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Der osthessische Zirkus "Baldoni" – und was Freddy Quinn damit zu tun hat …

Familie Heilig derzeit am Aschenberg: Jeff, George, Mandy, Cecile, Scarlet, und vorn die nächste Generation: die vierjährige Merrylou
Fotos: goa

07.08.2023 / FULDA - Menschen, Tiere, Sensationen – wohl niemand kann sich dem Zauber der Zirkusmanege, den atemberaubenden Künsten der Seiltänzer, Akrobaten und Jongleure, der Dressur der Tiere oder der zeitlosen Komik der Clowns entziehen. Krone, Barum, Althoff, Sarassani – klangvolle Zirkusnamen von internationalem Rang, Hochglanz-Zirkusse der Champions-League.



Aber Hand aufs Herz: verdienen nicht gerade auch die kleinen Artistenfamilien unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung? Sie sind Teil unserer regionalen Identität und bieten im Gegensatz zu den Großen eine fast schon intime Nähe zwischen dem Zuschauer und den Akteuren in der Manege. Der Zirkus "Baldoni" aus Schlitz-Pfordt, einer dieser kleinen osthessischen Zirkusse, gewährte OSTHESSEN|NEWS bei einem Besuch an seiner derzeitigen Spielstätte am Aschenberg in Fulda Einblicke in die Situation und die Herausforderungen – aber auch die Erfüllung, die Zirkusmenschen durch ihre Darbietungen von Jung und Alt erfahren.



Jeff Heilig ist 27 Jahre alt. "Komm rein in die gute Stube!", lautet seine freundliche Einladung zum Gespräch. "Es freut uns sehr, dass O|N über uns berichten möchte." Die "gute Stube" steht nicht stationär in Schlitz-Pfordt, wo sich seit 20 Jahren der Wohnsitz und das Winterquartier der Heiligs befindet, sondern ist derzeit die mobile Variante am Fuldaer Aschenberg. Jeff und sein ein Jahr älterer Bruder George bilden das Leitungsgespann am Aschenberg, wo während der Sommerferien keine "normalen" Zirkusaufführungen anstehen, sondern zum vierten Mal von Montag bis Freitag das beliebte Kinder- Zirkus-Mitmachprogramm. Die teilnehmenden Kids können sich selbst aussuchen, was sie im Lauf der Woche in einzelnen Workshops unter Anleitung der Zirkusfamilie einstudieren und dann zur großen Abschlussvorstellung ihren staunenden Eltern präsentieren möchten. (O|N wird über den Kinder-Mitmachzirkus in Fulda in Kürze gesondert berichten.)



Jeffs eigene Freude bei der Beschreibung des Kinderprojektes ist bei jedem Wort zu spüren. "Im Alter von 12 Jahren habe ich die ersten Ferienprogramme für Kinder mitgestaltet, das war im Bereich Hannover / Hameln, wo wir auch immer noch tätig sind. Dort sind die Zirkus-Kinderprogramme seit damals die am meisten besuchten Ferienspielprogramme, inzwischen bringen bereits Mütter und Väter, die früher selbst teilgenommen haben, ihre Kinder zu uns. Heute sind die Töchter meiner Schwester als Küken mit in der Manege: die vierjährige Merrylou und die zweijährige Louen bilden die nächste Generation und setzen unsere Tradition fort."

Familien-Zirkustradition seit 1811

Diese Tradition begann bei den Heiligs im Jahr 1811. Jeffs Urgroßeltern gründeten den Zirkus BALDONI, damals noch im Bereich Hamburg. Heute ist man vorwiegend in Hessen und Hannover / Hameln unterwegs. Jeff erklärt die Rollen: "Großvater Harry ist und bleibt, solange er lebt, der eigentliche "Chef", auch wenn er aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten muss. Unser Vater Alfons ist inzwischen der Manager unserer Tournee, er stellt die Anfragen an die Städte und Gemeinden zu geeigneten Plätzen und regelt die Strom- und Wasserversorgung. Unsere Mutter Marina stammt aus einer anderen Zirkusfamilie. Mein Bruder George und ich sind hier die Macher vor Ort. Wir sind ein echter Familienbetrieb, jeder macht in der Manege mehrere Nummern." In Schlitz-Pfordt hat auch die Familie von Alfons‘ Schwester Ramona Frank ihre Heimat, die ebenfalls mit ihrem eigenen Zirkus derzeit in Fulda, Kohlhäuser Feld, einen Mitmachzirkus für Kinder anbieten.


