Berufe, Berufungen, Menschen (33)

Marc und Andrè, HHFR und blista: Studieren mit Handicap – (K)ein Problem!?

Marc Schlarb und Andrè Schlegl auf dem blista-Campus in Marburg
Fotos: goa

09.10.2023 / ROTENBURG / MARBURG - Marc ist blind, Andrè war sein gesetzlich anerkannter Assistent während des Studiums an der Hochschule für Finanzen und Rechtspflege in Rotenburg. Blind studieren und als Rechtspfleger bei einem hessischen Gericht arbeiten - geht das? OSTHESSEN|NEWS hat mit Marc und Andrè gesprochen und war in der Hochschule in Rotenburg. Die "Spur" führte aber auch schnell nach Marburg, zu einer in Deutschland einzigartigen Einrichtung.



Barrierefreiheit in der Öffentlichkeit, in der Schule, im Arbeits- und Freizeitleben – jeder spricht über Inklusion als "Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in allen Bereichen" (Definition VdK Hessen-Thüringen). Geschlechts- und altersunabhängig, draußen und drinnen, im wahrsten Sinne des Wortes "drinnen" – nämlich vor allem auch in möglichst allen Köpfen, so sollte es sein. Mit Beeinträchtigung aufwachsen, spielen, lernen, studieren, arbeiten. Natürlich!?

Von Geburt an blind

Der heute 36-Jährige, in Marburg wohnhafte Marc Schlarb ist von Geburt an blind. Der Pfälzer erlangte in Marburg an der blista (siehe unten) das Fachabitur und verspürte schon lange ein großes Interesse an juristischen Dingen. "Ich habe einen großen Gerechtigkeitssinn, so entstand eine gewisse Leidenschaft für Gerichtssendungen im Reality-TV und schließlich der Wunsch, mich auch beruflich in diese Richtung zu bewegen." Über Bekannte erhielt er den Tipp, dass für das Studium zum Rechtspfleger das Fach-Abitur ausreichend sei. Schlarb sprach vor seiner Bewerbung mit einem bereits bei der Staatsanwaltschaft arbeitenden blinden Rechtspfleger und schon konnte das Studium in Rotenburg mit mehreren Arbeitspraktika an Ausbildungsgerichten beginnen.

In Theorie und Praxis assistierte ihm Andrè Schlegl, ebenfalls 36 Jahre alt. Der aus Ostfriesland stammende Andrè hat zwar auch eine starke Sehbeeinträchtigung und gilt im Bürokraten-Deutsch rechtlich als "Blind", kann aber die Restsehkraft mittels technischer Hilfen wie einer elektronischen Lupe sehr gut kompensieren. "Diese Form der Assistenz ist gesetzlich normiert und hat bei Andrè und mir eigentlich sehr gut funktioniert. Es war einerseits von großem Vorteil, dass wir uns als langjährige Freunde bereits vorher sehr gut kannten, und andererseits zeigte sich, dass der auch selbst gehandicapte Andrè eine besondere Sensibilität für meine speziellen Bedürfnisse hatte und keine Berührungsängste kannte!", erklärt Marc.

Klage vor dem Arbeitsgericht

Andrè bestätigt das Funktionieren des assistierten Studiums zwar, verweist aber auch auf Stolpersteine. "Krass war das Verhalten einer verantwortlichen Ausbildungsgerichtsmitarbeiterin einer Praktikumsstation, die mich als Assistenz von Marc wegen meiner eigenen Beeinträchtigung glatt ablehnte. Wir waren beide empört und uns schnell einig, dagegen zu klagen. Unsere gemeinsame Klageschrift, bei der Marc natürlich in seinem Element war, hatte Erfolg und es wurden mir vom Arbeitsgericht mehrere tausend Euro zugesprochen."

