"Berufe. Berufungen. Menschen!" (6)

Vom Kirtorfer Bub ins Cockpit von Hessens "Air Force One"

Helmut Lingnau vor der Alouette
Foto: Privat

03.04.2023 / EGELSBACH / KIRTORF - Verbrecherjagd aus der Luft, die Suche nach Flüchtigen oder Verletzten, die auch mal mittels Winde aus unzugänglichen Stellen geborgen werden, das Lokalisieren von Brandherden aus der Luft, das Aufspüren von Umweltsündern an und in Gewässern, das koordinierte Heranführen von Polizeikräften als "Fliegendes Auge" – um das alles geht es in diesem Porträt.


Es gibt "Traumberufe", die lassen sich tendenziell eher leicht erreichen; es gibt aber auch welche, die sind nur schwer zu verwirklichen, erfordern ein sehr hohes Anforderungsprofil und sind auch vom Stellenangebot nur sehr dünn gesät. Pilot bei der Hubschrauberstaffel der Hessischen Polizei zu sein, gehört unzweifelhaft zur letztgenannten Gruppe. OSTHESSEN|NEWS war zu Gast bei Helmut Lingnau, einstmals Kirtorfer Bub, dessen Traum als Polizei-Hubschrauberpilot wahr wurde. Zu seinen Erlebnissen und Erfahrungen auf seinem Berufs- und Lebensweg könnte man ein Buch schreiben – wir versuchen, es hier zu komprimieren.

Vita

Helmut Lingnau, Jahrgang 1948, besuchte die dreiklassige Volksschule in seinem Heimatort Kirtorf. Mit 14 Jahren und nach der achten Klasse begann er eine Elektriker-Lehre in Maulbach – acht Kilometer mit dem Fahrrad, jeden Tag. Geselle war er 1965, doch das war nicht seine Erfüllung. Vielmehr faszinierte ihn angesichts der bevorstehenden Musterung ein Ausstellungs-"Starfighter" der Luftwaffe, der bei einer Berufswerbemesse zu sehen war. Mit der Bundeswehr und dem Fliegen wurde er auch vor der Haustür konfrontiert: auf dem Kirtorfer Truppenübungsplatz übte die Truppe unter anderem die Bekämpfung ausgedienter Panzer aus der Luft. Als er in einem Geschäft einen jungen Polizeianwärter traf, entschloss er sich aber zur Bewerbung bei der hessischen Polizei. Mit Erfolg: nach 30 Monaten Ausbildung begann er 1969 als Polizeiwachtmeister im Streifendienst bei der Polizeistation Dieburg. Damit war auch der Umzug nach Südhessen verbunden.

Versuchter Mord - Fast vom flüchtenden Bus zerquetscht worden

Schon bald sollte eine routinemäßige Anhaltekontrolle eines verdächtigen Kleinbusses zu einem Erlebnis werden, das er nie mehr vergessen würde. Das Fahrzeug hatte keine Kennzeichen. Auf die polizeilichen Anhaltezeichen reagierte der Fahrer und hielt an. Als Lingnau sich jedoch vor dem Bus befand, gab der Fahrer Gas und steuerte auf ihn zu. Trotz gezogener Waffe drehte der Fahrer durch und fuhr ihn vorsätzlich über den Haufen. Lingnau wurde gegen eine Hauswand geschleudert, vor der er liegenblieb - der Bus stieß ebenfalls gegen die Wand, und nur durch glücklichste Umstände wurde Lingnau nicht zerquetscht, sondern nur eingeklemmt. Der Täter wurde festgenommen – er musste sich nicht nur wegen des Fahrzeug-Diebstahls, sondern wegen versuchten Polizisten-Mordes vor Gericht verantworten. Die damalige Schwarzweiß-Tatort-Fotodokumentation bezeugt noch heute, wie sehr Lingnaus Leben damals am seidenen Faden hing. "Das hat mich ein Stück weit geprägt, ich wurde noch vorsichtiger", sagt Lingnau im O|N - Gespräch nachdenklich. "Es war auch ein Schock für die Familie!"

