Echt jetzt! (16)

Tränen lügen nicht - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Julian Nagelsmann, den natürlich alle lieb haben, gab zum erzwungenen Abschied aus dem Wettbewerb mit tropfenden Augen noch mal rasch den Staats-Philosophen.
Foto: picture alliance / DeFodi Images | Silas Schueller

12.07.2024 / REGION - "Jetzt ist EM", hat eine Sportwetten-Firma ihre Kundschaft umworben: "Alles andere kann warten." Ja, von wegen. Am Sonntag fliegt sowieso der letzte Ball ins Tor, aber schon vorher hat die Wirklichkeit unseren Blick aufs Spielfeld getrübt: Am Tag, als die deutschen Fußballer am Siegen gehindert wurden, hat unser Regierungs-Triumvirat sich an einer Demonstration politischer Tatkraft versucht. Dagegen wirkt selbst Joe Biden wie ein Polit-Turbo (Das ist der häufig müde ältere Herr, der die Welt vor Trump retten soll). Wenigstens ist auf die Briten Verlass, und auf die Franzosen auch.



Einige Wochen Fußballern, das ist wie Heilfasten: Das Gemüt wird aufgeheitert, die Hirnzellen werden elektrifiziert mit positiver Ladung, die Nervenstränge sind gespannt wie ein Flitzebogen. Aber es gibt Geselligkeits-taugliche Getränke statt einsamem Tee und Bratwurst statt Gemüsebrühe. Wir hatten die Wahl! Vom Fasten wie vom Fußballern soll man auf keinen Fall abrupt ins echte Leben zurückkehren – der Schock könnte uns aus den Gleisen kippen. Stellen Sie sich vor, der Heilfaster oder die Heilfasterin schaufeln sich direkt nach dem Abhungern kiloweise Gulasch plus Knödel in den wochenlang sorgsam entleerten Magen-Darm-Trakt. Heißa, das gibt einen Aufruhr! Aber die Fußball-Begeisterten konnten sich nicht wehren; plötzlich starrten die kurzzeitig verdrängten Schreckbilder vergangener Alpträume uns an. Hat uns keiner gefragt, ob wir das sehen wollten.

Vor einer Woche, die Deutschen träumten noch vom Titel, stand die EM laut einer forsa-Umfrage auf Platz 1 der wichtigsten Themen und erschien den Deutschen bedeutsamer als der Ukraine-Krieg sowie der Zustand der Bundesregierung. 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger äußerten zugleich die Überzeugung, dass der Staat unfähig sei, seine Aufgaben zu erfüllen. Wie zur Illustration hockten sich die Herren Scholz, Habeck und Lindner vor die Kameras, verkündeten eine Einigung über den Bundeshaushalt und versuchten, als beste Kumpels der Politikgeschichte zu erscheinen. Glaubwürdiger wär’s gewesen, sie hätten gleich den über 40 Jahre alten Hit von Stephan Remmler zum Besten gegeben: "Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht. DaDaDa!"

Julian Nagelsmann wird zum Staats-Philosophen

Trainer-Tränen lügen nicht: Julian Nagelsmann, den natürlich alle lieb haben, gab zum erzwungenen Abschied aus dem Wettbewerb mit tropfenden Augen noch mal rasch den Staats-Philosophen: "Ich wünsche mir für dieses Land, dass wir verstehen, dass es gemeinsam einfach besser geht. Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, dann ist er schneller fertig, als wenn er’s allein macht. Wenn wir immer nur in Tristesse verfallen und alles ist grau und alles ist schlecht, dann wird sich nichts verbessern."

Sowas lernt man beim Fußball. Oder von den Briten, die bei ihrer Wahl mal kurz die Hinterlassenschaften des unvergessenen Staats-Schauspielers Boris Johnson abräumten. Oder von den Franzosen, die das rechtsradikale Brandstifter-Ensemble der Marine Le Pen erst zu unbesiegbar erscheinenden Umfrage-Giganten aufgeblasen haben – um ihnen dann bei der Wahl die Luft rauszulassen. Das muss wehgetan haben. Dabei hat Madame Le Pen zur Beruhigung der umworbenen bürgerlichen Wähler über Monate derart viel Kreide verspeist, dass man schon eine Ganzkörper-Verkalkung befürchten musste. Jetzt regiert zwar in Paris erstmal das Chaos – aber immerhin haben die rechtsradikalen Ultras zunächst Sendepause.

Björn Höcke, ein Geistesbruder der französischen Loserin, lebt keine 120 Kilometer weg von Fulda und ist für die meisten von uns so weit entfernt, als hätte ihn jemand auf den Mond geschossen. In der einstmals angesehenen Schweizer Postille "Weltwoche" bekannte der AfD-Strippenzieher: "Heute kann ich mich nicht mehr mit unserer Nationalmannschaft identifizieren." Und weshalb nicht? Weil bei diesem deutschen Fußball "aus jeder Pore die Regenbogenideologie quillt", sagt er. Wir wollen gar nicht wissen, was aus den Poren des Herrn Höcke quillt. Der Mann aus Thüringen wird gelegentlich von der Gnade des Nichtwissens heimgesucht, das hat er vor Gericht offenbart. Ist doch nicht schlimm! Hauptsache, die Wählerinnen und Wähler vergessen nichts. Dann kann’s einem wie ihm auch hierzulande schnell mal ergehen wie der französischen Madame.

So fühlt sie sich an, die Wirklichkeit.

Suchen wir lieber nochmal Trost im Fußball. Die Kunst des Kickens kann auch der häufig eher unsportlichen Hochkultur auf die Beine helfen. Bertolt Brecht schwärmte bereits 1929: "Während der Smokingträger in Konzerten oder im Theatersaal auf dem Maul sitzt, treffen wir in den Sportstadien auf einen Menschen, der pfeift, raucht, singt, aber nicht jede Darbietung zu ertragen gewillt ist. Nun zeugen Rufe wie ‚Elfmeter‘ oder ‚Schieß doch, du Affe!‘ von einer geistigen Beweglichkeit, die diejenige eines Smokingpublikums bei weitem übertrifft."

Das liest man gern; vor allem, wenn man gelegentlich für seine Freude am Fußball für nicht ganz zurechnungsfähig erachtet wird. Wie das wohl wäre, wenn das stille Vonderau-Museum von Jubelschreien, Fan-Ekstase und Pfeifkonzerten in Stimmung versetzt würde? Wetten, da wackeln die Bilder an den Wänden. (Rainer M. Gefeller) +++

Rainer M. Gefeller schreibt für OSTHESSENlNEWS.
Grafik: O|N
Björn Höcke (AfD): \"Heute kann ich mich nicht mehr mit unserer Nationalmannschaft identifizieren.\"
Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Sachelle Babbar

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