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Typisch deutsch, oder was? - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Typisch deutsch: Kartoffeln
Symbolbild: Pixabay

03.10.2025 / REGION - Sind Sie auch in Feier-Stimmung? Recht so! Am Tag der Deutschen Einheit müssen wir uns doch mal um uns kümmern. Nachdem die seelenvollsten Festtags-Reden auf uns nieder gerieselt sind, gönnen wir uns einen Spaziergang zu uns selbst. Durch den deutschen Wald, den deutschen Schäferhund an der Leine, einen deutschen Polit-Schlager ("Wer soll das bezahlen") auf den Lippen geht es los. Ziemlich einseitig heute, was? Ja, da müssen wir durch, wenn wir endlich mal wissen wollen: Was ist eigentlich "typisch deutsch"?



Gibt es "die Deutschen" überhaupt, fragt der Schriftsteller Martin Mosebach 2016 in der "Süddeutschen" und zweifelt daran. Von den Römern seien wir schließlich nur zur Hälfte kolonisiert worden – der Rest blieben sich selbst überlassene Barbaren. Von welcher Hälfte wir wohl abstammen? Theodor Fontane (1819 bis 1898) bezeichnete uns als "slawischgermanische Misch-Race", Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843) fand in Deutschland nur Handwerker und Kaufleute, aber "keine Menschen". Mosebach schreibt: "Deutschland ist das modernste aller europäischen Länder. Der Fortschritt ist deutsch. Wer sich dem Rhythmus des Fortschritts nicht beugen will, der ist hier fehl am Platz." Da bleibt dem gesamten Regierungsviertel das Lachen im Halse stecken.

Treffen wir uns mit dem Dreigestirn der deutschen Überlegenheit: Pünktlichkeit. Sauberkeit. Zuverlässigkeit. Da lassen wir uns von keinem was vormachen, da sind wir absolute Spitze. Unser aktuelles Vorzeige-Projekt ist die Deutsche Bahn. Vorsicht, das war ein Witz. Dabei wird oft behauptet, Deutsche hätten gar keinen Humor. So ein Blödsinn. Besonders feinsinnige Beispiele finden sich überall dort, wo es Bahnhofs- oder Kneipen-Toiletten gibt. Amerikanische Volkskundler sind überzeugt, die humoristische Fixierung auf Sanitäranlagen erkläre sich durch die übergroße Begeisterung der Deutschen für Sauberkeit.

Wir futtern 52 Kilo Kartoffeln im Jahr. Die Polen verputzen 105, Rumänen 110, Letten 123 Kilogramm. Unsere Erdäpfel, die vor vierhundert Jahren noch Tartuffeln genannt wurden, kann man sowieso nicht als typisch deutsch bezeichnen: Migranten sind sie, eingeschleppt aus Südamerika. Was bleibt da von unserem Ruhm als Kartoffel-Volk? Immerhin ist auf Horand von Grafrath Verlass. So hieß der erste deutsche Schäferhund, der ins Zuchtbuch eingetragen wurde, 1898. Laut "Rassestandard" sollen Schäferhunde "ausgeglichen, nervenfest, selbstsicher und völlig gutartig" sein. Typisch deutsch halt. Ein beachtliches Gebiss hat der Schäferhund freilich auch, weshalb wir ihm gern Platz machen.

Legendär ist unsere Arbeitswut. Sind wir nicht das fleißigste Volk auf diesem Globus? Die Deutschen arbeiten durchschnittlich 34,7 Stunden pro Woche; der Durchschnitts-Europäer 37 Stunden. Andererseits: Deutsche haben einen gesetzlichen Urlaubsanspruch von 20 Tagen im Jahr. In Brasilien, Litauen und Frankreich sind es 30 Tage. So sieht’s aus. Kümmern wir uns mal um unsere Work-Life-Balance, wir brauchen Kraft für die Freizeit. Vereinsmeier sind wir, und wir sind es gern. Im April 2022 wurden in Deutschland über 615.000 Vereine gezählt, 40 Prozent von uns sind organisiert. Oder wir chillen in einem unserer eine Million Kleingärten. Deutscher kann die Idylle nicht sein, oder? Außer, wenn im Nachbargarten jemand einzieht, der sich weigert, den Rasen abzuraspeln und sich auch sonst dem Wildwuchs verschrieben hat. 25 Millionen Zwerge stehen in unseren Vorgärten rum, gewissermaßen der Zipfel der deutschen Gemütlichkeit. 2014 registrierte die FAZ nach einer langen Zwergenflaute das "Comeback der Spießigkeit". Schon 100 Jahre früher hatte Karl Kraus lakonisch festgestellt: "Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge Schatten." Ach, lasst doch mal dieses harmlose Männlein mit der knubbeligen Nase in Ruhe.

