Was wir lesen, was wir schauen (106)

"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich

Der Ruth-Maier-Platz in Oslo
© Wikipedia / Petra Paul CC BY-SA 4.0

10.11.2024 / FULDA - Wenn vom Tagebuch eines jüdischen Mädchens während der NS-Zeit die Rede ist, denken alle: Anne Frank. Hinterhaus. Amsterdam. Deutlich weniger bekannt ist das Tagebuch der Wiener Jüdin Ruth Maier, ein genauso bewegendes und berührendes Zeitdokument. Von 1933 bis zu ihrer Deportation 1942 führte sie Tagebuch. Gefunden wurde es mehr als 50 Jahre nach ihrer Ermordung im Nachlass der norwegischen Dichterin Gunvor Hofmo, der großen Liebe und "Zwillingsseele" Ruth Maiers.

Ruth Maier – die Anne Frank von Österreich

So lautet der Titel einer ORF-Dokumentation über Ruth Maier. Ob der Titel passend ist, kann jede/r für sich entscheiden, im Angebot ist auch "Die Anne Frank Norwegens". Wir haben das schmerzliche Glück, zwei derart intensive Tagebücher lesen zu können. Beide werfen uns geradezu hinein in die Welt der entrechteten, verfolgten Juden, ihrer Eindrücklichkeit kann man sich nicht entziehen. Ruth Maier begann mit 12 Jahren, Tagebuch zu schreiben, hält Privates darin genauso fest wie Politisches.

Leider fast schon typisch für den Umgang mit der eigenen braunen Vergangenheit sind Ruth Maiers Tagebücher in Österreich (Täterland) kaum bekannt, in Norwegen (Opferland) hingegen wurden sie Teil des UNESCO Weltdokumentenerbes: "Die Wirkung von Ruth Maiers Schilderung der norwegischen Gesellschaft zwischen Kollaboration mit und Widerstand gegen die NS-Besatzung war so nachhaltig, dass ihre Tagebücher auf norwegische Initiative seit 2014 Teil des Weltdokumentenerbes sind." (aus der ORF2-Dokumentation zu Ruth Maier). Erst 2022 ehrte Österreich sie mit einer Ausstellung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW).

Ruth Maier wird in eine bürgerliche, assimilierte und nicht religiöse jüdische Familie hineingeboren, der Vater ist Vorsitzender der Postgewerkschaft, spricht neun Sprachen und ist hochgebildet. Zu ihm hat Ruth eine sehr enge Bindung, die Beziehung zur Mutter Irma ist komplizierter. Die Familie übersiedelt 1931 in einen Gemeindebau in der Wiener Gersthofstraße 75-77. Der Vater stirbt früh (1933). Ruth und ihre Schwester Judith "Ditta" verleben eine glückliche Kindheit.

Zum 31. Juli 1938 2.000 kündigte die Stadt Wien allen jüdischen Mieterinnen und Mietern die Wohnung. Der Kaufman Hugo Singer, ein Bekannter des Vaters nimmt die Familie zur Untermiete auf.

Wie vielen Juden ergeht es auch Ruth Maier – durch die Entrechtung und Verfolgung setzt sie sich erstmals mit ihrer jüdischen Identität auseinander. Die Familie war nicht einmal mehr Mitglied der israelitischen Kultusgemeinde, sie war 1927 ausgetreten. Den Nationalsozialisten war das egal, sie galten weiterhin als jüdisch.

Hass, Gewalt, Pogrome

Als 18-jährige erlebt Ruth Maier den sogenannten "Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich und die Gewaltexzesse gegen Juden in Wien. Und an ihrem 18. Geburtstag erlebt sie die sog. "Kristallnacht".

"Dass wir es ertragen, wundert mich. Dass wir trotz all dem nicht den Gashahn aufdrehen, in die Donau springen … Nur weg!" (09.10.38)

"Sie haben uns geschlagen! Gestern war der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. Ich weiß jetzt, was Pogrome sind. Ich weiß, was Menschen tun können, Menschen, die Ebenbilder Gottes." (11.11.38)

Ihr ist schnell klar – in Wien können sie nicht bleiben. Ihre jüngere Schwester Judith gelangt mit einem der "Kindertransporte" im Dezember 1938 nach Großbritannien – und überlebt die Shoah. Wenig später gelingt auch Ruths Mutter Irma und Großmutter Anna die Ausreise nach England. Ruths Tragik ist, dass sie wenige Tage zu alt ist für einen dieser Transporte.

