie Street-Gangs; junge Machos auf Rädern. Die Brett-Rapper rumpelten überall, wo’s ein wenig abschüssig war und Absprung-Basen im Weg rumstanden: Betonstufen, Bänke, Blumenkübel, Brunnen, Mauern, Treppengeländer. Wilde Gestalten mit antibürgerlichem Gehabe. Sie erinnern sich gern an die wilden Ritte übern Uni-Platz, hinterm Schlosstheater, vorm alten Hallenbad. Die Veteranen tragen ihre Blessuren von einst heute wie Kriegs-Verletzungen. Die Schultern, der Rücken, die Knie und Hüften jaulen immer noch von den Stürzen der Vergangenheit.

Der elegante neue Fuldaer Skatepark ist von anderer Machart und wird schon jetzt von Kennern zur Spitze der rund 2.000 Parcours in Deutschland gezählt. Man gleitet dahin wie auf sanft plätschernden Wellen; das Areal, hat Stadbaurat Daniel Schreiner bei der Eröffnung gesagt, sei wie eine Überschwemmungslandschaft gestaltet. Das Skateboarding hat seine Kanten verloren. Für die älter gewordenen Brett-Artisten der frühen Jahre ist das wie Verrat am rauen, bluttriefenden Geist von einst. Den heutigen Freizeit-Bürger juckt das wenig. Das Skateboarding gehört jetzt allen.

Früher. Da soll alles besser gewesen sein? Vor 50 Jahren war der fuldische Menschenschlag für Auswärtige schnell definiert: Hochstift, Schwartemagen, Kirchgang. Das Bier schmeckt immer noch. Der grobe Kochwurst-Knubbel ist längst ein Leckerbissen unter vielen: Fuldas Fleischer, Bäcker, Delikatessen-Läden und Restaurants versorgen die hiesigen Feinschmecker mit einer kulinarischen Vielfalt, die man sonst nur in Großstädten findet. Und die Schar, die sich zum sonntäglichen Kirchgang einfindet, ist recht übersichtlich geworden. Wenn da nicht die Touris wären, die sich daheim vielleicht nicht mehr zum Gottesdienst trauen. Was sollen denn die Nachbarn denken!

Rudi Carrell war vermutlich der ausgefuchsteste Fernseh-Unterhalter, den das niederländische Radfahrer-, Tulpen- und Käse-Volk hervorgebracht hat. 1975 hat er uns sein klima-kritisches Musikwerk geschenkt. Ein Textauszug:

"Ja früher gab's noch hitzefrei
Das Freibad war schon auf im Mai
Ich saß bis in die Nacht vor unserem Haus
Da hatten wir noch Sonnenbrand
Und Riesenquallen an dem Strand."

Unsere Erinnerung ist bekanntlich ein Betrüger. Der Sommer 1975, als Carrell seine Wetter-Kritik vortrug, fing zwar relativ kühl an; im August allerdings wurde es "ein Sommer, wie er im Buche steht", erklärt uns der Meteorologe Jens Oehmichen. Der Wetter-Aufklärer Jörg Kachelmann hat uns vor wenigen Tagen in der Bild-Zeitung eins reingerieben: "Die Sommer waren nie, wie sie früher einmal gewesen sein sollen. Marl war nie Mallorca. Es gab viele Sommer, da gab es nicht einmal 30 Grad..." Und außerdem: "Wir sind leider quer durch die Bevölkerung nicht die hellste Kerze auf der Torte, was solche Themen betrifft..."

Die berüchtigte Künstliche Intelligenz weiß, dass es in Fulda "warme Sommer und kalte, schneereiche Winter" gibt. Die Durchschnittstemperatur im Juli beziffert "Climate-Data" auf 18,4 Grad, die Zahl der täglichen Sonnenstunden auf 9,9. Fulda gilt als patschnasse Stadt; regnen kann’s immerzu, ohne dass unsere Wetter-App was davon mitbekommt. Ja sind wir denn hier in England? Ein bisschen schon! Unser Schlossgarten ist eine kleinere Version des Londoner Hydeparks (nur dass die Eichhörnchen hier nicht angehoppelt kommen und um Fressen betteln). Richtig britisch wird es, wenn Studenten und Familien ihre Decken ausbreiten und die Picknick-Körbe aufklappen. Was für eine Zeitenwende! Früher war der heilige Rasen durch eine niedrige Eisen-Einfassung abgegrenzt. Ein strenger Wächter, den die Kinder "Flurhüpper" nannten, passte auf, dass niemand das Gras platt trat. Der Mann hatte viel zu tun, und er tat es gern.