Der Ruf unserer Autofahrer-Nation ist derzeit leider etwas heruntergekommen. Aber wir haben ja immer noch unsere Autobahnen; diese feierliche Bezeichnung hat 1929 der Bauingenieur Robert Otzen erfunden. Wenn die Brücken erstmal wieder saniert sind, haben die deutschen Autobauer bestimmt auch die Kurve gekriegt. Dann gibt es wieder vom Tempolimit befreite Fahrt, wie sonst nur noch in Afghanistan, Bhutan, Burundi, Haiti und Mauretanien.

Der Schlager, Deutschlands Antwort auf die Invasion von Jazz, Pop und Rock, hatte seine Blütezeit ab den 50er Jahren. Aber "Herz, Schmerz und dies und das" werden immer noch besungen, bis die Tränen fließen. Heinz Georg Kramm, genannt Heino, ist der markanteste unter unseren Schlager- und Volkslied-Sängern. Sein Markenzeichen, die Sonnenbrille, musste er nicht mal für seinen Personalausweis abnehmen. Noch germanischer als er ist nur Winnetou. Der deutscheste Indianer, den man sich vorstellen kann, ist echt einer von uns: edel, großherzig, mutig. Erfunden hat den Apachen-Häuptling der begnadete Geschichten-Erzähler Karl May. Danke dafür.

Manche Völker dieser Welt beschimpfen uns seltsamerweise gern: als Boche, Fritz, Krauts, Hunnen, Kartoffeln, Piefkes. Am schönsten ist die Bezeichnung "Gummihals" in der Schweiz: Während die Eidgenossen gern schweigsam sind, gelten wir als redselig. "Selbst wenn du den Deutschen den Hals umdrehen könntest, sie würden immer noch unaufhörlich weiterreden." Darüber lächeln wir gutmütig. Wenn uns indes jemand ernsthaft ärgert, können wir ihm jederzeit eine Kampfmaschine an die Hosenbeine schicken. Kurzbeinig, aber zäh, eigensinnig und gelegentlich bissig. Kommt ihnen das bekannt vor? Nee, hier geht’s nicht um Ihren Ehepartner, sondern um unseren Dackel. Für ein paar Jahrzehnte hatte der große Zwerg sogar einen Ehrenplatz auf den Hutablagen unserer Autos: als Wackeldackel.

Mensch, bevor wir’s vergessen: Sind wir nicht das Volk der Dichter und Denker? Hegel, Schopenhauer, Kant, Nietzsche, Heidegger, Marx. Ja, auch der – er wird heute immer noch von Abermillionen Menschen verehrt. Die meisten natürlich außerhalb von Deutschland. Die großen Drei aus der Musik-Abteilung: Mozart, Beethoven, Bach. Und natürlich die schreibenden Giganten: Goethe, Schiller, Heine, Thomas Mann, Hermann Hesse, Bertolt Brecht, Günter Grass, Herta Müller.

Wir hatten eine Deutschlehrerin, die wir Hertha nannten. Für sie zählten ausschließlich Dichter, die spätestens 150 Jahre zuvor das Zeitliche hinter sich gelassen hatten. Nach ihnen kamen nur noch Sprachstümper. Vor allem dieser Brecht, der sich – in den 60er Jahren – auf sämtlichen Theaterbühnen breitmachte. Eines Tages legte sie mir das Gedicht "Die Liebenden" auf den Tisch. Der Anfang:

"Seht jene Kraniche in großem Bogen!

Die Wolken, welche ihnen beigegeben

Zogen mit ihnen schon als sie entflogen

Aus einem Leben in ein anderes Leben."

