Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Corona am 2. Advent: Impfen, oder lieber doch nicht?
Foto: picture alliance / SvenSimon | Frank Hoermann/SVEN SIMON
07.12.2020 / REGION -
23.318 neue Infektion am Freitag, 483 Menschen, die am gleichen Tag mit dem Virus verstorben sind, volle Intensivstationen in den Krankenhäusern.
Erinnern wir uns noch? Als vor nicht einmal einem Jahr die Nachricht von einem Virus aus China aufkam, das sich rasch und mit Wucht in Deutschland, Europa und der Welt ausbreitete, da wurde die Hoffnung auf einen Impfstoff schnell zur Exit-Perspektive: Ein kleiner Pieks, und alles wäre wieder wie früher.
Seither sind wir durch eine Zeit der Veränderung gegangen, haben neue persönliche Erfahrungen auch mit uns selbst gemacht. Wir mussten Verzicht üben, Ungewissheit ertragen, neue Ängste neben alten balancieren. Und nun, nach noch nicht einmal einem Jahr, wird aus der Hoffnung Wirklichkeit, ist die Impfung zum Greifen nahe. Der ersehnte kleine Pieks steht bald bevor.
Denn wer wird sich impfen lassen? Eine Pflicht zur Impfung wird es in Deutschland nicht geben. Wir planen derzeit mit der Impfbereitschaft von 60 Prozent der Bevölkerung. Basis sind aktuelle Umfragen. Das entspricht bei zwei "Pieksen" für jeden etwa 100 Millionen Impfungen, die wir derzeit vorbereiten müssen und wollen. Aber wie groß wird die Impfbereitschaft wirklich sein. Was ist, wenn sich nur 30 Prozent impfen lassen wie bei der Grippe?
Dann wird Corona bleiben.
Die einen lassen sich nicht impfen, weil sie die Krankheit nicht ernst nehmen und glauben, sie kämen schon damit zurecht. Das ist so, wie sich im Auto nicht anzuschnallen, weil ja noch immer alles gut gegangen ist. Das ist bei Lichte besehen leichtfertig, fahrlässig und am Ende ziemlich dumm.
Denn rational ist alles klar. Ob bei Masern, Polio oder Corona: Ein Impfrisiko ist da, aber es ist ungleich kleiner als das Risiko, an diesen schweren und eben auch tödlichen Erkrankungen ernsthaft zu erkranken oder gar zu sterben. Es ist schrecklich, ein Kind zu sehen, dessen Hirn von den Masern zerstört worden ist, oder einen Menschen, der an der COVID-Lungenentzündung buchstäblich erstickt.
Die Gründe, warum Menschen beim Gedanken an Impfungen Unbehagen oder gar Angst verspüren, sind vielfältig und nicht immer wirklich zu ergründen.
Früher dachten die Leute, eine Impfung ließe ihren Kindern Kuhhörner wachsen - kein Scherz, und heute wird die Polioimpfung in islamistisch dominierten Regionen abgelehnt mit der Begründung, die Kinder würden dadurch getötet oder unfruchtbar. Dass mit und durch die Impfung die Krankheit auszurotten ist, wollen diese Menschen nicht hören.
Menschen lehnen Impfungen auch deshalb ab, weil es für sie ebenso undenkbar ist, dass ausgerechnet ihr Kind oder Sie selbst erkranken könnten, wie der Gedanke unvorstellbar ist, sich einen letztlich unbekannten Stoff injizieren zu lassen. Warum soll ich denen trauen, die das mit mir und meinem Kind machen wollen? Warum sollen die besser wissen als ich, was für mich gut sein soll? Geht es denen, die impfen, nicht auch immer um kommerzielle Interessen?
Insbesondere in den gebildeten Milieus mit überdurchschnittlichen Einkommen der liberalen, wohlhabenden Gesellschaften des Westens ist die Skepsis gegenüber dem Impfen verbreitet. Es sind Menschen, die keine existenziellen Sorgen haben, für die Bedrohungen nicht zum Alltag gehören, die in ihrem Leben selbstbestimmt entscheiden dürfen. Die das Ergebnis von evidenzbasierter Wissenschaft in Zweifel ziehen, weil das könne man ja einfach auch mal ganz anders sehen.
