Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Lockdown oder Eigenverantwortung – Wir haben es (noch) in der Hand!
Foto: picture alliance/dpa-Zentralbild
26.10.2020 / REGION -
Die Anspannung nimmt zu. Die Frequenz der Nachrichten steigt. Ständig neue Höchststände – der Ausdruck "Rekordzahl" ist eher unpassend – bei den Neuinfektionen. Die Warnungen vor den Folgen dessen werden eindringlicher, doch die Regeln und Restriktionen zur Abwendung des Unheils widersprüchlicher und undurchsichtiger. Die Menschen im Berchtesgadener Land werden in den "Lockdown" gesperrt, während andere Länder das Beherbergungsverbot aufheben. In Frankfurt gibt es eine Reihe sinnvoller Einschränkungen, um die Zahl der Kontakte zu minimieren. Für Rückkehrer aus ausländischen Risikogebieten gelten strenge Regeln, während Aufenthalte in inländischen "Hotspots" – und auch wir in Fulda sind seit gestern einer - weitgehend folgenlos bleiben.
Aber: Diesen Wirrwarr zu kritisieren, ist wohlfeil. Vielleicht hilft es, sich mal in die Situation der Entscheidungsträger hineinzuversetzen. Spielraum und Möglichkeiten sind tatsächlich begrenzt. Ein gutes Beispiel ist die aktuelle Diskussion um die Schulbusse bei uns in Fulda: einfach mal ein paar mehr Busse kaufen - am besten gleich mit Fahrer - oder den Schulbeginn staffeln. Da hat jeder sein eigenes Patentrezept.
So, wie auch jeder einzelne unterschiedlich umgeht mit der Situation. Es gibt Menschen, die leben nun in ständiger Angst, werden buchstäblich krank an Seele und Leib durch den Dauerstress, den sie sich machen. Andere brechen bewusst die Regeln, weil sie es leid sind, ihrer Autonomie bis ins Private hinein beraubt zu sein. Die einen werden zornig und wollen die ewigen Warnungen nicht mehr hören, die anderen suchen und finden ihren eigenen Ausweg, fliehen vor der unsichtbaren Bedrohung in ein Ferienhaus inmitten der Einsamkeit.
Wieder andere werden schließlich mit einem Mal rational. Sie sagen, angesichts der Zahlen wäre es doch angeraten, sich für ein paar Wochen nicht zu treffen. Das Bild vom Seerosenteich, dessen Bedeckung sich täglich verdoppelt, zeigt Wirkung: 47 Tage brauchte der See um zur Hälfte zuzuwachsen. Für die andere Hälfte reicht ein weiterer Tag.
Steigt die Spannung weiter? Reißt der Faden? Oder nehmen wir bewusst die Spannung raus?
Atmen wir durch und schauen auf die Fakten: COVID-19, die Coronaerkrankung, ist nicht die Pest, an der ein Drittel der Menschheit starb. Aber sie ist eine Seuche, die dem Menschen sehr gefährlich werden kann. Sie kann auch tödlich sein. Bei gut 80 Prozent der Infizierten verläuft die Erkrankung mild oder gar symptomfrei. Etwa 14 Prozent erkranken schwer und 5 Prozent sehr schwer. Das Virus richtet dort Schaden an, wo es im menschlichen Körper Zellen findet, die mit dem ACE-2-Rezeptor ausgestattet sind, über den es in die Zelle gelangt. Dadurch werden die Zellen direkt geschädigt, was Folgen für die Funktionsfähigkeit des Organs hat, das diese Zellen bilden, zum Beispiel in der Lunge. Der Körper reagiert auf die Infektion. Diese Reaktion kann überschießend ausfallen und den Krankheitsverlauf erheblich verschlimmern, zum Beispiel durch eine verstärkte Gerinnung, die zu Schlaganfällen Herzinfarkten und Lungenembolien führen kann. Wir wissen heute noch nicht, ob es Langzeitschäden gibt, dafür kennen wir die Erkrankung erst zu kurz. Aber nach schweren Verläufen sehen wir längere Genesungszeiten, was allerdings auch bei anderen Infektionen und Lungenentzündungen nicht ungewöhnlich ist.
Mit zunehmendem Alter wird der Verlauf schwerer, aber auch jüngere Menschen können sehr schwer erkranken oder sterben. Wir haben also allen Grund Corona ernst zu nehmen, und uns vorsichtig, umsichtig und fürsorglich zu verhalten - aus Verantwortung für uns und andere.
