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Winter-Fasten - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Fastenteller: Gebackene Süßkartoffeln mit Rohkost. 
Fotos: Annemaria Gefeller

28.11.2025 / REGION - Die erste Gans ist schon bewältigt, aber die echte Mastkur kommt erst noch. Jeden Abend lockt uns der Weihnachtsmarkt – ein Glühweinchen hier, ein Starkbier dort, und dann noch Lebkuchen, Stollen und die beste Bratwurst des Jahres, gleich an der Ecke zum Fuldaer Uniplatz. Obendrein all diese kraftvollen Menüs daheim und in den Restaurants. Mmmh. Kann man sich gegen diese den Hosenbund strapazierende Zeit wappnen? Aber ja. Das einwöchige Winter-Fasten ist eine Turbo-Diät gegen Fettpolster, gegen schlechte innere Werte, gegen Schlappheit und für den gesunden Appetit. Mein Held in dieser Geschichte ist ein Italiener, der eigentlich der neue Jimi Hendrix werden wollte. Was so einer erfindet, muss man doch einfach mal ausprobieren!



Der Tag vor dem Fasten, frühmorgens. Die Waage zeigt 77,9 Kilo. Geht eigentlich, noch könnte ich zurückzucken von der Hunger-Kur. Aber nee, schauen wir erstmal. Heute werden wir vorbereitet auf das "Schein-Fasten". Erwartungsarm setzen wir uns an den Tisch. Auf dem Flur klappert der Hund mit seinem prallgefüllten Napf. Bei uns gibt’s Wasser, Kaffee und ein "Overnight-Müsli" mit Beeren, Kräutern, Nuss-Splittern, Joghurt und Kefir. 500 Kalorien. Zwischendurch steht der Hund am Frühstückstisch und guckt mitleidig. Ich friere. Mittags: Pellkartoffeln mit einer Joghurt-Pampe und scheußlichem Gurkensalat. 450 kcal. Abends: Möhrencreme, Mahlzeit für Zahnlose. 350 kcal. Tag 2: Die Waage zeigt 77,2 Kilo. Von nun an geht’s bergab, das Gewicht verdünnisiert sich wie ein kilo-schwerer Schweineschmalz-Brocken, den wir auf den glühenden Grill legen. Am Ende der siebentägigen Magerkur sind drei Kilo futsch, die Waage zeigt 74,7 Kilo. Und ich bin fit wie der Terrier vom Linden-Wirt in Neuenberg.

Die Schnell-Schmelze für alles, was weg kann in unserem Körper, ist der neumodische Turbo für das gute alte Heilfasten. Erfunden hat das Original Otto Hermann Ferdinand Buchinger, 1878 in Darmstadt geboren, 1966 in Überlingen gestorben. 1917, so wird seine Geschichte erzählt, war der in Gießen promovierte Arzt an Rheuma erkrankt. Zwei Jahre später machte er die Erfahrung, dass eine dreiwöchige Fastenkur ihm Linderung verschaffte: "Nach 19 Tagen war ich dünn, aber ich konnte wieder alle Gelenke wie ein junger Mann bewegen." Die von ihm entwickelte Methode des Heilfastens setzte vor allem darauf, dass die Selbstheilungskräfte des Körpers infolge der inneren Reinigung in Marsch gesetzt werden. Sein 1935 veröffentlichtes Werk "Das Heilfasten und seine Hilfsmethoden" wurde zur Bibel der Fasten-Fans.

Die Buchinger-Kur war im Vergleich zur kirchlich verordneten Fastenzeit des Mittelalters ein kulinarischer Spaziergang. Vor 1200 Jahren fastete die Christenheit bis zu 150 Tage im Jahr. 40 Tage vor Ostern, 40 Tage vor Weihnachten sowie jeden Freitag und Samstag. Für die Osterzeit verfügte Papst Gregor im Jahr 590: "Während der 40-tägigen Fastenzeit ist es verboten, das Fleisch von warmblütigen Tieren zu essen." Seine Nachfolger überschlugen sich mit Verschärfungen dieser Regeln. Butter, Käse, Milch und Eier: zum Wohle Gottes verboten. Bier: verboten. Süßes: verboten. Die Hunger-Zeit wurde beständig verlängert. Die Kirchenherren gingen rabiat gegen Fasten-Sünder vor. Beim achten Konzil von Toledo verfügte die Kirchenversammlung Anno 653, wer sich "erfrechen wird", in der Fastenzeit Fleisch zu futtern, "wird dasselbe ganze Jahr hindurch von Fleischessen enthalten." Ein Jahrhundert später wurde Karl der Große richtig grob: "Wenn jemand die heilige Faste zur Geringschätzung der Christenheit verachten und Fleisch essen wird, soll er sterben." Mit der Zeit erfanden Verängstigte oder besonders glaubensfeste Menschen Rezepte, die die kargen Mahlzeiten ein wenig aufhübschen sollten. Ein Kochbuch von 1460 zum Beispiel servierte ein falsches Spiegelei, das moderne Veggies kaum raffinierter erfinden könnten: "Nimm geschälte Mandeln und stoße sie in einem Mörser und leg etwas Weißbrot dazu, mache daraus kleine Scheiben und färbe sie. Das Ganze lege auf ein Brot in die Mitte, lege es dann in eine Pfanne, gieß Öl dazu und backe es."

