Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Die Angst vor Ansteckung kann tödlich sein!
Archivfotos: Hendrik Urbin
20.04.2020 / FULDA -
Die Lockerung des Corona-Shutdowns, die die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten am Mittwoch beschlossen haben, bleiben überschaubar und für viele hinter den Erwartungen zurück. Das Leben in Deutschland wird sich nicht rasch normalisieren. Nicht für die Schülerinnen und Schüler, nicht für die Wirtschaft und auch nicht für die Hoteliers und Gastronomen. Die Bewertungen fallen dementsprechend gemischt aus.
In den Krankenhäusern gibt es derzeit zwei Realitäten: Auf den Intensivstationen, wo die schwerstkranken Patientinnen und Patienten behandelt und häufig auch beatmetet werden, liegt der Anteil der COVID-Fälle deutschlandweit durchschnittlich zwischen 20 und 50 Prozent, in einigen Kliniken aber auch deutlich darüber. Die zusätzlichen aufgebauten Plätze stehen hingegen häufig (noch) leer.
Bei uns in der Region Osthessen werden derzeit 15 Patienten mit einer COVID-Lungenentzündung beatmet, der Anteil der Patienten ohne Corona-bedingte Erkrankungen überwiegt. Die reguläre Kapazität, die sich in Osthessen auf etwa 100 Intensivplätze mit Beatmungskapazität beläuft, ist nicht komplett ausgelastet. Ein ähnliches Bild findet sich auch auf den so genannten Intermediate-Care-Stationen (IMC), auf denen Patienten behandelt werden, die noch keine Intensivmedizin brauchen, aber auf einer Normalstation nicht ausreichend versorgt werden können. Die Normalstationen stehen derzeit in den meisten deutschen Krankenhäusern mehr oder weniger leer, sofern sie nicht eigens für COVID-Patienten erst jüngst eingerichtet worden sind. Nach aktueller Einschätzung werden derzeit rund 150.000 Krankenhausbetten und etwa 10.000 Intensivplätze in Deutschland nicht genutzt. Die Betten stehen leer. Das ist ja auch durchaus gewollt, und eine solche Reserve wäre in Italien oder in New York segensreich gewesen. Gut, dass wir uns auf einen schlimmeren Verlauf der Pandemie eingerichtet hatten. Gut ist es aber auch, dass dieser ausgeblieben ist.
Wenn wir die Risiken gegeneinander abwägen, also die Risikovorsorge durch das Vorhalten von Behandlungsreserven für ein Wiederaufflammen der Pandemie gegen die Risiken einer eingeschränkten Versorgung jener Patienten, die nicht an COVID leiden, dann sollten wir uns jetzt für den Wiedereinstieg in den Regelbetrieb entscheiden. In sechs Wochen hat sich ein erheblicher Rückstau an notwendigen Operationen und Behandlungen aufgebaut. Das sagt auch der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß: "Die derzeitige Situation in den Krankenhäusern erlaubt eine vorsichtige, schrittweise Wiederaufnahme der Regelversorgung." Gaß weist darauf hin, dass die Krankenhäuser in den vergangenen Wochen sehr eindrucksvoll bewiesen haben, dass sie in kürzester Zeit in der Lage waren, sehr verantwortungsbewusst auf die Corona-bedingten Anforderungen zu reagieren. Voraussetzung dafür ist es allerdings, dass die Lage in etwa auf dem aktuellen Niveau bleibt.
In der Vor-Corona-Zeit waren die Notaufnahmen der Kliniken in Deutschland mit Patienten überfüllt, die in überwiegender Zahl keine Notaufnahme in ein Krankenhaus benötigten. Nun aber ist allein bei uns im Klinikum Fulda die Anzahl der Patienten mit Brustschmerzen oder Herzinfarkt und mehr als ein Drittel zurückgegangen. In den Praxen ist derzeit ebenfalls weniger los. Viele niedergelassene Fachärzte betreiben ihre Praxen nicht in vollem Umfang, auch weil keine Patienten kommen.
