EM: Deutschland - Schweiz 1:1 (0:1)

Jubel satt: Füllkrugs Last-Minute-Kopfballtor beschert DFB-Elf den Gruppensieg

Die Spannung schwappte von Frankfurt nach Fulda und der Linde in Bimbach über.
Fotos: Martin Engel

24.06.2024 / FULDA - Jubel im Leipziger Hof. Jubel in Osthessen. Jubel in ganz Deutschland. Die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes zieht als Gruppensieger ins Achtelfinale ein. Der Dortmunder Niclas Füllkrug sorgte in der Nachspielzeit per Kopf nach einer Flanke des Leipzigers David Raum für den 1:1 (0:1)-Ausgleich gegen die Schweiz. Die war emsig, mannschaftlich und taktisch stark. Die DFB-Elf musste sich ins Spiel reinkämpfen - und erhielt den Lohn dafür, nie aufgegeben zu haben. 


Die Ausgangsposition ist eindeutig: Gewinnt das DFB-Team oder spielt es unentschieden, hat es den Gruppensieg sicher - und trifft auf den Zweiten der Gruppe C, vermutlich Dänemark. Verliert es, ist der 2. der Gruppe B der Gegner - voraussichtlich Italien. In jedem Falle findet das Achtelfinal-Spiel am Samstagabend statt. Bundestrainer Julian Nagelsmann vertraut in Frankfurt der Anfangsformation der ersten beiden Spiele. Schonte also nicht die Gelb-vorbelasteten Innenverteidiger Tah und Rüdiger - auch nicht Linksverteidiger Maxi Mittelstädt und auch nicht den Sechser Andrich.

Eine halbe Stunde vor Spielbeginn ist noch nicht so viel los hier. Aber das täuscht. Das könnte die Ruhe vor dem Sturm sein. ARD-Experte Bastian Schweinsteiger wähnt nach zehn Minuten die ersten Löcher - nicht im Schweizer Abwehrverhalten, sondern im Rasen. Die Euphorie macht keinen Halt in Deutschland. Nirgendwo. Wer sich davon anstecken lässt, ist selbst schuld. Viele machen alles richtig - nicht zuletzt Bundestrainer Nagelsmann, der vor wenigen Monaten noch im Kreuzfeuer der Kritik stand. So schnell geht das. Die DFB-Elf euphorisiert, heißt es im Fernsehen. Mal sehen. Ex-Manager Bierhoff spricht von "einer besonderen Energie, die gewachsen ist in den letzten Monaten". Schon besser. Und präziser.

Aufgabe wird kein Selbstläufer

Dass die Aufgabe des DFB-Teams gegen die eingespielten Schweizer kein Selbstläufer wird, sollte jedem klar sein. Kennen die deutschen Fußball-Anhänger nicht Innenverteidiger Manuel Akanji, einst beim BVB und jetzt klasse und feste Größe bei Pep Guardiolas Manchester City - oder Schär aus der Premier League, oder Xherdan Shaqiiri, von einigen nicht ganz zutreffend "Kraftwürfel" genannt, von Sky-Reporter Uli Köhler, auch keine 18 mehr, "rennender Kühlschrank". Hübsches Etikett. Doch Shaqiri sitzt erstmal auf der Bank; für ihn beginnt Rieder. Embolo spielt anstelle von Vargas zudem in der Spitze.

Die Stimmung steigt hier im "Leipziger Hof", das Fieber wird größer. Eltern würden ihren Kindern an dieser Stelle raten: bleib zu Hause, heute. Und wenn Sie die Interpretation von "Ich verstehe mein eigenes Wort nicht mehr", wissen wollen - kommen Sie hierher. Die Fans stehen auf und singen mit, als Nationalhymne erklingt; gut erzogen, oder? 

Das Spiel beginnt. Das Fieber sinkt

Das Spiel beginnt. Das Fieber sinkt. Erstmal. Übrigens: Wenige Meter von hier hat ja Jamal Musiala, Dribbelkünstler, Finten- und Eins-gegen-eins-König der DFB-Elf, einst gekickt. Und es geht gut los: Schon in Minute zwei startet Musiala zu einem Sololauf - und bedient Gündogan in der Spitze, daraus aber wird nichts.

Erste Eindrücke: Die Schweiz hat taktisch etwas anderes vor als Schottland als erster und Ungarn als zweiter Gegner der DFB-Elf. Sehr flexibel tritt das Team aus dem Nachbarland auf, sowohl mit als auch gegen den Ball. Schottland trat auf wie "das Kaninchen vor der Schlange", Ungarn verteidigte meist sehr und zu tief. "Super Deutschland" skandieren die Fans hier. So weit ist es noch nicht. Erste Aufregung, als Deutschlands Fans einen Elfer wollen, als Ex-Bundesliga-Profi Rodriguez gegen Havertz hakelt - verdammt dünn für einen Elferaber. Musiala zeigt gute Läufe in die Tiefe, die Schweiz bietet kaum Angriffsflächen zwischen den Linien. 