Und auch solche, die eine bittere, ja vielleicht auch traumatisierende Erfahrung gemacht haben, und deshalb Angst haben, Krankheiten leugnen und Impfungen ablehnen.
Schließlich gibt es Menschen, die in der Vergangenheit auf Impfungen mit Nebenwirkungen reagiert haben oder aufgrund von bestimmten Erkrankungen durch eine Impfung einem höheren Risiko ausgesetzt werden und für die Impfungen deshalb nicht Frage kommen.
Auf diese Kolumne, die ich nun schon seit dem Frühjahr schreibe, erfahre ich viel Zuspruch, aber bisweilen auch Ablehnung. Wenn ich mich aber denen, die meine Position abgelehnt hatten, in den Dialog getreten bin, kam häufig der Grund zu Tage, warum sie mit meiner Meinung nicht einverstanden waren. Sie hatten Angehörige verloren, die aus Angst vor einer Coronainfektion trotz eines Herzinfarktes nicht ins Krankenhaus gegangen waren, hatten schwere wirtschaftliche Einbußen zu verkraften oder fürchteten die Maske, weil sie als Asthmatiker in Kindertagen unter Atemnot gelitten hatten und sich daran nun erinnert fühlten.
Und es wird so kommen - ob wir das wollen oder nicht - dass die, die sich nicht impfen lassen, Nachteile erfahren werden. Kein Einreise in bestimmte Länder, kein Zutritt zu Restaurants, Konzerten oder zu Flugreisen.
Die Impfung soll und wird freiwillig sein. Die möglichen Nachteile für Menschen ohne Impfung sind dann auch freiwillig eingegangen.
Ungeachtet dessen, ob die Angst vor der Impfung oder vor Corona obsiegen wird, bereiten wir uns auf den Schutz von uns allen vor.
Bislang ist noch kein Impfstoff in der EU zugelassen. In Großbritannien, das ja nicht mehr Mitglied der EU ist, gibt es eine "Notzulassung" für den Impfstoff von Biontech und Pfizer. "Notzulassung" klingt nicht wirklich vertrauenserweckend. Tatsächlich bedeutet dies aber zunächst nur, dass die Haftung bei möglichen Impfschäden nicht beim Hersteller liegt, sondern beim Staat.
Stand heute werden mit dem Jahreswechsel die ersten Impfungen erfolgen, sagte Gesundheitsminister Spahn am Samstag. Die EU-Arzneiagentur EMA wird ihre Prüfung am 29. Dezember abschließen. Das liegt weniger an der vermeintlich trägen EU-Bürokratie, die sich angeblich zu viel Zeit lässt, sondern daran, dass noch nicht alles verfügbar ist, was für eine gründliche Beurteilung gebraucht wird. Klar ist auch: Die EMA wird bis zu ihrer Genehmigung über mehr Daten verfügen als die Briten. Um Zeit zu gewinnen, hatten die Zulassungsbehörden schon mit ihren Prüfungen begonnen, als die klinischen Studien noch liefen. Diese "rollierenden Prüfungen" ("Rolling Review") sind übrigens nicht weniger gründlich als die sonst üblichen.
Die Arbeit der Zulassungsbehörden ist keine einfache. Riesige Datenmengen sind zu sichten, zu bewerten und zugleich sind im Austausch mit den Herstellern die Qualität der Studien und der Produktionsanlagen zu beurteilen und für die Zukunft sicherzustellen.
Auch die Frage, wie die nächsten rund 150 Impfstoff-Kandidaten, die noch in der Pipeline sind, getestet werden sollen, ist nicht einfach zu beantworten.
Die etwa 20 weiteren Impfstoffe, die sich derzeit in Zulassungsstudien der Phase drei befinden, können bis zum Ende wohl weiter gegen ein "Placebo" - beispielsweise eine Kochsalzlösung - getestet werden. Nach den großen Erfolgen der beiden neuartigen mRNA-Vakzinen von Biontech und Moderna ist dieses Verfahren mit dem Placebo aber für weitere Zulassungsstudien ethisch nicht vertretbar. Es wäre geboten, dass die weiteren Impfstoffe gegen die beiden erfolgreichen Vakzinen getestet werden – um zu zeigen, dass sie noch besser wirksam sind, oder eben nicht. Auch das ist eine Frage, die die Behörden beantworten müssen.