Das sind Alarmzeichen. Die Angst vor der Ansteckung mit dem SARS-2 Virus kann zu schweren gesundheitlichen Problemen führen, wenn Menschen ihr persönliches Risiko falsch gewichten. Sie riskieren es, Erkrankungen zu verschleppen. Die Angst vor dem Virus kann notwendige Diagnosen und Therapien verhindern und im schlimmsten Fall zum Tode führen.
Wir dürfen mit unserer Gesundheit nicht leichtfertig umgehen, und sollten insbesondere in der Zeit der Pandemie die persönlichen Risiken richtig gegeneinander abwägen.
Auch wir als Krankenhäuser - vor allem unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - mit dem direkten Kontakt zu den Patienten gehen Risiken ein. Einerseits ist es unsere Verantwortung, Patienten mit einer Infektion mit all unser Kompetenz zu helfen. Andererseits tun wir alles, um die Ansteckung anderer Patienten und unserer Kollegen zu verhindern.
Hier haben wir offenbar verantwortungsbewusst gehandelt. Die Hygienemaßnahmen in den Kliniken werden durchweg professionell umgesetzt. Die Gefahr einer Infektion mit dem neuartigen Corornavirus ist naturgemäß gegeben, wenn wir Menschen mit einer COVID 19-Erkrankung behandeln, aber sie ist in deutschen Kliniken sehr gering. Bis heute sind lediglich zwei der nahezu 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserem Klinikum positiv auf eine Corona-Infektion getestet worden, und beide sind wieder gesund. Darüber freuen wir uns mit ihnen.
Unsere Vorsicht und Vorausschau waren berechtigt und haben uns allen genutzt. Viele kleine Maßnahmen fügen sich zu einem großen Ganzen – vom Besuchsverbot über den wohlüberlegten Einsatz der persönlichen Schutzausrüstung bis zur Intensivierung der Schulungen für das Reinigungspersonal. Der Infektionsschutz ist auf hohem Niveau gewährleistet, und kein Patient sollte wegen der Angst vor Corona auf einen notwendigen Arztbesuch oder den Gang ins Krankenhaus verzichten.
Die Menschen in den Krankenhäusern leisten immer herausragendes. Nicht nur in der Zeit der Pandemie. Doch in den vergangenen Wochen haben sie eine zusätzliche große Leistung vollbracht, in dem sie im Normalbetrieb auf den Pandemiebetrieb umgestellt haben. Dass die Corona-Welle nicht so hoch gestiegen ist, wie wir es befürchtet hatten, ist ebenfalls ein Erfolg unseres guten Gesundheitssystems.
Gesundheit ist Daseinsvorsorge. Ich bin sicher, wir denken über unser Gesundheitssystem nach Corona anders als zuvor. Es ist gut, dass wir mehr Behandlungskapazitäten haben als andere Länder. Es ist gut, dass wir mehr testen können als andere. Es ist gut, dass wir gemeinsam gut strukturiert und organisiert gehandelt haben. Im Vergleich zu anderen Ländern ist das auch ein Erfolg unserer föderalen Struktur sowie mit Krankenhäusern in Trägervielfalt und auch in kommunaler Trägerschaft. Wir tragen in unserer Region gemeinsam Verantwortung. Wir treffen Entscheidungen auf kurzen Wegen. Wir wissen, für wen wir da sind. Wir wollen uns auch am Tag danach in die Augen schauen können. Und wir erwarten, dass die Gesellschaft und die Politik anerkennen, was wir alle gemeinsam geleistet haben und auch künftig zu leisten in der Lage sein werden, sofern ein starkes Gesundheitssystem politisch gewollt sein wird.