Auf dem Fuldaer Gemüsemarkt stehen die Männer samstags um elf Uhr Schlange am Bratwurst-Stand. Selbst an den Weinständen drängt sich bereits die durstige Kundschaft – auch bei Jupp Hahner, Fuldas bekanntestem Wein-Händler. Die Älteren erinnern sich an die Zeiten, als in Hahners Schankraum die Freitagabende Pflichttermine waren, um die Nieren mit Volkacher Kirchberg durchzuspülen. Jetzt wird uns überall in der Stadt einer eingeschenkt. Weinstuben, Restaurants, Eisdielen an jeder Ecke. Die Tische stehen draußen, der sauertöpfischen Wetter-Behauptung der "Experten" zum Trotz. Kulinarische Freiluft-Festivitäten gibt es genauso oft wie Kultur-Events. Jetzt wird gerade wieder auf der Pauluspromenade gespeist, was die Edel-Köche herzaubern – mit freiem Blick auf den Dom. Wenn’s was zu essen und trinken gibt, fürchtet der Fuldaer weder Wind noch Wetter. Es darf nur nicht ins Bierglas regnen, dann kommt Unmut auf.

Ich stehe am Fuße des Frauenbergs, gleich neben dem aufwändig gestalteten Kinderparadies, und blicke auf ein verlassen wirkendes Spielgelände. Vor 50 Jahren flogen hier noch die Eisenkugeln durch die Luft und bohrten sich mit diesem unverwechselbar dumpfen Ton in den Boden. Am Rande des magischen Boule-Feldes standen Flaschen mit provenzalischem Rotwein bereit. Wir blickten auf die Villa von Alfred Dregger. Wenn Fuldas berühmtester Politiker daheim war, standen Polizeiautos vor der Tür; manchmal sogar ein Panzerspähwagen. Das hat die teutonischen Fans des französischen Nationalsports nicht gekümmert. Als "frankophile Käselutscher" verspottete Franz Josef Degenhardt, Liedermacher der 68er, die Freizeit-Franzosen. Na und? Lass den nur singen... Die heutigen Fuldaer Boule-Enthusiasten nennen sich "Boulodromedare", haben selbstverständlich einen Verein und die gesellschaftliche Mitte erobert. Geboult wird seit diesem Sommer sogar über den Dächern der Stadt, im Hochbiergarten "Karlchen vom Dach".

Auch in Fulda benötigt der Lifestyle-Trendsetter dringend eine Smartwatch, den Krückstock des digitalen Menschen. Morgens werde ich wach und denke: das war eine erholsame Nacht. Pustekuchen! Ein Blick aufs Handgelenk zeigt: da gab es Atem-Aussetzer, die Kern-Schlafzeit war viel zu kurz, nachts um drei habe ich geschnarcht. Schon geht’s einem schlechter, das will diese Besserwisser-Uhr vielleicht. Aber jetzt steige ich mit wackligen Knien aufs Skateboard, da muss die Uhr mit. Zack, bumm, schon rutscht das Skateboard eigenmächtig davon, bevor ich überhaupt über den Versuch einer milden Pirouette nachdenken konnte. Es scheppert, ich liege benommen rum und grüble: Was ist passiert? Die schlaue, mit Sensoren vollgepackte Uhr sagt’s mir: ein Unfall. Vielen Dank. Da wäre ich gar nicht draufgekommen.

Fernseh-Unterhaltung vor 50 Jahren: Rudi Carrell singt seinen Sommer-Hit: https://www.youtube.com/watch?v=KzEOvyDcVas (Rainer M. Gefeller) +++

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