Was wir lesen, was wir schauen (102)
Marion Zimmer-Bradley, Die Nebel von Avalon - Eine Welt voll Zauber und Magie
© Pixabay
22.09.2024 / FULDA -
Als Marion Zimmer-Bradleys 1.120 Seiten starkes Fantasy-Epos "Die Nebel von Avalon" 1982 erschien, konnte niemand ahnen, dass dieses Buch in kürzester Zeit Kultstatus erlangen würde. Fast aus dem Stand heraus schoss der Roman in den Bestsellerlisten nach oben und war der Beginn einer riesigen Fantasy-Welle.
Eintauchen und abtauchen
Die Artus-Saga in all ihren Windungen hier nachzuerzählen, sprengt den Rahmen, die meisten von Ihnen werden sie überdies in den Grundzügen kennen. Zum ersten Mal wird die Legende um König Artus hier aus weiblicher Sicht erzählt – und das ist eine kleine Revolution. Zimmer-Bradley packt in ihr Fantasy-Epos weibliche Alltags-Erfahrungen, mit denen sich ihre Leserinnen sofort identifizieren können, weil sie vieles davon selbst erlebten. Igraine, Morgana und Viviane kommen auch in anderen Überlieferungen der Artus-Sage vor, sind dort allerdings meist zu bösen Gegenspielerinnen des Helden Artus und seiner Ritter stilisiert, und für Guinevere blieb meist nur die Rolle der Ehebrecherin. Zimmer-Bradleys Perspektive auf die später derart christlich stilisierten Heldengestalten und deren Antagonisten ist anders. Sie macht klar, dass die Macht einst in den Händen von Frauen lag. Diese weibliche Macht war vielleicht nicht so offensichtlich wie die der Männer, sie wirkte oft im Verborgenen. Auch das ist ein Topos, mit dem viele Leserinnen sich sofort identifizieren können.
Der Kampf der Religionen
Familienepos à la Denver Clan
Nach mehr als 40 Jahren verfalle ich bei der Wieder-Lektüre dem Zauber dieser Saga mit allergrößter Leselust, denn Zimmer-Bradley gelingt es von der ersten Seite an, eine dichte, intensive Atmosphäre zu schaffen. Die keltisch-britische Welt ersteht vor unseren Augen und wir blicken auf eine Hochkultur, die der römischen in nichts nachsteht.
MZB und der Vorwurf des Kindesmissbrauchs
Und doch verspüre ich ein Grummeln, denn bei meinen Recherchen rund um den Roman bin ich auf die Vorwürfe von Zimmer-Bradleys Tochter Moira Greyland gestoßen. Die beschuldigte ihre Mutter, sie als Kind sexuell missbraucht und dem Treiben ihres zweiten Ehemanns Walter Breen keinen Einhalt geboten zu haben. Breen und Zimmer-Bradley waren von 1964 bis 1990 verheiratet, lebten seit 1979 getrennt voneinander, blieben aber in engem Kontakt. Breen ist ein verurteilter Kinderschänder, dessen Taten gut dokumentiert sind und der im Gefängnis starb. Die Vorwürfe Greylands wurden 2014 publik – nachlesen kann man das in ihrem Buch "The last closet – the dark side of Avalon". Ist Marion Zimmer-Bradley also eine Täterin, ist sie eine Mitwisserin? Die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Die Autorin können wir nicht mehr befragen, sie starb 1999. Es gibt keine unabhängige Untersuchung, es gibt kein Gerichtsurteil.
Mich haben diese Vorwürfe tief erschüttert. Ansätze wie "trennt die Künstlerin von der Kunst" führen meiner Meinung nach in eine Sackgasse. Niemand verdient für Missbrauch Nachsicht – und indem ich diesen Satz schreibe, ist mir sehr bewusst, wie oft gerade bei berühmten Menschen dagegen verstoßen wird. Ich fände es angebracht, wenn der Roman um ein differenziertes Nachwort erweitert würde.
Niemand muss das Buch von seiner Leseliste streichen, es ist und bleibt großartig. Auch Zimmer-Bradleys Pionierleistung für Frauen in der Fantasy bleibt unbestritten. Es ist allerdings eine nur schwer auszuhaltende Gleichzeitigkeit, dass diese Leistungen durch die furchtbaren Vorwürfe ihrer Tochter überschattet werden.