Ungeachtet dessen bleibt für die Vorbereitung der Impfung nicht viel Zeit. Darum arbeiten wir in Deutschland derzeit mit viel Engagement und großem Einsatz an der Organisation der Impfungen. In Hessen werden 30 Impfzentren eingerichtet. Der Landkreis Fulda wurde von der Landesregierung beauftragt, ein Impfzentrum für die Region aufzubauen.
Bei uns in Fulda wird – so viel ist schon klar – die Waideshalle des Kongress- und Tagungshotels Esperanto das Impfzentrum des Landkreises.
Das Klinikum Fulda wird gemeinsam mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie dem DRK und mit Unterstützung der anderen Krankenhäuser und Hilfsdienste wie den Maltesern, dem Landkreis bei der Bewältigung tatkräftig zur Seite stehen. Dazu sind in den nächsten Tagen viele Fragen zu klären, von der Bereitstellung des Impfstoffes über die Gewinnung des Personals bis zur Frage, wie die notwendigen Termine fürs Impfen vereinbart werden sollen. Die Idee, die Termine über die KV - die Kassenärztliche Vereinigung als dem Zusammenschluss der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte – organisieren zu lassen, wird vielfach kritisch kommentiert. Denn die KV ist es auch, die die nicht immer glücklichen Abläufe in der Abstrich-Zentrale am Klinikum und anderswo organisiert.
Die Art, wie die beiden so genannten mRNA-Impfstoffe wirken, ist neu: Statt - wie beispielsweise bei der Grippeimpfung - das Virus als Ganzes hochzuzüchten, abzutöten und dann zu verimpfen, wird lediglich eine genetische Information, die so genannte mRNA – verpackt in kleine "Fett-Tröpfchen" – gespritzt.
Normalerweise wird die mRNA im Zellkern "produziert", indem eine Art "Kopie" von bestimmten Abschnitten der DNA- der eigentlichen Erbsubstanz – gezogen wird. Die mRNA verlässt dann den Zellkern und wandert zu den so genannten Ribosomen. Das ist der Ort, wo die Zelle ihre Proteine, die Eiweiße, bildet, anhand des Bauplans, den die mRNA enthält.
Die mRNA aus der Impfung nutzt diesen Mechanismus, nachdem sie die körpereigenen Zellen gelangt ist und liefert dort den "Bauplan" für das so genannte "Spikeprotein" (S-Protein) des Coronavirus. Das ist genau das Eiweißteilchen, das dem Virus bei einer Infektion den Zutritt in unsere Zellen ermöglicht. Das Protein wird nach der Impfung in unserem Körperzellen rund um die Einstichstelle eine Zeit lang produziert und gelangt dann in Kontakt mit unserem Immunsystem, das daraufhin Antikörper und spezifische Abwehrzellen bildet. Durch dieses Prinzip kann mit sehr wenig Menge an Impfstoff sehr viel erreicht werden, da der Körper selbst den eigentlichen Impfstoff herstellt. Der Impfstoff ist zudem sehr sicher, da der Botenstoff, die mRNA, sich nach einiger Zeit von selbst auflöst.
mRNA kann sich auch nicht in die eigentliche Erbsubstanz, in die DNA, einschleichen. Der Weg zurück in den Kern der Zelle, ist für die mRNA nicht möglich. Das gilt auch für die Spermien: Unfruchtbarkeit durch die Impfung entpuppt sich mithin als Schauergeschichte aus der Verschwörungsecke des Internets.
Die Nebenwirkungen, die aus den Studien bekannt geworden sind, bewegen sich im Rahmen der Erwartungen, seltene Nebenwirkungen werden im weiteren Verlauf dazu kommen, soviel ist klar. Und mögliche Langzeitauswirkungen der Impfung kennen wir auch noch nicht, wohl aber die langfristigen Auswirkungen einer COVID-Erkrankung, die in 10-20 Prozent der Fälle einen chronischen Verlauf nehmen kann.
Klar ist aber auch, dass jedes Medikament Nebenwirkungen hat, und es immer um eine Abwägung geht zwischen dem Nutzen und dem Risiko.
An dieser Stelle sollte dann der Verstand einsetzen. Sich dabei auf das Bauchgefühl zu verlassen, ist keine so gute Idee. Die vernünftige Antwort kann nur lauten: Ich lasse mich impfen. Ich sage ja zum Pieks. (Thomas P. Menzel) +++
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