Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Auf der 3. Welle in den 2. Corona-Frühling!
Foto: picture alliance/dpa/MAXPPP | Jerome Fouquet
22.03.2021 / REGION -
Der neue Höchststand von 38.500 Neuinfektionen in den vergangenen 24 Stunden – davon 71 Prozent mit der ansteckenden britischen Virusmutante B1.1.7 – bringt unser Nachbarland Frankreich an die Grenzen. "Die Situation im Großraum Paris ist nicht unter Kontrolle", so der Direktor des staatlichen Krankenhausverbandes in der Hauptstadt.
Auf den Intensivstationen der Region werden aktuell mehr Patienten behandelt als während der ersten beiden Wellen. Die Inzidenz in der Hauptstadtregion hat die Grenze von 400 pro 100.000 Einwohner überschritten. An der Côte d’Azur und im Département Pas-de-Calais herrscht eine strenge Ausgangssperre. Allerdings ist nicht klar, ob damit das Infektionsgeschehen unter Kontrolle gebracht werden kann. Überall im Land ist die Inzidenz in allen Altersklassen angestiegen, nur bei den über 80-Jährigen, von denen viele bereits geimpft sind, geht die Zahl der Neuerkrankungen zurück.
Zwei Szenarien, die zeigen, dass der Umgang mit der Pandemie durchaus einen Unterschied machen kann. Impfungen in Verbindung mit einem strengen Lockdown haben in Israel die Trendwende geschafft. Beides haben wir in dieser Form in Deutschland – und auch in Frankreich - in den letzten Wochen nicht gesehen.
In der Konsequenz bleibt nur die nüchterne Feststellung:
Die dritte Welle startet mit steigenden Inzidenzen. Die 100er Marke haben wir am Sonntag bundesweit erreicht, und dann kann es recht schnell dynamisch werden. Ein exponentielles Wachstum führt dann zu einer explosionsartigen Steigerung der Fallzahlen.
Die Gründe für diese Entwicklung sind schnell benannt: Neben dem laxen Umgang mit den Beschränkungen, den schrittweise Öffnungen im Dienstleistungs- und Einzelhandelsbereich sowie von KiTas und Schulen trägt dazu maßgeblich die zunehmende Verbreitung der britischen Virus-Variante B1.1.7 bei.
B1.1.7 weist 23 Mutationen im Erbgut auf. Einige davon scheinen für das Virus von Vorteil zu sein, wie eine aktuelle Studie im Fachmagazin Science zeigt. B1.1.7 hat in Großbritannien fast vollständig den einstigen Wildtyp verdrängt, auch in Deutschland wird das bald so weit sein. Eine mit der Virusmutante B1.1.7 infizierte Person steckt im Durchschnitt deutlich mehr Menschen an. Dagegen helfen nur, so die Autoren der Studie, strenge Maßnahmen, einschließlich einer begrenzten Schließung von Bildungseinrichtungen und die maximale Beschleunigung der Impfungen. "Sonst werden COVID-19-Krankenhausaufenthalte und -Todesfälle in ganz England im Jahr 2021 diejenigen im Jahr 2020 übersteigen", schreiben die Autoren.
Mit der weiteren Verbreitung von B1.1.7 wird die Zahl der Neuinfektionen und damit der Krankenhaus- und Todesfälle in Deutschland selbst bei Fortsetzung des Lock-Downs ansteigen – von einer rasanten Entwicklung nach möglichen Lockerungen ganz zu schweigen.
In Deutschland beträgt die Fallsterblichkeit (Letalitätsrate) laut statistischem Bundesamt bisher 3,03 Prozent. "Die Letalitätsrate des Coronavirus (SARS-CoV-2) ergibt sich aus dem Verhältnis der Todesfälle in Zusammenhang mit dem Virus zur Zahl der beendeten Coronainfektionen (geheilt oder verstorben)", teilt die Behörde mit. Das heißt: Von hundert Menschen, die an Corona nachweislich erkrankt sind (also ohne Berücksichtigung der Dunkelziffer), sterben etwa drei. Nach der Infektion mit der britischen Variante werden es vier bis fünf sein.
