Echt jetzt! (14)

Fulda schießt ein Tohohoor! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Der Spieler mit der Nummer 10: Musiala
Foto: picture alliance/dpa | Tom Weller

27.06.2024 / REGION - "Über den Fußball", verkünde ich am Frühstückstisch, "schreibe ich kein Wort mehr." "Machst du doch!" befindet die allwissende Ehefrau. Störrisch kaue ich am Endstück eines Parisette vom Bäcker Storch. "Mach ich nicht!" beharre ich. Was macht die Frau: sie lacht. Lacht sie mich etwa aus? Mein Handy vibriert, WhatsApp stört unser feinsinniges Gespräch. "Wo guckst Du heute", fragt jemand, "Wiesenmühle? Eck? Altstadt?" Schon ist es wieder da, dieses Fieber. Die Deutschen haben Lust aufs Feiern. Die Deutschen wollen Fußball. Und gleich danach: Sommerferien.



Ist ja nicht schlimm, dass die Ehefrau mal wieder Recht behält. Wir wollen sehen, wie diese Ballkünstler sich abrackern für ihr Geld. Rennen sollen sie, bis die Stollen glühen; nicht schlecht, wenn sie hin und wieder außerdem das Tor treffen. Letzten Sonntag haben wir mal wieder gelernt: Wer auf dem Platz nicht entschieden genug auftritt, erntet ratzfatz nur ein Unentschieden. Und das nur, wenn der Füllkrug rechtzeitig seinen Kopf in die Flugbahn des Balles hält. Werner Hansch, Deutschlands legendärer Fußball-Reporter (leider außer Dienst) wüsste schon, wie er den Brüdern Beine macht. "Nein, liebe Zuschauer", hat der Mann aus dem Ruhrpott mal gelästert, "das ist keine Zeitlupe. Der läuft wirklich so langsam!" Gib mal Ruhe, Meister Hansch. Wir sind Gruppenerster, basta!

Was zieht man eigentlich an fürs Stadion? BILD hat die Italiener schon vorab zu Mode-Europameistern ernannt; wäre natürlich nett, wenn sie außerdem meisterlich kicken würden. Der halbe Kontinent amüsiert sich über das pink-violette Germanen-Trikot (aber hierzulande verkauft sich die Stoff gewordene Absonderlichkeit fast so gut wie Klopapier zur Corona-Zeit). Herr Schweinsteiger findet es "geil", dass Mode-Papst Nagelsmann in kurzer Hose über den Platz tapert. Über allem aber leuchtet die Nase der französischen Nation, Mbappés eleganter Riechkolben. Medizin-Sachverständige beugen sich über die Unfallstelle und sondern ihre Diagnosen ab. Die Maske, die sein malträtiertes Gesichts-Organ vor weiteren Übergriffen schützen soll, wird zum Mode-Accessoire der Saison. Da hat der Ex-Minister Jens Spahn echt Glück, weil sich für den von ihm organisierten Corona-Masken-Skandal keine Haselmaus interessiert. Wie viele Millionen Masken hat der Kaufrausch-Minister sich aufschwätzen lassen? Wie viele Millionen Nasen-Köcher wurden vernichtet? Wie viele Milliarden Euro schuldet Deutschland den Masken-Herstellern? Was soll’s, wir haben’s doch...

Da wir uns jetzt pünktlich zur Halbzeit schon wieder ins Schattenreich der Politik verirrt haben: Falls Sie vor 50 Jahren bereits lesen konnten, waren an Bushaltestellen und auf Klotüren Sponti-Sprüche sicher auch Ihre Pflicht-Lektüre. Zum Beispiel dieser hier: "Alle schimpfen über unseren Bundeskanzler. Dabei macht er doch gar nichts." Der passt ja immer noch wie die Faust aufs Glaskinn. Aber wahrscheinlich tun wir unserem Regierungschef Unrecht – ist uns aber auch egal: "Fußball!" Richard David Precht, der Lieblings-Welterklärer der Republik, hat uns in seinem Podcast mit Markus Lanz erklärt, mit dem Fußballfest nähmen die Deutschen erstmal "Urlaub vom Leben" – und der Herr Philosoph findet das gar nicht schlecht. Natürlich haben die Roten, die Grünen, die Gelben und die Schwarzen längst spitzgekriegt, dass jetzt Matthäus am Letzten ist. Ach, pardon – heißt das nicht Matthäi am Letzten? Man wird ja schon ganz wuschig von dieser Fußballerei. Sie wissen aber, was gemeint ist: Schicht im Schacht! Ich erzähle mal kurz das allerschönste Sommer-Märchen: Deutschland wacht auf und ist entzückt: kein Streit mehr über Migration, Rente, Gesundheitssystem, Bürgergeld, Fachkräftemangel, kaputte Straßen, Bahn-Chaos; alles ist geregelt. Oh, wie wär das schön...

Halbzeit beendet, jetzt wieder zum Wesentlichen. Die deutschen Kicker haben die Vorrunde erfolgreich abgenagelt, jetzt wird unser Kumpel Musiala auch den Rest von Europas Fußball-Elite schwindlig dribbeln. Leider ist er immer so flink, dass nur Kenner ihn als "Fulder Jong" identifizieren können. "JM10" steht winzigklein auf seinem Trainingsanzug, mitten in der Silhouette einer Deutschlandkarte. Da muss man schon ein ausgebuffter Heimatkundler sein, um zu wissen: Ach, klar, das ist ja der Jamal Musiala, Rückennummer 10. Und der Punkt da, das kann doch nur Fulda sein. Schon gröhlt die halbe Stadt: "Auf geht’s, Fulda schießt ein Tor, schießt ein Tor, schießt ein Tohohoor." Den Text kriegt man selbst nach fünf Bechern Hochstift noch unfallfrei über die Lippen. Wenn man geübt ist.

Wenn wir dann zumindest Europameister der Herzen sind, nichts wie rauf auf die A7. Am Tag nach dem Finale beginnen in Hessen die Sommerferien. Im Urlaubs-Stau geht die Party weiter. La Ola auf dem Rücksitz, der Papa sitzt am Steuer seines Benziners und freut sich auf den ersten Drink an der Strandbude. Die Allerwelts-Plöre "Spritz", hat er gerade gelernt, gilt für Menschen von Welt nicht mehr als erste Wahl. Stattdessen ist der Negroni gerade ziemlich angesagt (zu gleichen Teilen Gin, Bitterlikör und roter Wermut, jede Menge Eis). Ein Graf Camillo Negroni hat einem Barkeeper seines Vertrauens angeblich vor über hundert Jahren das Rezept für seinen Cocktail diktiert. Vorsicht ist angebracht: Der Graf soll im Alter von 66 Jahren einem Leberschaden zum Opfer gefallen sein. Und, sagt der Hautarzt: Hut auf an der Strandtheke. Das wussten unsere Sponti-Dichter schon vor einem halben Jahrhundert: "Auch ein Sonnenbrand hat seine Schattenseiten." (Rainer M. Gefeller) +++

Frankreichs Kylian Mbappe trainiert mit Maske. Mbappe hatte sich einen Nasenbeinbruch zugezogen.
Foto: picture alliance/dpa | Jan Woitas
Bemerkungen von Rainer M. Gefeller
Grafik: O|N

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