Profis bei der Arbeit (130)

Gutachter Dr. Rainer Hoffmann: "Die Tat verstehen, heißt nicht entschuldigen"


Fotos: Carina Jirsch

16.08.2018 / FULDA - Das gängigste Vorurteil gegen psychiatrische Gutachter und deren Tätigkeit bei Gericht kennt Dr. Rainer Hoffmann nur zu genau: "Der bemüht doch die angeblich so schlimme Kindheit des Angeklagten, damit der besser wegkommt!" - so die landläufige Meinung. "Das stimmt definitiv nicht. Es geht um den geistig-seelischen und natürlich auch körperlichen Zustand bei der Tatbegehung - der ist entscheidend", erklärt der 65-jährige Fuldaer Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der bis zu 20-mal im Jahr von Gerichten als Sachverständiger beauftragt wird. Entweder bestellt er für seine Erhebung die Probanden zu sich in die Praxis oder er besucht sie in der JVA, außerdem verfolgt er die Verhandlung im Gerichtssaal.



Bei der psychopathologischen Untersuchung werden zum Beispiel auch einfache Kulturleistungen wie Lesen, Schreiben und Rechnen überprüft. Sich dabei dumm zu stellen, funktioniert nicht wirklich, sagt der Fachmann, der viele Jahre Leitender Oberarzt der Psychiatrie am Klinikum Fulda war. "Es fällt halt auf, wenn sich jemand immer genau nach demselben Muster verrechnet." Er lasse sich auch zeigen, welche Fertigkeiten der Befragte beim Umgang mit seinem Handy hat - das sagt viel aus. Tatsächlich gebe es seiner langjährigen Erfahrung nach schon Hinweise in einer Biografie, die auf eine kriminelle Karriere hindeuteten - so wie konstantes Schulschwänzen vor dem 15. Lebensjahr.

Können sich Straftäter dumm oder krank stellen?

Folgt gleich das nächste weit verbreitete Vorurteil: kann man sich nicht leicht als geistig unzurechnungsfähig darstellen oder eine psychische Erkrankung simulieren? Mit einer speziellen Fragetechnik ließen sich solche Versuche durchaus enttarnen und herausfinden, ob jemand Recht von Unrecht unterscheiden kann. "Ob ein Schizophrener befehlende Stimmen hört oder nicht, ist explorierbar." Schizophrenie bedeute den Verlust der 'Meinhaftigkeit' - der Kranke sei nicht mehr Herr im eigenen Haus, also ist auch seine Schuldfähigkeit eingeschränkt. Doch wer wollte eine solche Krankheit vortäuschen? Oder sei es anstrebenswert, statt in die JVA in die geschlossene Abteilung einer forensischen Klinik eingewiesen zu werden - noch dazu ohne zeitliche Begrenzung?", ist die Gegenfrage.

Und wenn jemand vorgibt, sich nicht mehr an die Tat erinnern zu können? Das angebliche Erinnerungsdefizit nützt nichts, dadurch entgehe er seiner Bestrafung nicht, es schwächt eher seine Glaubwürdigkeit vor Gericht, sagt Hoffmann, den vor allem die Frage nach dem Motiv bewegt. "Die Entwicklung und das Handeln des Täters nachvollziehen zu können, heißt ja nicht, es zu entschuldigen", stellt er klar. "Auch die härteste Bestrafung - wie die zum Glück abgeschaffte Todesstrafe - wiegt die Tat nicht auf", ist er überzeugt. Denn an einem Mörder Rache zu nehmen zu wollen, bedeute ja, sich auf dessen kriminelles Niveau hinabzubegeben. "Ich bin sehr froh darüber, in einem Rechtsstaat zu leben, in dem Rechtspflege einen hohen Wert hat und der jedem Täter die Möglichkeit der Sühne gewährt."

Hat er sich schon mal geirrt?

Wenn er vor Gericht schließlich sein Gutachten und eine Empfehlung abgibt, hat das Gewicht für das Urteil. Eine komplexe Materie wie zum Beispiel die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung erfordert Sachverstand, den das Gericht in Person des Gutachters beauftragt und bezahlt. Hat sich Dr. Hoffmann trotz seiner Kenntnisse und Erfahrung schon einmal fundamental in seiner Beurteilung geirrt? "Ja, ich habe schon die Fähigkeiten eines Angeklagten in seine Einsichtsfähigkeit überschätzt oder mich auch in einer Prognose getäuscht. Doch das hatte keine schwerwiegenden Folgen", sagt er. "Menschliche Handlungen vorherzusagen, bleibt einer der schwierigsten Fälle. Eine vom geraden Weg rechtwinklig abknickende Handlung ist bei jedem Menschen jederzeit möglich." Diese Erkenntnis ist leider täglich in jedem Gericht der Welt erfahrbar. (Carla Ihle-Becker)+++

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