Der Brecht konnte ja doch was, schwärmte Hertha. Hätte er bloß weiter so einfühlsam geschrieben, "dann hätte ein großer Dichter aus ihm werden können". Ach, Hertha. Vielleicht war sie innerlich vereint mit dem Anarcho-Künstler Wolfgang Neuss und seinem derben Zweizeiler:

"Das deutsche Volk der Reimerchen

Ist endgültig im Eimerchen."

Hier noch schnell eine Zwischenmahlzeit: Wer hat das Spaghetti-Eis erfunden? Ja, klar, ein Italiener – aber in Deutschland: Dario Fontanella, Eismacher in Mannheim, soll’s gewesen sein, am 6. April 1969. Döner "macht schöner" hat irgendein Dödel gesungen. Wie beruhigend, dass dieses Schnellfutter, das unsere Bratwurst zu vertreiben droht, wenigstens eine deutsche Erfindung ist: 1972 in Berlin. Na gut, von einem türkischen Gastarbeiter. Kadir Nurman sein Name. Der Deutsch-Döner ist Fleisch vom Dreh-Spieß, Salat, Tomate, Zwiebeln plus undefinierbarer Soße im Fladenbrot. Noch viel stolzer macht uns, dass die Deutsche Brotkultur 2014 von der UNESCO als "immaterielles Kulturgut" anerkannt wurde. Derzeit sind 3.232 Brotspezialitäten im "Brotregister" eingetragen. Wollen wir allmählich zum Schluss kommen? Mich überfällt ein stechender Nachmittags-Hunger.

Eines kann uns niemand streitig machen: die einzigartige deutsche Sprache. Laut Unesco Platz 7 der schwierigsten Sprachen der Welt. Was soll daran so schwer sein? Wir haben’s doch schließlich auch gelernt! Mark Twain hat 1880 über die "schreckliche deutsche Sprache" mal aufgezählt: Alles sei so kompliziert. Für jede Grammatik-Regel gebe es unzählbare Ausnahmen. Diese verschachtelten Bandwurmsätze, an deren Ende das Verb verhungert. Warum, fragt er listig, ist im Deutschen das Fräulein sächlich und die Rübe weiblich? Das zeuge von einer "übertriebenen Verehrung der Rübe" und einer "dickfelligen Respektlosigkeit gegenüber dem Fräulein".

Wir sind ja hier in Fulda, was ist da eigentlich typisch? Bevor wir jetzt den Schwartemagen und den Zwibbelsploatz mit einem Schlitzer Korn herunterspülen, bleiben wir mal lieber beim Akkusativ in seiner fuldischen Vollendung. Der kenn ich. Ich wünsch dir ein schöner Tag. Gestern habe ich der Tatort gesehn. Ich liebe der Fritz-August. Ist das nicht herrlich, wie souverän wir wen und wem miteinander verheiraten? Und wie wir bei den Fragewörtern ganz ohne dieses verwaschene W auskommen? Im Fuldischen fragt man so: Bos? Bohää? Bohie? Boröm? Bann? Basta! Außerdem sei daran erinnert, dass die echten Fuldaer bereits gegendert haben, als das selbst für Redakteur*innen... Halt, nochmal, ich habe mich verirrt: als das selbst für Redakteurinnen und Redakteure im öffentlichen Rundfunk noch eine fremde Sprachform war. So klingt Gendern in Fulda: "Der Hahn hat die Huhn wieder gebalzt." Siehste, bei uns war das Huhn schon immer weiblich. Das können wir ja auch mal feiern.

Hier spielt die deutsche Musik: Ein Hör-Häppchen aus Beethovens Symphonie Nr. 5, dargeboten von den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan: https://www.youtube.com/watch?v=9aDEq3u5huA

"Blau blüht der Enzian" – es singt Heino: https://www.youtube.com/watch?v=yy-ujMo8bdM&t.

Winnetous Lied – zu der Melodie des Film-Komponisten Martin Böttcher ritt er ein: https://www.youtube.com/watch?v=v-BLqn2-veI.

Holt die Taschentücher raus: Bert Brechts Gedicht "Die Liebenden", vorgetragen von Fritz Stavenhagen: https://www.youtube.com/watch?v=FvUEVtOsJqc

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