Zuflucht in Norwegen


Im Januar 1939 flieht Ruth Maier nach Norwegen und kommt in die kleine Stadt Lillestrøm in der Nähe Oslos. Sie lernt Norwegisch, will ihr Abitur machen, versucht, ein normales Leben zu leben. Sie meldet sich freiwillig zum Arbeitsdienst, und lernt dabei im Herbst 1940 die Liebe ihres Lebens kennen, Gunvor Hofmo. Gunvor kam aus einer Arbeiterfamilie, hatte also einen ganz anderen familiären Hintergrund als Ruth. Beide verleben eine kurze, glückliche Zeit, wenngleich es auch Beziehungskrisen gibt: "Ich kann nicht sagen, wie warm mir ist, zusammen mit Gunvor. Ich liebe sehr ihre tiefen Augen. Ich liebe ihre Art, verhalten über Dinge zu sprechen." (Januar 1941)

Am 10. April 1940 besetzt die Wehrmacht Norwegen und etabliert eine Kollaborationsregierung unter Führung von Vidkun Quisling. Ruth ist wieder im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten. Sie erleidet mehr als einmal einen Nervenzusammenbruch, weil ihre Zukunft ungeklärt ist. Ihr englisches Visum war abgelaufen und nicht verlängert worden. Die Ausreise in die USA gelingt nicht, obwohl mehrere Bekannte versuchen, ihr ein Visum zu beschaffen. In Norwegen zu bleiben aber ist lebensgefährlich geworden, denn die Quisling-Regierung erfasst alle in Norwegen lebenden Jüdinnen und Juden. Ab Oktober 1942 beginnen die Deportationen. Fast alle norwegischen Jüdinnen und Juden werden sofort nach Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz vergast – so auch Ruth Maier am 01. Dezember 1942.

Über die letzten Stunden vor ihrer Deportation schreibt der norwegische Dichter Jan Erik Vold, der auch ihre Tagebücher herausgab: "Die Razzia, bei der sie verhaftet wurde, fand am 26. November statt. 300 Mann, Angehörige von Polizei, Quislings Sturmabteilung und Gestapo, nahmen an der Aktion teil. Für den Transport der Verhafteten wurden beschlagnahmte Taxis verwendet. Nunna Moum wohnte damals im selben Pensionat wie Ruth. Sie erzählt, dass die Verhaftung ruhig vor sich ging. Zwei norwegische Polizisten führten die Österreicherin die Treppe hinunter auf die Straße zu einem wartenden Auto. Sie sollte sich auf den Rücksitz setzen, wo bereits zwei in Tränen aufgelöste Mädchen saßen. Die Mädchen im Pensionat weckten sich gegenseitig und beobachteten die Szene. Jemand sagte: 'Wir können auf deine Goldarmbanduhr aufpassen, bis du zurückkommst.' Ruth antwortete: 'Ich werde nie zurückkommen.'"

Am 26.11.42 werden auf dem deutschen Truppentransportschiff "Donau" 529 Jüdinnen und Juden nach Stettin gebracht, eine davon ist Ruth Maier. Von Stettin aus werden sie nach Auschwitz deportiert und dort kurz nach ihrer Ankunft ermordet. Über den Tod ihrer geliebten Freundin kam Gunvor Hofmo nie hinweg – in ihrem lyrischen Werk spielt Ruth Maier eine zentrale Rolle – vielleicht meint auch dieses Gedicht Ruth Maier:

"Sie wollen dein Leben

aber kriegen nur deine Haut

dein Leben strömt wie ein Fluss

durch deine wirkliche

Landschaft

wo der Tod überwunden ist

und die Freude ein Gast

dessen Worte du kennst …"


Weiterführende Links

Ruth Maier und Gunvor Hovmo: https://arolsen-archives.org/news/die-zwillingsseelen-ruth-maier-und-gunvor-hofmo/

ORF-Dokumentation über Ruth Maier: https://tv.orf.at/program/orf2/menschenma176.html

Dokumente über Ruth Maier: https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/das-kurze-leben-der-ruth-maier

Höhepunkte aus dem Musical "Briefe von Ruth": https://soundcloud.com/gisle-kverndokk/sets/letters-from-ruth-highlights

Trailer mit Auszügen aus dem Musical "Briefe von Ruth" – Weltpremiere in Gmunden: https://www.youtube.com/watch?v=18kaCMs2_6Y

Porträt der norwegischen Dichterin Gunvor Hofmo: https://www.youtube.com/watch?v=fStYyin159Q

Fünf Gedichte Gunvor Hofmos: https://www.signaturen-magazin.de/gunvor-hofmo--5-gedichte.html

(Jutta Hamberger)+++

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