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Kristine von Soden, Ob die Möwen manchmal an mich denken?

Möwen bei der Heringsdorfer Seebrücke.
Foto: Jutta Hamberger

07.04.2024 / FULDA - Ostern liegt hinter und Pfingsten vor uns, Frühlingslaune und Urlaubsgefühle sind ganz nah. Viele schmieden schon Pläne für den Urlaub. Mal geht’s an immerwährende Lieblingsziele, mal bewusst weit weg. Niemandem kommt dabei der Gedanke, dass er oder sie an einem bestimmten Urlaubsziel nicht erwünscht sein könnte.



Schutzräume und Rückzugsorte

Als häufige Nord- und Ostsee-Urlauberin hat es mich besonders interessiert, wie die Urlaubsorte dort in der NS-Zeit mit jüdischen Deutschen umgingen. Dazu ist ein ebenso spannendes wie beklemmendes Buch erschienen, Kristine von Sodens "Ob die Möwen manchmal an mich denken?" Es befasst sich mit der Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee. Antisemitismus war in fast allen Badeorten weit verbreitet. Kristine von Soden zieht Archivmaterial, historische Quellen, Fotografien und Tagebuchnotizen heran.

So entsteht ein vielschichtiges Bild des Strandlebens von der Wilhelminischen Zeit bis 1937, dem Jahr, als Juden endgültig aus den Badeorten verbannt wurden. Nur wenige Badeorte waren liberal und Juden konnten sich dort wohlfühlen, dazu zählt z.B. Heringsdorf auf Usedom. Zinnowitz (Usedom) hingegen lehnte schon 1895 jüdische Badegäste entschieden ab. Sassnitz und Sellin auf Rügen sind judenfeindlich eingestellt, ebenso Bansin (Usedom), Zingst, Graal, Müritz und Bad Leba in Pommern.

Parole ‚Judenrein!‘

Jüdische Zeitungen informierten ihre Leser schon lange vor Beginn der Hitler-Diktatur mit Bäderlisten darüber, wo man "unerwünscht" war – ähnliche Informationen gab es auch zu Hotels und Pensionen. Es ist erschreckend, dass die Parole "Judenrein!" an der Küste schon weit vor der Existenz des NS-Staates galt.

Der Jüdische Central-Verein (C.V.) mit ca. 90.000 Mitgliedern zu Beginn des 20. Jahrhunderts handelte nach der Maxime "Wehrt euch!" und forderte zu "Gegenpropaganda" auf, man solle über das Judentum und seine Kultur aufklären, "um Vorurteilen den Wind aus den Segeln zu nehmen". Der C.V. unterhält eine eigene Rechtsschutzabteilung, die jüdische Betroffene berät. "Meist jedoch weisen Staatsanwälte jene Anliegen mangels öffentlichen Interesses ab. Bringt man Täter antisemitischer Sudeleien oder Handgreiflichkeiten doch vor den Kadi, lautet das Urteil in der Regel Freispruch. Wird eine Strafe verhängt, ist diese lächerlich gering", so von Soden.

Bad Leba in Pommern (heute Kaschubien in Polen) wollte das ‚Borkum der Ostseeküste‘ sein, ein entsprechendes antisemitisches Machwerk macht das überdeutlich:

"Schönes Bad im Pommernlande,
Heil Dir, dass du deutsch willst sein,
‚unsre Lait‘ und koschre Räte,
sie begaunern andre Städte,
aber du bist judenrein.
Nicht geduldet soll der Cohn sein,
Glück und Wohlstand wird dein Lohn sein,
blühen wirst du und gedeih’n.
Lebst du nicht von Juden Gnaden,
werden gern dort Deutsche baden,
Leba bleibe judenrein!"

Ähnlich widerlich ist das um 1922 entstandene Zinnowitz-Lied (eine Paraphrase des Borkum-Lieds), das auf einer Postkarte als Andenken verkauft wurde. Die konnte man an gleichgesinnte Freunde schicken, oder täglich mitsingen, wenn die Kurkapelle das Lied zum Abschluss aller Konzerte anstimmte.

Prominente jüdische Badegäste

Zur jüdischen Badeprominenz zählen Else Lasker-Schüler, George Grosz, Hannah Ahrend, Mascha Kaléko, Dora Diamant, Josef Roth oder Victor Klemperer. Else Lasker-Schüler urlaubte am liebsten in Kolberg, der Heimatstadt des Sexualforschers Magnus Hirschfeld, mit dem sie befreundet war. Das Familienhaus der Hirschbergs war zur "Pension Villa Sommerheim" (später "Villa Agnes") umfunktioniert worden, hier mietete Lasker-Schüler sich erstmals 1915 ein. Nirgends war die Dichterin glücklicher, Kolberg und sie – das war Liebe auf den ersten Blick. Über das Meer schreibt sie 1930: "Das Meer ist die weite strömende, der Welt ‚gebliebene‘ Seele. Das Meer ist von dieser Welt. Aber der Geist Gottes schwebt über seine Wasser. Wie tauchen ein in das heilige Element und erlösen uns von aller Erdenschwere."