Weiterführende Links:
Die Nebel von Avalon to go: https://www.youtube.com/watch?v=X0IBzjnXHyM
Und Sommers Kommentar zu den Vorwürfen gegen MZB: https://www.youtube.com/watch?v=qMiyB0arMmI
Besprechung des Romans: https://soerenheim.wordpress.com/2021/07/27/nachtrag-zur-arthur-serie-die-nebel-von-avalon-ist-vielleicht-die-beste-moderne-bearbeitung-des-legendenzirkels/
Vorwürfe gegen Marion Zimmer-Bradley: https://hermanstadt.blogspot.com/2014/06/kindheit-in-avalon.html
https://www.tor-online.de/magazin/mehr-phantastik/neil-gaiman-und-co-wir-muessen-aufhoeren-menschen-auf-ein-podest-zu-stellen
https://thembeforeus.com/de/moira-greyland-i-was-born-into-a-family-of-famous-gay-pagan-authors-in-the-late-sixties/?fbclid=IwAR3Peuty2-ldwwDV4h5iimBZ9PY0PNR4FjIoYbuKdTxiVlU7E36kqnpUsq0
Was wir lesen, was wir schaun - weitere Artikel
Was wir lesen, was wir schauen (107)
Eric Malpass, Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
Was wir lesen, was wir schauen (106)
"Ich werde nie zurückkommen" - Ruth Maier, Es wartet doch so viel auf mich
Was wir lesen, was wir schauen (105)
Günter Grass, Das Treffen in Telgte - Gestern wird sein, was morgen gewesen ist
Was wir lesen, was wir schauen (104)
Anne Applebaum: Verlockung des Autoritären - Jenseits von richtig und falsch
Was wir lesen, was wir schauen (103)
Nina Burleigh, Donald Trump und seine Frauen - Ehefrauen als Accessoires
Was wir lesen, was wir schauen (101)
Edna O’Brien, Country Girls - Die furchtlose Erzählerin der Wahrheit
Was wir lesen, was wir schauen (100)
Ephraim Kishon, Drehen Sie sich um, Frau Lot - Der Mann mit den drei Karrieren
Was wir lesen, was wir schauen (99)
Betty Smith, Ein Baum wächst in Brooklyn - Ein Mutmacherbuch
Was wir lesen, was wir schauen (98)
"Make Hummus, not War!" - Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (97)
Ross Macdonald, Schwarzgeld - Vom richtigen und falschen Handeln
Was wir lesen, was wir schauen (96)
Ronald Reng, 1974 - Deutschland spielt gegen Deutschland
Was wir lesen, was wir schauen (95)
M. Atwood, Report der Magd -"Ich schreibe Bücher, damit sie nicht wahr werden"
Was wir lesen, was wir schauen (94)
Zuhause zwischen Berlin und Tel Aviv - Mirna Funk, Von Juden lernen
Was wir lesen, was wir schauen (93)
Thomas Mann, Die Buddenbrooks - Lebet wohl im prächt’gen Hause
Was wir lesen, was wir schauen (92)
Marianne Brentzel, Mir kann doch nichts geschehen - Nesthäkchen im KZ
Was wir lesen, was wir schauen (91)
Cord Jefferson, American Fiction - Heucheln Sie ruhig weiter
Was wir lesen, was wir schauen (90)
Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?
Was wir lesen, was wir schauen (89)
Johannes Mario Simmel, Und Jimmy ging zum Regenbogen - zerstörte Träume
Was wir lesen, was wir schauen (88)
Kerstin Wolff: Tomate, Fahrrad, Guillotine - kurze Frauengeschichte in 30 Bildern
Was wir lesen, was wir schauen (87)
Erich Kästner, Emil und die Detektive - Zeit für kluge Kinder
Was wir lesen, was wir schauen (86)
Volker Kutscher, Olympia - Deutschland auf dem Weg in die Finsternis
Was wir lesen, was wir schauen (85)
Wieslaw Kielar, Anus Mundi - Fünf Jahre in Auschwitz - "Ich will leben"
Was wir lesen, was wir schauen (84)
Dorothy L. Sayers, Starkes Gift - Alles hieb- und stichfest?
