Echt jetzt! (27)

Beiß nicht gleich in jeden Apfel! - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Apfel mit Schatten.
Foto: Michael Otto, Künzell

11.10.2024 / REGION - Schauen Sie nur, wie sie uns anlacht, diese faltenfreie Schönheit – pausbäckig, knackig, rund. Zum Reinbeißen, dieser Apfel. "Genauso isses", würde die aus Fulda stammende Hessenschau-Moderatorin Kristin Gesang wahrscheinlich sagen. Seien wir aber auf der Hut: Selbst unser tägliches Pflicht-Obst kann gefährlich sein. Das haben Lebensmittel-Forscher herausgefunden. Unser Allheilmittel kann dran schuld sein, wenn plötzlich Zunge und Augen jucken, vom Anschwellen der Lippen und der Mundschleimhaut sowie der explosionsartigen Nieserei ganz zu schweigen. Aber bleiben sie ruhig, keine Panik: die Rettung ist schon da. Man muss sie nur pflücken...



Wencke Myrhe, die meistens gut gelaunte norwegische Schlager-Ikone, hat es bereits 1966 geahnt und dann auch gleich rausgesungen:

Beiß nicht gleich in jeden Apfel
Er könnte sauer sein
Denn auf rote Apfelbäckchen
Fällt man leicht herein.

Genauso isses, Wencke. Naja, bis auf die Säuernis, da müssen wir nochmal drüber reden. Die Deutschen, lesen wir im AOK-Gesundheitsmagazin, futtern pro Jahr im Schnitt 24,4 Kilo Äpfel, am liebsten Elstar, Braeburn und Jonagold. Gesunde Äpfel gelten als "Superfood", mit Vitaminen, Kalium, Kalzium und Eisen gespickte Kraftbomben. Antioxidantien helfen im Zusammenspiel mit Polyphenolen gegen Krebs, Herzinfarkt, Arteriosklerose, Asthma, Diabetes und andere Scheußlichkeiten, die kein Mensch braucht. Blutgerinnung und Verdauung werden ebenfalls "positiv beeinflusst". So weit, so herrlich. Wenn da nicht diese "Frankenstein-Äpfel" wären (pardon, aber so hat sie die sonst so vornehme FAZ genannt).

"An Apple a Day keeps the Doctor away”. Die Waliser haben den Spruch erfunden, 1866 bereits, und seitdem hat sich die Huldigung an den Apfel in den westlichen Ländern meistens in Reimform verbreitet. Selbst die Italiener dichten sich eins ab: "Una mela al giorno toglie il medico di torno" – so jedenfalls steht’s im Wikipedia. Auf deutsch: "Ein Apfel am Tag – mit dem Doktor kein Plag". Mal abgesehen davon, dass die Macht der Äpfel uns auch nicht davor schützen kann, dass uns schon mal ein Dachziegel auf den Kopf fallen oder ein E-Scooter in die Hacken fahren kann. Ansonsten können wir auf Pillen- und Pulver-Vitamine verzichten, wenn wir den Äpfeln treu bleiben.

Aber sind die Früchte, an denen wir uns laben, wirklich das, wofür wir sie halten? Allergologen an der Berliner Charité reden gern von "Problemäpfeln". Zehn bis 20 Prozent der Deutschen sollen an einer Apfelallergie leiden, einer Verwandten der scheußlichen Birkenpollen-Allergie. Schuld an ihrem Leiden sind apfel-ähnliche Geschöpfe, die es im Supermarkt zu kaufen gibt. "Die Agrarindustrie", schreibt die FAZ, "hat Hunderte alter Sorten aussortiert, um sie durch eine Handvoll neuer Züchtungen mit wundersamen Eigenschaften zu ersetzen." Polyphenole und Antioxidantien wurden ihnen weggezüchtet. Knackig und faltenfrei sind sie, alle gleich groß (und deshalb leicht zu transportieren), schmecken honigsüß und wenn man sie anschneidet, gibt’s selbst nach einer Wartezeit keine faulig-braunen Stellen – leider sind sie für viele Menschen unverträglich. Unter Allergie-Verdacht stehen vor allem Äpfel der Sorten Golden Delicious, Granny Smith, Braeburn, Jonagold, Elstar, Gala und Pink Lady. Na, kommen Ihnen da nicht einige bekannt vor? Wer freilich zu Äpfeln greift, die nicht in den riesigen Plantagen in Form gebracht werden, lebt weiterhin gesund. Ausführliche Informationen zu Apfel-Allergien gibt es übrigens im Internet auf dieser Seite: https://www.bund-lemgo.de/apfelallergie.html.