Die kirchlichen Fundis hatten die Rechnung ohne die Feinschmecker aus den eigenen Reihen gemacht. In den Küchen- und Studierstuben ersannen die Widerständler groteske Ausnahmen. Biber, Otter und Dachs wurden zu Fischen erklärt, sie lebten ja oft im Wasser. Der Biber hatte sogar einen schuppigen Schwanz! Klosterköche kneteten Rehbraten so lange in Form, bis sie aussahen wie Fische. Stollen durften eigentlich nur noch aus Wasser, Mehl, Öl und Hefe bestehen. Eigentlich. Sachsens Fürsten beschwätzten 1491 Papst Innozenz VIII., auch Butter, Mandeln und Rosinen zu erlauben – nur dann sei der Stollen imstande, Fieber zu senken und den "Wolfsbiss" zu heilen. Zur Fastenzeit wurde in vielen Klöstern Starkbier gebraut: "Flüssiges bricht das Fasten nicht." Marzipan auch nicht, befand Thomas von Aquin; das sei doch eine willkommene Abwechslung in der kargen Zeit. Schokolade schließlich, verfügte ein Papst im 16. Jahrhundert, schmecke derart scheußlich, dass es ganz sicher nicht gegen das Fastengebot verstoße. Und dann war da noch das "Herrgottsb’scheißerle", die schwäbischen Maultaschen. Der gehackte Fleisch-Inhalt wurde einfach in einer Teighülle verborgen. Was der liebe Gott nicht sieht, kann er auch nicht verbieten. Ob sich "die Katholischen" wohl manchmal selbst verirrt haben in ihrem Fasten-Dschungel?

Millionen kurieren sich heute nach Buchinger. Freiwillig. Nur Tee, warme Brühe und Wasser werden in den Körper gelassen. Die Müllabfuhr für allen Dreck, der sich in unseren Organen angesammelt hat, soll die Zellen verjüngen, Fett abschmelzen, Entzündungen niederkämpfen, das Blut reinigen. Aber die Wunder-Diät für Körper und Seele fordert Geduld: mindestens zwei Wochen lang. Viel zu lange, fanden die Erfinder des Turbo-Fastens.

Bühne frei für den ersten Helden dieser Geschichte: Valter Longo. Geboren 1967 in Genua. Als Kind zerrte und zupfte er an der Gitarre herum wie sein großes Vorbild Jimi Hendrix. Mit 16 zog es ihn in die USA, mit klaren Berufsabsichten: Er wollte Rock-Star werden. Studierte ein wenig Jazz und wurde schließlich an einer texanischen Universität zum Leiter einer Blaskapelle berufen. Das war Lichtjahre entfernt von seinen Rocker-Träumen. 1992, mit 25, verabschiedete Longo sich davon und verbiss sich in sein wahres Lebens-Thema: Altersforschung. Wie bleiben Menschen bis ins hohe Alter gesund? Er beteiligte sich an Forschungsprogrammen zu Langlebigkeit, Ernährung, Krebs, genetischen Prägungen. Seine in die USA ausgewanderten Verwandten eigneten sich als Versuchs-Personen: Erschrocken hatte Longo beobachtet, wie die Onkel und Tanten von Fettleibigkeit, Herzkrankheiten und Diabetes geplagt wurden. Was für ein Unterschied zur Familie daheim. Die US-Italiener hatten sich die landestypische Ernährung angewöhnt: fetttriefend, fleischlastig, vollgepackt mit Zucker. Longo erfand das Scheinfasten als Waffe gegen die Epidemie der Dick- und Krankmacher – "Fast Mimicking Diet" (FMD). 2018 wurde der gescheiterte Rocker vom Time-Magazin zu einer der 50 einflussreichsten Personen im Gesundheitswesen erklärt; sie nannten ihn "Fasten-Prediger". Seine schönste Predigt geht so: Wer jeden Monat fünf Tage lang scheinfastet, soll bereits nach einem Vierteljahr sein biologisches Alter erhöht haben, um zweieinhalb Jahre.