Ungeachtet dessen bleiben wir in Alarmbereitschaft. Bundesgesundheitsminister Spahn sprach zwar am Freitag davon, die Ausbreitung der Infektion sei "beherrschbar". Bundeskanzlerin Merkel hatte am Mittwoch zuvor von einem "zerbrechlichen Zwischenerfolg" gesprochen, den wir erreicht haben. Der eine ist jünger und will noch viel erreichen. Die andere ist erfahren und hat von schon viel erreicht. Ein wenig Demut ist angebracht. Denn die Pandemie steht am Anfang. Erst wenn 60 bis 80 Prozent aller Menschen durchseucht oder über eine Impfung immunisiert sind, werden wir alle auf der Welt hinreichend geschützt sein. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und wir kennen ihn noch nicht. (Thomas P. Menzel) +++
Dr. Thomas Menzel - weitere Artikel
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Die Corona-Herbstwelle rollt: Es ist noch nicht vorbei…
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Die Omikron-Wette: Wer zu früh lockert, den bestraft das Virus
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Corona und kein Ende: Sollen doch die anderen zu Hause bleiben…
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Keine Überraschung: Die Corona-Lage ist dramatisch
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Die vierte Corona-Welle rollt: Eine Pflicht zur Impfung!
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Im Herbst 2021: Bye, bye Corona?
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Corona: Kommt die 4. Welle?
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Unser Leben in der Pandemie: Wie wird der 2. Corona-Sommer?
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Die Corona-Pandemie: Lockdown oder Lockerung?
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Der Corona-Marathon: Kilometer 32 an Ostern erreicht
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Auf der 3. Welle in den 2. Corona-Frühling!
Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Corona in Deutschland: Den Rückstand aufholen!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Corona ist nicht planbar: Impfungen für alle!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Impfen gegen Corona: Jetzt erst recht!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Der Corona-Mutanten-Stadl: besorgniserregend?
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Bewertung der aktuellen Corona-Lage: Keine Überraschungen!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Corona-Impfung: Es geht voran!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Corona in Fulda: Harte Zeiten voraus!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Warum wir uns jetzt über steigende Zahlen freuen!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Die "Große Impfung" beginnt: Corona bleibt dennoch auf dem Vormarsch!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Wird die Corona-Krise zur Katastrophe? Wann beginnt endlich die Impfung?
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Corona unterm Tannenbaum: die Gebrauchsanweisung für Weihnachten
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Corona am 2. Advent: Impfen, oder lieber doch nicht?
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Am 1. Advent 2020: Licht am Ende des Corona-Tunnels!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Corona-Lockdown: Zwischenstand – Impfung kommt!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Zeit für Ehrlichkeit: Corona am Scheidepunkt!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Corona-Krise: Helfen Sie uns in den Kliniken, damit wir für Sie da sein können!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Intensivbetten allein retten keinen Patienten: Entscheidend sind die Menschen!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Lockdown oder Eigenverantwortung – Wir haben es (noch) in der Hand!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Wie wir in diesem Jahr Weihnachten feiern werden, entscheiden wir heute!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Covid-19-Situation zu Beginn des Herbstes: Es ist noch nicht vorbei
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Eine realistische Perspektive für den Herbst: "Mehr Optimismus wagen!"
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
"Vernünftige vor Unvernünftigen schützen": Kein unbeschwerter Sommer!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Zur Coronavirus-Lage: Der schwere Weg in die neue Normalität
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Zur aktuellen Corona-Lage: Deutschland feiert sich (ein wenig)
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Die Woche nach dem Corona-Shutdown: Zurück zur Normalität?
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Allen ist der Ernst der Lage bewusst: Ostern im Corona-Licht
Erwarten den regionalen Höhepunkt im Mai
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel zum Coronavirus: Wir nutzen Zeit!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Wir haben schon viel geleistet, doch die Ungewissheit bleibt!
Trendwende wäre ein Erfolg!
Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel: "Wir haben Zeit gewonnen"
Gastkommentar zur Corona-Lage
Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Menzel: Wir schützen uns, um helfen zu können
Das Coronavirus beschäftigt die Menschen
Gastkommentar von Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Menzel: Vorsicht ja – Panik nein!