"Die beiden Jahre haben doll an uns genagt…"

Seit die Heiligs wieder mit ihren verschiedenen Formaten in die Manege dürfen, ist die Welt fast wieder "wie früher". Jeff Heilig, der im Scheinwerferlicht gerne als Clown auftritt, erklärt im Gespräch sehr ernst: "Das waren verdammt harte zwei Corona-Jahre ohne Auftritte und Einnahmen, die Zeit hat doll an uns allen genagt. Etliche Familienangehörige und 50 Tiere, vom Kamel, den Lamas und Alpaccas bis zu den Kleintieren galt es durchzubringen. Wir mussten natürlich ohne Publikum weiter trainieren – aber Artisten brauchen neben den Einnahmen den Kontakt zu den Menschen und ihren Applaus!" Endlich können sie ihn nun wieder genießen. "Als es wieder losging, das war etwas ganz Besonderes. Ich habe vor Auftritten genau wie vor zwanzig Jahren immer wieder Lampenfieber, aber beim Neustart war es wirklich extrem, genau wie auch die Freude." Bei aller Erschwernis der beiden Jahre betont Jeff Heilig aber auch einen speziellen Aspekt: "Es war ein großartiges Erlebnis, welche Unterstützung wir von den Landwirten und den Bürgern von Schlitz und Umgebung für die Versorgung der Tiere und unserer Familien erfahren haben. Die Futter-, Geld- und Sachspenden haben uns gerettet. Das werden wir nie vergessen!"


Der Zauber des engen Kontakts

"Als Zirkuskünstler versuchst du immer wieder alles zu geben, um die Menschen zu packen, mitzureißen und glücklich zu machen – egal ob Jung oder Alt. Unser großer Vorteil ist die geringe Entfernung zwischen uns und den maximal 400 Zuschauern in unserem Zelt. Beide Seiten spüren ganz unmittelbar das Knistern, die Anspannung und die Begeisterung, der Funke springt schnell über – das ist in dieser Form in einem großen Zelt nicht möglich!", weiß Heilig um die Vorteile des fast schon intimen Miteinanders.

Beliebtes Schmankerl zum Jahreswechsel: die große Weihnachtsshow

"Es war eigentlich eine Idee, die damals aus der Not geboren war, wenn wir ab dem Spätherbst im Winterquartier sind und keine Auftritte haben", blickt Jeff Heilig auf ein weiteres Lieblingsprojekt neben dem Kindermitmachzirkus. "Ab dem 22. Dezember bis zum 8. Januar werden wir wieder die große Weihnachts-Zirkusshow in Fulda zeigen – und feiern damit unser zehnjähriges Jubiläum. Das ist nicht nur Zirkus im Winter, sondern eine mit viel Liebe gestaltete tolle Weihnachtsshow: mit einem Weihnachtsmann, Wichteln, Elfen und echten Rentieren. Die Show hat inzwischen viele Stammbesucher aus der ganzen Region, und sogar aus Frankfurt und Darmstadt kommen Besucher eigens deswegen nach Fulda. Darauf freue ich mich jetzt schon wieder!"



Wir gönnen Jeff die Vorfreude auf die Weihnachtsshow, aktuell freuen sich aber viele Kinder und Eltern auf die Ferienprojekte. Es sind noch Plätze frei!

"Freddy, Tiere, Sensationen"

Fast schon nebenbei klärt sich in dem Gespräch ein sehr interessantes Detail: woher kommt eigentlich der Zirkusname "Baldoni"? Jeff präsentiert den überraschenden Hintergrund: "Der legendäre "Hamburger Junge" Freddy Quinn war ja nicht nur Sänger, sondern auch Schauspieler. Er hat 1964 die Hauptrolle in einem Zirkusfilm gespielt, bei dem es um einen Zirkus der erfundenen "Artistenfamilie Baldoni" ging. Mein Opa hat dann nachgefragt, ob wir den dadurch bekanntgewordenen Namen für unseren Zirkus nutzen dürfe – und so ist es geworden und so wird es auch immer bleiben!" (goa) +++

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