Theorie und Praxis – vieles geht, aber noch nicht alles

Dieser juristische Sieg konnte letztlich allerdings nicht die grundsätzlichen Zweifel bei Marc beseitigen: "Es wurde mir im Laufe des Studiums immer klarer, dass es in der späteren gerichtlichen Praxis schwer würde, mich ohne einen Assistenten zurechtzufinden. Die "elektronische Akte", die sogenannte E-Akte, ist in der gerichtlichen Praxis noch nicht umgesetzt, vieles basiert noch auf handschriftlichen Vermerken. Und selbst manche Inhalte, die zwar elektronisch erfasst sind, liegen lediglich als Bilddatei vor und sind nicht über eine Sprachausgabe zugänglich." Die Erkenntnis, nach dem Studium für die Arbeit an einem Gericht eigentlich weiter eine Assistenz zu benötigen, diese Form der Arbeit aber so nicht zu wollen, lies die Motivation sinken – Marc erreichte äußerst knapp nicht die für die Diplomierung erforderliche Punktzahl und sah auch bewusst von einer Wiederholung ab. Er arbeitete anschließend als zertifizierter Medizinprodukteberater und ist wie Andrè aktuell an der blista tätig, wo unter anderem die Prüfung barrierefreier Dokumente und Websites sowie der technische Support in der Hörbücherei zu seinem Aufgabenspektrum gehört. Die hohe Zufriedenheit mit seiner Arbeit und den Bedingungen an seiner Arbeitsstelle ist unverkennbar, und dennoch kommt Marc Schlarb zu dem Ergebnis: "Wenn die E-Akte konsequent in der gerichtlichen und allgemein der behördlichen Verwaltungspraxis angekommen ist, ist ein Arbeiten auch für blinde Menschen ohne Probleme möglich. Der rechtlich-juristische Bereich bleibt mein Traum, vielleicht komme ich nochmal drauf zurück!"

Die HHFR und das Studium mit Handicap

Das Studienzentrum Rotenburg oder auch "Hessische Hochschule für Finanzen und Rechtspflege (HHFR)" genannt, leistet die Ausbildung der Beamtenanwärter in den Ressorts Justiz und Finanzen, sowohl für den mittleren als auch und den gehobenen Dienst.

Alexander Kerst ist als Geschäftsbereichsleiter unter anderem für die Organisation und die Unterbringung aller Anwärterinnen und Anwärter zuständig. Menschen mit Handicaps gehören inzwischen ganz selbstverständlich zum ständig wechselnden Auszubildenden- und Studierendenbestand, so Kerst vor Ort im Gespräch mit O|N. Mehrere vorhandene Schwerbehindertenzimmer mit barrierefreiem Zuschnitt bieten beste Voraussetzungen: elektronische Türöffner, höhenverstellbare Tische im Unterbringungs- wie im Lehrsaalbereich, kurze Laufwege aller Bereiche von Lernen bis Wohnen, Freizeit und Sport. Gegebenenfalls notwendige bauliche oder technische Maßnahmen werden im Austausch mit dem Integrationsamt, dem LWV und anderen Organisationen getätigt, um Menschen trotz eines vorhandenen Handicaps in Ausbildung und Beruf zu bringen. Menschen mit Sehkrafteinschränkung können mit und ohne Assistenzperson aufgenommen werden, bei einer Gehöreinschränkung oder Taubheit ist bei Bedarf ein "Übersetzer" dabei, der neben dem Dozenten steht und in Gebärdensprache 1:1 dolmetscht. Eine Schwierigkeit ist dann zuweilen, dass es sich im beruflichen Bereich um keine Umgangssprache handelt, sondern immer wieder Fachtermini vorkommen und auch unvermeidbar sind - das sogenannte "Fach-Chinesisch". "Aber das spielt sich schnell ein", weiß Alexander Kerst aus seiner langjährigen Erfahrung zu berichten, und bringt es selbstbewusst auf den Punkt: "Wir machen im Studienzentrum für die Ausbildungs- und Studienintegration von Menschen mit Handicap alles Mögliche möglich, und manchmal sogar das Unmögliche!"

Die blista in Marburg: die Deutsche Blindenstudienanstalt

Wer in Marburg unterwegs ist, dem fallen sicher recht schnell die vielen Fußgänger mit ihren weißen Stöcken als Hilfsmittel auf. Hintergrund: Marburg ist Sitz der "blista", einem bundesweiten Kompetenz­zentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung. "Die Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. (blista) in Marburg ist eine auf die speziellen Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen ausgerichtete Bildungseinrichtung, die verschiedene Schul- und Berufsabschlüsse anbietet. Zu ihr gehört auch das einzige grundständige Gymnasium für Schüler mit Blindheit und Sehbehinderung in Deutschland ab Klasse 5. Die seit 1916 existierende, auf Carl Strehl zurückgehende Institution hat sich aus kleinen Anfängen zum Kompetenzzentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus entwickelt." (Quelle: wikipedia). Zur blista gehören die Carl-Strehl-Schule, die Rehabilitationseinrichtung für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung und das Internat mit seinen aktuell mehr als vierzig dezentralen Wohngruppen, die Blinden-Bibliothek und die Braille-Druckerei. (goa) +++

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