Für den jungen und ebenso ehrgeizigen wie motivierten Beamten war klar, dass er noch nicht am Ende seines Strebens war. So qualifizierte er sich für den Aufstieg in den gehobenen Dienst. Als Polizeikommissar bewarb er sich im März 1974 zur damaligen Polizei-Flugbereitschaft in Egelsbach – die Fliegerei hatte er perspektivisch nie aus den Augen verloren. Harte Auswahl- und Eignungstests beim BGS in Hangelaar sowie in Egelsbach wurden ebenso bestanden wie die 13-monatige Ausbildung zum Berufshubschrauberführer. Nach dem ersten Polizei-Diensthubschrauber, der leichten und wendigen "Alouette", schulte er auf die "BO 105" um, die ab 1973 Schritt für Schritt nun zum deutlich leistungsfähigeren "Arbeitstier" der Hessischen Polizeiflieger wurde.

Absturz mit drei Toten und einem Überlebenden

Die Familie wuchs: Ehefrau Christine, die aus Stadtallendorf stammt, brachte die zweite Tochter zur Welt, man wohnte in Dieburg. Dann kam es zur Katastrophe: im November 1979 ereignete sich ein tragischer Unglücksfall, die zu diesem Zeitpunkt einzige Egelsbacher Bo stürzte bei einem Dienstflug ab. Drei Kollegen der "Polizei-Flieger-Familie" starben: der Pilot und zwei Bordtechniker, während der vierte Insasse, ein Gast-Techniker, wie durch ein Wunder überlebte. Die Bo war bei diesigem Wetter bei Nackenheim in den Rhein gestürzt. Ein Schock, der durch Mark und Knochen ging. "Das war wirklich einschneidend, für die ganze Staffel." Seine Frau Christine ergänzt: "Und es war erneut ein Schock für die ganze Familie! Es fiel mir lange Zeit schwer, ihn dann wieder zum Fliegen gehen zu lassen."

Doch das Leben und der Flugbetrieb mussten weitergehen: Lingnau war nach dem Absturz der erste Pilot, der wieder in die Luft ging. Nicht zuletzt deshalb mit einem unguten Gefühl, weil die Leichen der Kollegen noch nicht gefunden worden waren. Bei einem Gewässerüberwachungsflug traute Lingnau seinen Augen nicht: Er sah von oben eine Leiche im Wasser – es war der Pilot. Auch diese Momente wird er nie vergessen können. Ettliche Wochen nach dem aus ungeklärter Ursache erfolgten Absturz wurden auch noch die beiden Techniker an unterschiedlichen Stellen gefunden. Es sollte zum Glück bis heute der einzige Absturz eines hessischen Polizeihubschraubers bleiben.

Flugstunden-Rekordhalter

Lingnau stieg die Karriereleiter hinauf: in 1986 wurde er Stellvertretender Leiter der Polizei-Hubschrauberstaffel und hatte die Funktion des Flugbetriebsleiters inne. So konnte er sich selbst oft die eigenen fliegerischen Einsätze aussuchen. Er erinnert sich noch an den Besuch der 750-Jahrfeier in Alsfeld-Hattendorf, wo Lingnau den Polizeihubschrauber beim Stehenden Festzug auf dem Sportplatz landete und damit eine umlagerte Attraktion für Jung und Alt war. Bis zu seiner Pensionierung in 2008 erreichte er die unglaubliche Summe von 10.500 Hubschrauber-Flugstunden. "Das ist Rekord bei der hessischen Polizei und der wird vermutlich auch nicht mehr übertroffen werden können", sagt Lingnau, "weil die Piloten heute neben dem Hubschrauber auch mit den hinzugekommenen Propellermaschinen und mit den ferngesteuerten Drohnen Einsatzstunden sammeln."