Die Dritte Welle wird also die Jüngeren treffen. Besonders gefährdet sind Menschen über 50. Je mehr (jüngere) Menschen in kurzer Zeit erkranken - und wegen der Varianten werden mehr Menschen erkranken – umso mehr Patienten werden im Krankenhaus behandelt werden, auch wenn der prozentuale Anteil der schweren COVID-Fälle bei den jüngeren geringer ausfällt. Allein von der steigenden Zahl der Patienten her werden die Kapazitäten des Gesundheitssystems wieder bis an die Grenzen belastet werden – oder darüber hinaus.
Das Virus breitet sich derzeit vor allem in der Altersgruppe bis 24 Jahre aus, und diese Infizierten tragen es weiter in die Gesellschaft. Die jüngeren Menschen erwarten Hilfe. Von den über 80Jährigen, die das Virus bisher hart getroffen hat, hatten zahlreiche eine Patientenverfügung. Die alten Menschen und ihre Angehörigen nahmen in großer Zahl die Erkrankung an COVID-19 als Schicksal an, in das sie sich fügten. Das wird bei den 30-, 40- und 50-Jährigen, die schwer erkranken werden, selbstverständlich nicht so sein.
Alles spricht also für einen abermaligen, sogar für einen verschärften, Lockdown – in der Theorie. In der Praxis aber ist er offenbar nicht durchsetzbar. Ministerpräsident Bouffier sagte jüngst: "Die Leute haben die Schnauze voll." Das stimmt wohl.
Aber ebenso wahr ist es, dass selbst größte Empörung kein Mittel zur Eindämmung einer Naturkatastrophe ist. Im Gegenteil, Aufregung und Ignoranz befeuern die Pandemie noch zusätzlich.
Nachdem verschiedene Länder in Europa die Impfung mit dem Präparat von AstraZeneca ausgesetzt hatten, hat auch das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das für die Bewertung von Impfstoffen zuständig ist, ein Aussetzen der Impfung mit dem Vakzin von AstraZeneca hierzulande empfohlen. Die Politik ist der Empfehlung gefolgt. Das war auch richtig so. Wenn wir ein wissenschaftliches Institut haben, das eine Empfehlung ausspricht, darf sich die Politik nicht einfach darüber hinwegsetzen. Doch es fragt sich, ob es richtig war, die Aussetzung der Impfung zu empfehlen.
Was war passiert?
An dieser sehr schweren Krankheit, die außerdem nicht gut zu behandeln ist, sind drei der sieben Patienten verstorben. Die Anzahl dieser Fälle nach AstraZeneca-COVID-19-Impfung ist statistisch signifikant höher als die Anzahl von Hirnvenenthrombosen, die normalerweise in der Bevölkerung ohne Impfung auftreten. Ohne die Impfung wäre in einem Zeitfenster von vierzehn Tagen etwa ein Fall zu erwarten gewesen, die Anzahl der gemeldeten Fälle nach etwa 1,6 Millionen Impfungen lag mit sieben Fällen (zum Zeitpunkt der Entscheidung des PEI) damit deutlich über den Erwartungswert. Die Entscheidung zur Aussetzung hat sich das PEI sicher nicht leicht gemacht. Neben den Expertinnen und Experten des Instituts wurden weitere Fachleute für Thrombosen, Bluterkrankungen sowie ein Spezialist für Adenoviren, die für den Impfstoff verwendet werden, hinzugezogen. Alle Experten waren einstimmig der Meinung, dass hier ein Muster vorliegen könnte und ein Zusammenhang zwischen den Fällen und der Impfung nicht ausgeschlossen sei, schreibt das PEI auf seiner Homepage.
Ohne Frage aber hat die Entscheidung, die Impfkampagne zeitweise und in Teilen zu stoppen, Deutschland zurückgeworfen und das Vertrauen in den Impfstoff von AstraZeneca abermals geschwächt.