Ein herbstlicher Nachmittag in Hainzell. Neben dem Dorffriedhof erstreckt sich hinter Zäunen und Gebüsch eine der größten Streuobstwiesen des Landkreises: 500 Obstbäume, vom örtlichen Obst- und Gartenbauverein akribisch gepflegt. Die Streuobst-Enthusiasten am Eingang zum Vogelsberg sind nicht allein in der Region. In Fulda werden 80 Streuobstwiesen gezählt, vom Kalvarienberg bis zur Propstei Johannesberg. Das Fuldaer Vonderau-Museum widmet den kostbaren Früchten aus alten Zeiten eine Sonderausstellung über Streuobstwiesen (noch bis zum 12. Januar). Seit 2015 pflanzt Großenlüder jedes Jahr sechs Obstbäume "einer erhaltenswerten Sorte" für die Neugeborenen der Gemeinde. Seit 2010 spendiert Förstina jedem Neugeborenen in Eichenzell einen eigenen Apfelbaum "einer alten Rhöner Sorte". Die "Rhöner Apfelinitiative" in Seiferts kämpft um Erhalt und Verbreitung der alten Apfelsorten. In der fränkischen Rhön wartet gleich ein gesamtes "Streuobstdorf" auf Besucher: Hausen, an der Südwestseite der Hochrhön, pflegt bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts seine einzigartigen Streuobstwiesen samt "Streuobstlehrpfad". Am übernächsten Sonntag (20. Oktober) findet auf dem Hausener Kirchplatz wieder der legendäre Apfelmarkt statt: Säfte, Kuchen, Äpfel satt! In der Brennerei Dickas in Bischofsheim gibt’s Apfelbrände, Liköre, Kräuterschnäpse. Beim umtriebigen "Apfelwinzer" Jürgen H. Krenzer in Seiferts gibt es alles, was der Mann aus der Frucht herauspressen und -destillieren kann: vom preisgekrönten alkoholfreien "Apfel-Secco" namens Siggi über edle Apfelweine bis hin zum Apfel-Sherry (aus dem Barrique-Fass). "Die Streuobstwiese ist unser Kiez" – so wirbt der angesagte Getränke-Hersteller Wiesenkiez für sich. In Niederrode verarbeitet der Biolandwirt Christoph Jestädt, studierter Germanist und Theologe, die Früchte der eigenen Streuobstwiese zu Apfelsaft, Apfelschorle, Apfelglühwein und Cider – so nennt man auf Neudeutsch den Apfelwein.

Mehr als 6.300 Apfelsorten gibt es, allein 500 regionale Apfelsorten kennt man in der Rhön. Eine kleine Auswahl naturbelassener, allergie-unverdächtiger Äpfel – viele davon wachsen auch auf unseren Streuobstwiesen:

Winterprinz. Extrem robust, norddeutsch, galt im Krieg als wichtiger Vitaminlieferant. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts weit verbreitet.

Winterglocke. Stammt aus dem Süden, schmeckt säuerlich-frisch. Ist in Norddeutschland Streuobstsorte des Jahres.

Goldparmäne. Wahrscheinlich um 1510 in der Normandie gezüchtet und damit eine der ältesten Apfelsorten. Gilt allerdings als sehr empfindlich.