1904 reisen Viktor Klemperer und Eva Schlemmer erstmals an die Ostsee. Sie geben sich als Ehepaar aus – das sind sie allerdings erst 1906. Sie fühlen sich sofort wohl und kommen bis 1926 fast jährlich wieder. Aber auch sie berichten bereits in den 20er Jahren von antisemitischen Hetzereien und dem einsetzenden Stimmungswandel.

Josef Roth reist 1924 nach Rügen und schreibt über Binz: "Poetisch veranlagte Naturen und geschickte Reklamefachleute nennen es ‚das nordische Sorrent‘. Es har 20 Hotels und 200 Mietvillen und eine 2 km lange Strandpromenade, von Schminke, Puder, Atropin, Tennisschlägern und Bügelfalten, Likördielen und Angeheiterten bevölkert; ein Kurhaus mit Tanzgelegenheiten für Smokings und Abendtoiletten; und sogar Hakenkreuzfahnen. (…) Das Meer aber ist ewig, rein und unberührt von dem kindischen und grausamen Spiel der Menschen. Man sieht in die weite Unendlichkeit aus Himmel und Wasser und vergisst. Der Wind, der die Hakenkreuzfahne bläht, weiß nichts von ihr. Die Welle, in der sie sich spiegelt, kann nichts dafür, dass sie entweiht wird."

Auf Hiddensee erwirbt die dänische Stummfilm-Diva Asta Nielsen 1928 ihr Ferienhaus namens Karusel. Erbaut hatte es der renommierte Berliner Architekt Max Taut. Oft blieb sie mehrere Monate auf der Insel, "unter einem unfassbar hohen und blauen Himmel, in Licht und Farben getaucht, die hier noch leuchtender waren als an anderen Orten des Nordens", wie sie schreibt. Das Haus wurde schnell zum Treffpunkt ihres ausgedehnten Freundeskreises, zu dem u.a. Joachim Ringelnatz, Heinrich George und Gerhart Hauptmann gehörten. Als sich auch auf der freigeistigen Künstlerinsel der Nationalsozialismus und mit ihm der Judenhass immer breiter machen, kehrt Asta Nielsen 1933 Deutschland und Hiddensee für immer den Rücken.

Vertrieben an der Ostsee, ermordet im Vernichtungslager

Die Autorin erspart uns nicht, die Verbindungslinie vom Antisemitismus der Seebäder zur Vernichtung der Juden in den Todesfabriken zu ziehen. Aus dem Jahr 1938 berichtet sie aus Prerow im Fischland, dass im Badeprospekt ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass Juden unerwünscht seien. Das "Darßer Heimatbuch" berichtet von der Beschwerde eines Magdeburger Fabrikanten, der sich durch jüdische Kinder gestört fühlte in seinem Strandvergnügen und sich wundert, dass die Prerower Bevölkerung in Rassefragen offenbar zu wenig geschult sei, um "diese typischen Judenkinder" nicht sofort als solche zu erkennen. Der Kurdirektor möge sich um die Entfernung kümmern. Dieser tut das schleunigst und verweist die Kinder und ihre Erzieherin Gertrud Heßlein, die ihnen den Urlaub ermöglicht hatte, des Ortes. Die drei Kinder sind Irma (14), Mirjam (12) und Sonja Sonnenschein (9 Jahre) – Vollwaisen. Im November 1942 werden die drei Mädchen interniert und 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet werden.

Der Antisemitismus der Bäder ist ein Spiegelbild der antijüdischen Einstellung im deutschen Alltag. Die Vertreibung der Juden aus den Seebädern geschah zunächst überwiegend "von unten", also nicht auf Anordnung. Sie missachtete dabei jegliche Rechtsnormen, das in der Weimarer Verfassung garantierte Freizügigkeitsrecht interessierte hier keinen. Nach 1933 beschleunigt sich der Prozess durch die antisemitischen Gesetze der Nationalsozialisten.

Kristine von Soden: "Rund 60 Jahre reisten jüdische Badegäste zur Sommerfrische an die Ostsee. Niemand kennt ihre Zahl, weiß, wie viele es in den einzelnen Seebädern je waren. Ihre Spuren sind verweht, verwischt." Dieses hervorragend recherchierte und elegant geschriebene Buch macht klar: Die Vertreibung und Vernichtung der Juden war ein menschlicher, gesellschaftlicher und kultureller Verlust, an dem wir bis heute schmerzlich leiden. (Jutta Hamberger)+++

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