Aber: Die Abwägung von Risiken ist nie einfach. Und auch wenn ein Risiko nur sehr klein ist, im Falle der Thrombosen nach Impfung liegt es rechnerisch wohl bei 0.0004 Prozent: Wen es trifft, den trifft es zu 100 Prozent.
Ob die Impfung die Thrombosen ausgelöst hat, ob also ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Thrombose besteht, ist noch nicht geklärt, auch wenn es aktuell erste Ansätze für einen möglichen Zusammenhang gibt. Die Entstehung eines Blutgerinnsels kann viele Gründe haben.
Ob der Impfstopp nun angemessen war oder nicht, wird weiterhin lebhaft diskutiert. In Großbritannien sind bisher bei insgesamt über 11 Millionen verabreichten Dosen des Impfstoffs von AstraZeneca drei Fälle einer Hirnvenenthrombose registriert worden. Die Impfungen wurden dort nicht gestoppt.
Wir werden alles daran setzen, das hohe Tempo wieder aufzunehmen. Denn die Impfung ist und bleibt unsere einzige Chance, rasch zu einem Leben ohne Restriktionen zurückkehren zu können. Darum müssen wird die Impfungen beschleunigen und sie von unnötigen, ja unsinnigen Restriktionen und bürokratischen Auflagen befreien. Andere Länder machen uns vor, wie schnell geimpft werden kann: Israel, Großbritannien, Chile und die USA.
Die Priorisierung nach Altersgruppen war zu Beginn der Impfung richtig. Jetzt hindert sie uns - vor allem wegen des großen bürokratischen Aufwands - aber mehr, als dass sie nutzt. Auch die Hausarztpraxen sollten so schnell wie möglich impfen, - wenn, ja wenn es genug Impfstoff gibt. Immer wieder schränken Hersteller einmal getroffene Zusagen ein, und wir fragen uns, warum es in anderen Ländern besser läuft, nicht nur mit dem Impfen, sondern auch mit den Tests.
Hier ist die Politik in der Pflicht. Die Europäische Union scheint sich in den Verhandlungen mit den Impfstoff-Herstellern nicht besonders geschickt angestellt zu haben. Oder wie sollen wir uns sonst erklären, dass Europa beim Impfen hinterher hinkt? Und in Großbritannien weisen die Brexit-Befürworter genüsslich darauf hin, dass sich der Austritt gelohnt hat.
Doch alles spricht dafür, dass mehr Impfstoffe kommen werden. Bis zur Aussetzung des Impfens mit dem Präparat von AstraZeneca wurden jüngst 1,75 Millionen Menschen in der Woche in Deutschland geimpft. Einmal geimpft wurden bisher knapp sieben Millionen Menschen. Knapp drei Millionen haben schon beide Impfungen erhalten.
Schon in der letzten Märzwoche sollen knapp 2,7 Millionen Dosen bereit stehen. Das sind 450.000 Dosen mehr, als an die Impfzentren gehen sollen. Somit könnten die Hausärzte in die Impfung einbezogen werden. Auf die 50.000 Hausärzte in Deutschland entfielen rechnerisch nahezu neun Dosen in der Woche. Das ist wenig, aber in der Summe weit mehr als nichts. Von Mai an sollen im Monat zehn Millionen Dosen allein in den Praxen verimpft werden.
Wenn die Hersteller ihre Zusagen erfüllen, die Politik einen klaren Kurs fährt und jeder Einzelne für sich und andere verantwortlich handelt, können wir das Ziel, im Sommer die Immunisierung der Erwachsenen in Deutschland abzuschließen, noch erreichen. Hoffnungsfroh stimmt uns die Nachricht, dass nun auch Impfstoffe für Kinder entwickelt respektive getestet werden. Denn Kinder und Jugendliche verbreiten das Virus nicht nur. Sie haben auch ein Anrecht auf Schutz, denn sie wollen und sie müssen lernen – nicht nur für die Schule, sondern fürs Leben. (Thomas P. Menzel) +++
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