Da ist die deutsche Führung: Robert Andrichs Aufsetzer aus halblinker Postion sitzt - aber der Treffer zählt. Schiri Daniel Orsato aus Italien erkennt ihn nicht an, weil Musiala kurz vor dem Fünfer seinen Gegenspieler gefoult hatte - kann man so sehen. Unterdessen scheint ein taktisches Muster zu greifen: Der Stuttgarter Verteidiger Mittelstädt brach nicht zum ersten Mal über seine linke Seite durch und passte nach innen - den zweiten Ball bekam Andrich. Der Schweizer Keeper Sommer, einst in Gladbach und bei den Bayern, jetzt bei Inter Mailand, sah nicht so ganz glücklich aus bei Andrichs Schuss - vielleicht stand ihm auch die Unebenheit des Platzes im Weg.

"Auf geht's Deutschland, schießt ein Tor" heißt es hier, oder "Super Deutschland olé" - die Hoffnung lebt. 

Zählt das Tor der Schweizer jetzt: Ndoye trifft zur Führung - das Tor wird überprüft. Kein Abseits. Erstmals liegt das DFB-Team zurück bei dieser EM. Deutschland hatte das Spiel nach zähem Beginn recht gut in den Griff bekommen. Sekunden später zielt der Torschütze knapp am langen Eck vorbei; Rüdiger verhält sich in dieser Szene nicht so toll. Für Ndoye ist es im 14. Länderspiel sein erstes Tor.

Kurz vor der Pause kommt das DFB-Team noch zweimal zum Abschluss: Erst bekommt der aufgerückte Innenverteidiger Rüdiger hinter seinen Kopfball am zweiten Pfosten keinen Druck, dann wird der umtriebige Musiala von den emsigen Schweizern am Abschluss gehindert. 

Fazit des ersten Durchgangs: Die taktisch starken Schweizer führen nicht mal unverdient. Ihre Verteidigung und ihr Spiel gegen den Ball ist sehr stark. Sehr flexibel. Sie stellt eine Zone von nicht mal 20 Metern - mal etwas offensiver, mal, und das ist das Entscheidende: vor dem eigenen Strafraum. Und da ist für Deutschland kein Durchkommen. Deswegen muss die DFB-Elf schneller spielen, das Spiel über außen forcieren, vor allem über die rechte Seite. Muss flexibler werden, beweglicher - und Läufe in die Tiefe zeigen. Musialas individuelle Substanz und Mittelstädts Ansätze sind zu wenig. Selten war das Spiel ohne Ball so wichtig.

Immer wieder Musiala

Immer wieder Musiala: Sein Abschluss aber ist zu zentral, Keeper Sommer wehrt ab. Kommt Musiala an die Kugel, schreien die Fans hier - warum nur? Stattdessen feuern sie das DFB-Team mit stakkatoartigen "Deutschland-Rufen" wieder an - das scheint es nötig zu haben. In Minute zehn des zweiten Abschnitts Pech für das deutsche Team, als Kroos' 18-Meter-Schuss knapp vorbeigeht.

Wieder berührt eine Aktion Musialas unser Fußball-Herz: Ball-Annahme mit der Brust, Kontrolle der Kugel, Ablage zu Gündogan - nichts. Nach einer Stunde sorgt Nagelsmann für die ersten Impulse, Schlotterbeck und Raum kommen ins Spiel, kurz danach der Hoffenheimer Beier. Deutschland kämpft sich in die Partie hinein, jedenfalls versucht sie es  - die Schweiz hält dagegen. 

Pure Aufregung nach 70 Minuten: Wirtz, der in der zweiten Halbzeit auftaut und stärker wird, gibt nach starken Finten von rechts nach innen, Kimmich wird im allerletzten Moment am Abschluss gehindert - und der eingewechselte Beier elfmeterreif umklammert.

Nochmals wachen die Fans hier auf: "Auf geht's  Deutschland, schießt ein Tor", schallt es durch den Raum. Unterdessen wehrt Sommer einen Kroos-Freistoß ab, und Sanés zweiter Ball geht vorbei. Und das - ist das die Entscheidung? Die Schweiz erzielt das 2:0 durch Vargas - aber abseits. Wenig später landet Havertz' "Schulterball" nach einer Ecke auf dem Tordach. Noch fünf Minuten regulär.

Deutschland hofft. Und wird erlöst

Die Spannung schwappt von Frankfurt nach Fulda über. Nach einem Konter und Vargas' Ablage pariert Neuer Xhakas 18-Meter-Schuss. Vier Minuten Nachspielzeit. Deutschland hofft. 

Und da ist er, der Ausgleich. In der zweiten Minute der Nachspielzeit. Und es ist ein Produkt der Einwechsler. Der Leipziger Raum flankt, der Dortmunder Füllkrug köpft ein. Wenig später ist Schluss. Am Abend, an dem sich die DFB-Elf durch Kampf, Leidenschaft und seine starke Auswechselbank zum Gruppensieg rettet. (wk)

Deutschland: Neuer - Kimmich, Rüdiger, Tah (61. Schlotterbeck), Mittelstädt (61. Raum) - Andrich (65. Beier), Kroos - Gündogan (76. Sané) - Wirtz, Musiala (76. Füllkrug) - Havertz

Schweiz: Sommer - Schär, Akanji, Ricardo Rodriguez - Widmer, Freuler, Xhaka, Äbischer - Ndoye (65. Amdouni), Rieder (65. Vargas) - Embolo (65. Duah)

Schiedsrichter: Daniele Orsato (Italien)

Tore: 0:1 Ndoye (29.), 1:1 Füllkrug (90.+2)

Zuschauer: 48.500 +++


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