Umstellung auf den Eurocopter – ein Quantensprung

Technisch sollte Lingnau noch eine revolutionäre Entwicklung mitmachen dürfen: auf die Bo folgte 2002 das neue Flaggschiff der Hubschrauberflotte, der Eurocopter EC145. Auch heute noch ist dies ein leistungsfähiges Multifunktionswunder, die Verwendungsbreite steigerte sich drastisch, nicht zuletzt wegen der Nachtflugtauglichkeit.

Die luftunterstützte Fahndung nach flüchtigen Tätern, die Hilfe bei der Suche nach Vermissten oder Verletzten, mitunter sogar der Einsatz der Rettungswinde zur Bergung, die Eingrenzung von Brandausbruchsbereichen, die Gewässerüberwachung, bei der man erst aus der Luft richtig sieht, wenn irgendwer durch illegale Einleitungen eine Riesensauerei angerichtet hat – all das sind sehr abwechslungsreiche Aufgaben, die es so sonst praktisch nirgends gibt.

Ein Einsatzanlass mit historischer Dimension

Neben den vielen spektakulären Einsätzen ragt ein Einsatzanlass mit einer wohl historischen Dimension heraus. "Als im November 1989 die Mauer fiel und sich die DDR-Bürger auf den Weg in den Westen machten, flog ich mit einem Kollegen einen Einsatz im Rahmen der Grenzöffnung. Bei der Außenladung nahe Herleshausen sahen wir an der nun durchlässigen innerdeutschen Grenze die Trabi- und Wartburg-Kolonnen, die mit blauen Zweitakt-Abgaswolken von Thüringen nach Hessen rollten. Das war ein sehr bewegender Moment und ich habe die Gelegenheit genutzt, um mit ein paar Menschen, die einfach mal zum Obst-Einkauf in den Westen fuhren, zu sprechen. Deren Glücksgefühl über ihre neue Freiheit zu erleben, das werde ich nie vergessen!"

Lingnau wohnt mit Ehefrau Christine in Egelsbach und ist vom Kirtorfer Buben längst zu einem Südhessen geworden, auch wenn familiäre Bezüge den Kontakt nicht ganz abreißen lassen. Sie freuen sich über zwei Töchter und deren Familien, darunter vier Enkel und drei Urenkel, die ganz in der Nähe wohnen. Und die oberhessische Wurst wissen Lingnaus noch heute zu schätzen. Fliegen gehört nicht mehr zu Lingnaus Tätigkeiten, sondern Tennisspielen, Walken und Saunieren. Während des Gespräches überfliegt eine Maschine der Flugbereitschaft das Anwesen. Ja, Kontakt habe er noch, aber es fühle sich schon so an, als habe man einem Kind sein Spielzeug genommen, sagt er.

Als Lingnau 2008 feierlich in den Ruhestand versetzt wurde, erhielt er vom damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch zum Abschied einen Porzellan-Hessenlöwen, der sonst nur Staatsgästen vorbehalten ist. "Als Polizeipilot habe ich die Ministerpräsidenten und Innenminister oft geflogen, wenn sie schnell von einem Ort zum anderen mussten. Da lernt man sich natürlich kennen und schätzen." Die Polizeimaschinen dienen dann sozusagen als Hessens Air Force One…

Lingnau konnte ein bis heute gültiges Fazit ziehen: "Ich wollte nie nur Bürokratie und Verwaltung, sondern immer an der "Spritze stehen". Meinen Berufsweg würde ich genauso wieder gehen und kann die Polizei als Berufsfeld jungen Menschen nur empfehlen – wo hat man denn so ein riesiges Spektrum an Möglichkeiten? Dass ich mir dann auch noch den Traum vom Fliegen im Polizeihubschrauber über eine Zeitdauer von 34 Jahren erfüllen konnte, war natürlich nicht mehr zu toppen. Es ist so wunderschön, unsere vielfältigen Landschaften, blühende Felder und die Natur im Wechsel der Jahreszeiten aus der Luft zu sehen!" (goa) +++

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