Das will ich auch haben. Aber wie läuft’s mit dem abgespeckten Schnell-Imbiss bei uns? Der Ernährungsmediziner Prof. Dr. Andreas Michelsen hat die "Verjüngungs-Diät für vitale Zellen und weniger Bauchfett" als Ernährungsplan für die deutsche Küche entworfen. Auch seine Rezepte sollen imstande sein, Bluthochdruck zu senken, den Stoffwechsel von Zuckerkranken zu verbessern, Rheumaschmerzen zu lindern, das Krebsrisiko zu senken. Zucker, Fleisch, Fisch, Alkohol wollen wir mal eine Weile beiseitelassen. Die "Stars der Scheinfasten-Küche", schreibt Michelsen, seien Avocados, Zucchini, Fenchel, Kichererbsen, Grünes Blattgemüse, Heidelbeeren, Äpfel. Das haben wir uns schon so ähnlich gedacht.

Dreimal am Tag kommen seltsame Gerichte auf den Tisch, viele schmecken sogar. Meine Favoriten: der "Espresso-Nuss-Brei" (260 Kalorien). Das "Blitz-Risotto mit Kürbis" (260 Kalorien). Der "Ofenkürbis mit Feldsalat" (230 Kalorien). Beim "Rote-Bete-Pflaumen-Smoothie" (210 Kalorien) allerdings wurde selbst dem hartgesottenen Mixer übel. Freilich: schlimmer geht immer. Ich warne ausdrücklich vor dem "Avocado-Salat-Smoothie" (180 Kalorien). Eine ölig-säuerliche, zum Überfluss noch mit Chicorée aufgepeppte dickflüssige Mumpe, die einem den Belag von den Zähnen frisst. Naja, fast. Ob’s schmeckt oder abstößt, ist bei der Küchenarbeit übrigens einerlei: Drei Stunden Schäl-, Schnippel-, Rühr-, Koch- und Spül-Tätigkeit am Tag sollte man schon einplanen. Kann man sowas echt länger als zwei Tage durchhalten? "Jeder kann zaubern, jeder kann seine Ziele erreichen, wenn er denken kann, wenn er warten kann, wenn er fasten kann." Das hat Hermann Hesse in seiner "indischen Dichtung" Siddharta geschrieben. Dann wollen wir mal nicht so zimperlich sein!

Die Fasten-Geschichte kennt noch einen Helden: Rabanus Maurus, von 822 bis 842 Abt des Klosters Fulda. Intellektuelle Allzweckwaffe der katholischen Kirche und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des Frühmittelalters. Philosoph, Theologe, Naturwissenschaftler mit einem kaum zu bewältigenden Nachlass an Büchern und Briefen. "Erster Lehrer Germaniens", nach Ansicht des Historikers Rudolf Schieffer "der erfolgreichste Autor des 9. Jahrhunderts". Und ein raffinierter Strippenzieher noch dazu, der sowohl zu wechselnden Kaisern als auch zu den Kirchen-Mächtigen Zugang fand. Der kluge Mann entdeckte auch den vielleicht wichtigsten Schlüssel zur Befreiung vom Fasten-Diktat der Kirche. Listig verwies er auf den fünften Tag der "Schöpfungsgeschichte" (Genesis/1 Mose Kapitel1): "Dann sprach Gott: Das Wasser wimmle von lebendigen Wesen und Vögel sollen über dem Land am Himmelsgewölbe dahinfliegen."

Der Himmels-Herr, folgerte Meister Rabanus, habe Fische und Vögel am selben Tag geschaffen. Demnach dürfe auch ein Suppenhuhn in der Fastenzeit vertilgt werden. Theologischer Widerspruch wurde nicht erhoben. Dadurch, erklärte ein Forscher-Team von Archäologen, Genetikern und Zoologen von der Universität Oxford 2017, wurde vor allem in Deutschland ein Boom in der Hühnerhaltung ausgelöst. Erstmal nur für die Tische der Adligen – aber der Fastenbrecher-Vogel aus dem Mittelalter zählt auch heute noch zu unseren Lieblings-Speisen. Natürlich nur, wenn das Huhn ein gutes Leben hatte. Wie texteten die Spontis in den 70ern so schön: "Das beliebteste Haustier der Deutschen ist und bleibt das halbe Hähnchen."

Noch ein Konzert gefällig? Hier sind ein paar Songs über das Hungern und das Gegenteil davon:

BAP, Müsli Man: https://www.youtube.com/watch?v=7XNr2G9cLz0

Florence + the Machine, Hunger: https://www.youtube.com/watch?v=0zbmAPrKJvM

Weird Al Yankovich, Grapefruit Diet: https://www.youtube.com/watch?v=EKDleyWptfs

Rihanna, Birthday Cake: https://www.youtube.com/watch?v=uphhMP8tDEA&list=RDuphhMP8tDEA&start_radio=1

Neil Diamond, Red Red Wine: https://www.youtube.com/watch?v=BeJ55sUacPM&list=RDBeJ55sUacPM&start_radio=1

Manfred Mann, Watermelon Man: https://www.youtube.com/watch?v=-_pfn1-JLv4

Element of Crime, Ein Hotdog unten am Hafen: https://www.youtube.com/watch?v=STnSRWMnn7E&list=RDSTnSRWMnn7E&start_radio=1 (Rainer M. Gefeller)+++

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