Was wir lesen, was wir schauen (109)
Colleen McCullough, Die Dornenvögel - Für das Beste muss man Opfer bringen
© Wikipedia / FOLIEN FISCHER, CC BY 3.0
22.12.2024 / FULDA -
Wie wollen wir aus diesem hasserfüllten, von Kriegen und Problemen geschüttelten Jahr 2024 hinausgehen? Ich habe mich für das stärkste ‚Medikament‘ im Medizinschränkchen entschieden – die Liebe. Heute stelle ich Ihnen einen Liebesroman vor, den ich – die ich dieses Genre sonst nach Kräften meide – mit Begeisterung gelesen habe. Reisen Sie mit mir nach Australien und zu den "Dornenvögeln".
1,9 Millionen für das Buch einer weitgehend unbekannten Autorin
Die "Dornenvögel" ist vom Aufbau her eine klassische Romeo-und-Julia-Geschichte, es geht um eine tragische Liebe, bei der die Liebenden nicht zueinander finden dürfen, weil die Liebe als ‚verboten‘ klassifiziert wird. Bei Shakespeares Liebenden war es eine Familienfehde, hier ist es die Religion.
"Dornenvögel" ist ein romantischer, herzzerreißend schön-trauriger Liebesroman. Er spielt auf sehr kluge Weise mit vielen weiblichen Träumen – romantischen, gefährlichen und verbotenen. Der Roman "thematisiert eindrucksvoll die widersprüchlichen, unversöhnten Gefühle über Weiblichkeit, Feminismus und Wunschvorstellungen, die diese Position, zumindest für weiße Leserinnen der reichen Welt, kennzeichnen", so Cora Kaplan in Ars Femina. In den "Dornenvögeln" hat man als Leserin gleich mehrere weibliche Figuren als Identifikationsangebot. Interessant ist auch der Widerhall der Frauenbewegung in den 70er Jahren, denn de Bricassart ist als Mann der Gegenentwurf von Macho-Männlichkeit, er ist mütterlich und empathisch. Meggies Mutter Fiona, Meggie selbst und ihre Tochter Justine zeigen anschaulich, worüber die Frauenbewegung damals diskutierte.
Romantische Familiensaga
Der Roman beginnt, als Meggie gerade einmal vier Jahre alt ist. Wir sind mitten im australischen Schafzüchter-Land – Meggies Eltern sind Paddy und Fiona ‚Fee‘. Die hat unter ihrem gesellschaftlichen Rang geheiratet – ja, ja, die Liebe! – und mit Paddy eine große Familie gegründet. Meggie ist das einzige Mädchen. Auf Drogheda, der Farm von Paddys Schwester Mary, trifft Meggie erstmals den Geistlichen Ralph de Bricassart. Die heranwachsende Meggie entwickelt sich zu einer echten Schönheit, und die Gefühle des Priesters sind schnell weit entfernt von heilig. Das stört Meggies Tante Mary, weniger wegen des ‚unheiligen‘ Aspekts, als weil sie selbst scharf ist auf den gutaussehenden Priester.
Die traurige Legende
Klingt gut? Nun ja, es ist die Rechtfertigung für die Halbherzigkeit oder Feigheit Ralph de Bricassarts, der zwar ein bisschen Liebe will, vor allem aber viel Macht und Einfluss, wie die Position im Vatikan sie ihm bieten. Und sind wir mal ehrlich – im Roman ‚opfert‘ nur eine Person, nämlich Meggie.
Wirklich, Colleen McCullough?
In 50 Jahren ändert sich die Welt, und man selbst ändert sich mit ihr. Heute empfinde ich schon das Setting des Romans als ‚unheilig‘. Ralph de Bricassart ist ein erwachsener Mann, als er Meggie das erste Mal begegnet – sie ist ein vierjähriger kleiner Hosenscheißer. Der Priester weiß alles über sie, auch sehr Intimes. Wie glaubhaft ist das in den 70er Jahren? Wie inzestuös ist das Verhältnis, in dem er sich als väterlicher Freund inszeniert, nur um seinen erotischen Gelüsten nicht nachgeben zu müssen? In Zeiten, in denen die katholische Kirche noch immer von Skandalen rund um missbrauchte Kinder erschüttert wird, liest man das viel erschrockener und interpretiert de Bricassarts Gefühle aus ganz anderen Gründen als absolut unpassend und verboten. Dass Ralph am Ende Macht und Einfluss über die Liebe stellt, ist hingegen ein konventioneller Topos.
Trotz manchem Stirnrunzeln finde ich die Lektüre der "Dornenvögel" nach wie vor lohnend und belohnend. Als kluge Leser:innen halten wir schließlich gut aus, dass man heute manches anders bewertet und sieht, und erfreuen uns aus ganzem Herzen an dem Liebes- und Leidenstreiben.
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