Klar, damit werden wir Corona natürlich nicht ausrotten. Der Gedanke, die Seuche durch konsequente Kontaktvermeidung aus der Welt zu schaffen, dürfte reichlich weltfremd sein. Zum jetzigen Zeitpunkt kann auch niemand versprechen, wann es eine wirksame Impfung gegen Corona oder ein Medikament zur Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe geben wird. Wir können allerdings annehmen, dass mit der Zeit die Chancen auf eine erfolgreiche Impfung oder Behandlung steigen.
Was wir aber wissen ist, dass bei einem weiteren exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen - so wie im Seerosenteich - unser Gesundheitssystem an seine Grenzen kommen wird und dann - ganz schnell – auch darüber hinaus.
Die Menschen, denen heute gesagt wird, dass sie positiv getestet worden sind, haben sich fünf bis zehn Tage zuvor angesteckt. Dem Anstieg der Infektionszahlen folgt der Anstieg der Patienten, die wir in den Kliniken behandeln, mit einer Verzögerung von weiteren fünf bis sieben Tagen, bei den schweren Verläufen, die tödlich enden, liegt die eigentliche Infektion drei bis fünf Wochen zurück.
Schon steigt die Zahl der Patienten wieder, die wegen COVID ins Krankenhaus müssen, auch auf die Intensivstation. Derzeit sind es etwa sechs Prozent der Infizierten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, weniger als noch im Frühjahr, was daran liegt, dass der Altersdurchschnitt der Erkrankten derzeit deutlich niedriger als damals. Und zwei Prozent der COVID-19-Patienten brauchen auch jetzt einen Platz auf der Intensivstation. Bald wird es wohl die ersten Anfragen geben, Patienten von Frankfurt nach Fulda zu verlegen, weil dort die Kapazitäten schon stark beansprucht sind.
Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass insbesondere die Intensivstationen in den Krankenhäusern ohnehin schon gut ausgelastet sind, weil das Leben auch ohne Corona hinreichend Krankheiten für uns bereithält. Und ja, wir haben die Kapazitäten erhöht, weitere Beatmungsplätze eingerichtet und unsere Abläufe optimiert. Nur: ohne Fachpersonal lässt sich keines dieser Betten belegen. Das ist der kritische Faktor bei uns im Klinikum Fulda und in allen andern Krankenhäusern in Deutschland. Das Personal, das die Patienten auf den Stationen betreut, insbesondere die Fachkräfte aus der Pflege und dem ärztlichen Dienst auf den Intensivstationen, waren schon vor Corona knapp. Wenn es dort eng wird, muss Personal aus anderen Bereichen einspringen. In der Folge wird die Versorgung in den Non-COVID-Bereichen heruntergefahren werden müssen.
Aus Verantwortung für eines der größten Krankenhäuser der Maximalversorgung in Hessen habe ich einen sehr guten Grund, jeden von Ihnen um Mithilfe und Verzicht zu bitten: Damit die Zahlen nicht noch weiter steigen. Es geht darum, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems – in den Praxen der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, in den Gesundheitsämtern und in den Krankenhäusern - zu erhalten.
Wir haben das schon mal geschafft, von März bis Mai. Schaffen wir das diesmal aus eigenem Antrieb, braucht es keinen offiziellen Lockdown.
Wenn wir es aber nicht schaffen, die Zahl der Infektionen jetzt zu senken und damit die Belegung der Intensivplätze in zwei, vier oder sechs Wochen abzuwenden, dann kann es auch bei uns zu einer Überlastung kommen, wie wir sie in anderen hoch entwickelten Ländern schon erlebt haben.
Das wäre eine menschlich und ethisch sehr schwierige Situation, die uns obendrein wirtschaftlich zurückwürfe. Je besser wir gesundheitlich durch die Corona-Pandemie kommen, desto besser wird es auch wirtschaftlich gelingen. Vorsicht und Rücksicht sind Voraussetzungen für die allgemeine Wohlfahrt.
Aber selbst dann, wenn wir die Überlastung des Gesundheitssystems einstweilen abwenden können, wird Corona noch immer in der Welt sein. Es wird noch immer nicht die Pest sein, aber weiterhin eine tückische und gefährliche Krankheit – zumindest rein rechnerisch für jeden fünften unter uns. Und niemand kann sich wirklich sicher sein, wie er oder sie mit dem SARS-2-Virus zurechtkommt, fast schon ein wenig wie beim Russisch-Roulette. Aber so wird sie sein, die neue Normalität. Anstatt uns in Angst und Hysterie zu verlieren oder uns in rebellischem Zorn aufzureiben, sollten wir den Weg finden, uns in der veränderten Gegenwart einzufinden. (Thomas P. Menzel) +++
Foto: Hendrik Urbin
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