Danziger Kantapfel. 1703 zum ersten Mal auf Rügen erwähnt. Rosafarbene Blüten! Anspruchslos, frosthart, das Fruchtfleisch ist mit roten und grünen Adern durchzogen.

Schöner aus Boskoop. Ursprung: Niederlande. Mächtige, fast ein viertel Pfund schwere Äpfel. Säuerlich. Als Bratapfel und für Apfelpfannkuchen besonders zu empfehlen!

Bischofsmütze. War im vergangenen Jahr Streuobst des Jahres in Hessen. Der Apfel, den man auch "Geflammter Kardinal" nennt, stammt aus Deutschland, schmeckt säuerlich-süß und gilt als eine Art Allerweltsapfel. Ein weiterer Name zeigt, wofür er besonders gern verwendet wird: Tortenapfel.

Korbacher Edelrenette. Hessisches Streuobst dieses Jahres. Saftig, süßsauer. Ganz viele Polyphenole stecken in dem knorzigen kleinen Apfel, für den die Hessen noch ganz andere Bezeichnungen haben: "Schmärzlätzchen" oder "Mückenpisser".

Ausbacher Roter. Der rotbackige Apfel ist kein Weichei. Fühlt sich in der Kuppenrhön daheim: auf kargem Boden, die Früchte trotzen den Stürmen.

Der reinste Apfel allerdings wächst nach dem Urteil von Puristen am Fuße des Tjan-Shan-Gebirges rund um die Millionenmetropole Almaty; früher hieß die Hauptstadt Kasachstans Alma Ata. Das bedeutet: Großvater des Apfels. Dort bäumt sich noch heute der Asiatische Wildapfel (Malus Sieversii) bis zu 30 Meter hoch auf, "ein genetischer Schatz für die ganze Menschheit", jubeln Naturforscher. Der Ur-Apfelbaum wird bis zu 300 Jahre alt, ist resistent gegen Ungeziefer und Krankheiten jeder Art – und die Menschen, die seine Früchte futtern, kennen keine Apfel-Allergie.

Das gilt natürlich auch für Schmecklecker, die gern "sortenreinen" Apfelwein genießen. Die Hessen halten ihrem säuerlichen Nationalgetränk eisern die Treue: immerhin sechs Liter trinken sie pro Jahr, die Frankfurter bringen es sogar auf die doppelte Menge. Jenseits unserer Landesgrenzen schaffen Germanen gerade mal 0,6 Liter. Ein Fehler, Damen und Herren: Schließlich steht der "Äppler" in dem Ruf, ähnlich gesund zu sein wie die Frucht, aus der er gekeltert wird. Ein gewisser Dr. Hammer, in den 60er Jahren Kurarzt in Schlangenbad, stellte dem Getränk ein überwältigendes Gesundheitszeugnis aus: Fördert die Verdauung. Verbessert die Magendurchblutung. Senkt den hohen Blutdruck. Entfettet das Blut. Bekämpft im erhitzten Zustand Erkältungskrankheiten. Und ein Anti-Depressivum ist er auch: "Apfelwein fängt traurige Stimmungslagen ab und wirkt der Kontaktarmut entgegen." Ob der Doktor vielleicht nach dem Genuss dieses Gesundheits-Drinks im angepichelten Zustand etwas zu euphorisch geurteilt hat? Naja, Hauptsache es schmeckt. Übrigens könnte es sich empfehlen, noch ein wenig von dem Stöffche zu bunkern: Weil der Frost im April die Blüten gekillt hat, ist mit massiven Ernteausfällen zu rechnen. Wir wissen ja, was das bedeutet: Billiger werden die Äpfel nicht, weder in fester noch in flüssiger Form.

Zum Trost trinken wir noch ein Gläschen. Hier kommt der passende Trinkspruch für Hartgesottene:

Vieles kann der Mensch vertragen,
Auch an Apfelwein und Wurst.
Denn ein Abgrund ist der Magen,
Und ein Teufel ist der Durst. (Rainer M. Gefeller) +++

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