Was wir lesen, was wir schauen (83)
Auf ein gutes neues Jahr mit horizonterweiternder Lektüre
Was wir lesen, was wir schauen (82)
Ein Gabentisch für Sie mit lohnenden Büchern, CDs und Filmen
Was wir lesen, was wir schauen (81)
Nicholas Blake, Das Geheimnis von Dower House - rätselhaft und very british
Was wir lesen, was wir schauen (80)
"Make Hummus, not War!" Ben David Oz & Jalil Dabit, Kanaan – das Kochbuch
Was wir lesen, was wir schauen (79)
Martin Doerry, Lillis Tochter - Mein beschädigtes Leben
Was wir lesen, was wir schauen (76)
Lionel Feuchtwanger, Erfolg - Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt
Was wir lesen, was wir schauen (75)
Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein - Haltet fest an euch und euren Zielen
Was wir lesen, was wir schauen (74)
Loren D. Estleman, Kill Zone - "Mein Beruf ist das Töten"
Was wir lesen, was wir schauen (73)
The Collected Words of Jim Morrison - No one here get’s out alive
Was wir lesen, was wir schauen (72)
Elizabeth George, Auf Ehre und Gewissen - Nicht Gold, sondern Grauen
Was wir lesen, was wir schauen (71)
Stefan Kruecken, Das muss das Boot abkönnen - Das Meer, der große Sortierer
Was wir lesen, was wir schauen (70)
Selma Lagerlöf, Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen
Was wir lesen, was wir schauen (69)
Gwen Bristow, Kalifornische Sinfonie: Go West - der Liebe wegen
Was wir lesen, was wir schauen (68)
Jessamine Chan, Institut für gute Mütter - "Ihre Tochter ist jetzt bei uns"
Was wir lesen, was wir schauen (67)
Dashiell Hammett, Der Malteser Falke - Die Revolution des Kriminalromans
Was wir lesen, was wir schauen (66)
Marie Antoinette – die verkannte Königin
Was wir lesen, was wir schauen (65)
Vicki Baum, Menschen im Hotel - Hier ist immer was los
Sensationell: vier Oscars für deutschen Film
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (64)
Lee Child, Die Hyänen (Jack Reacher Bd. 24) - Ein amerikanischer Held
Was wir lesen, was wir schauen (63)
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiv - Der Chronist des Krieges
Was wir lesen, was wir schauen (62)
Prince Harry, Spare – Reserve - Der klagende Prinz
Was wir lesen, was wir schauen (61)
Reiner Engelmann, Der Fotograf von Auschwitz - "Uns der Geschichte stellen"
Was wir lesen, was wir schauen (60)
Agatha Christie, Und dann gab’s keines mehr - Der schöne Schein trügt
Was wir lesen, was wir schauen (59)
Bücher und Filme für "zwischen den Jahren" - Weihnachtszeit - Schmökerzeit!
Was wir lesen, was wir schauen (58)
Ach, Sie lieben Kunst? - Hannah Rothschild, Die Launenhaftigkeit der Liebe
Was wir lesen, was wir schauen (57)
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues - Das Grauen der Welt
Was wir lesen, was wir schauen (56)
Maggie Haberman, Täuschung - Aufstieg Trumps und Untergang Amerikas
Was wir lesen, was wir schauen (55)
Emelie Schepp, Nebelkind - Manche Wunden heilen nie
Was wir lesen, was wir schauen (54)
John Sweeney, Der Killer im Kreml - Der Zar der Korruption
Was wir lesen, was wir schauen (53)
Alan Bennett, Die souveräne Leserin - Lesen gegen die Leere des Lebens
Was wir lesen, was wir schauen (52)
Anja Mazuhn, Meine wilden Inseln - Die Weite des Himmels und der See
Was wir lesen, was wir schauen (51)
Aiga Rasch, Im Schatten des Ruhms - Die Mutter der drei Fragezeichen
Was wir lesen, was wir schauen (50)
Theodor Fontane, Der Stechlin - Ein neues Zeitalter bricht an
Was wir lesen, was wir schauen (49)
Lupita Nyong‘o: Sulwe - Feiere das Leuchten in Dir
Was wir lesen, was wir schauen (48)
Emily Ratajkowski, My Body - Schön und feministisch