Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Zeit für Ehrlichkeit: Corona am Scheidepunkt!
Fotos: Hendrik Urbin
16.11.2020 / REGION -
Wie geht es weiter mit Corona? Schaffen wir die Wende? Reichen die Maßnahmen aus? Oder ist es noch zu früh für eine Beurteilung?
Blicken wir auf den vorigen Freitag, denn die Zahlen, die am Wochenende gemeldet werden, sind nur eingeschränkt vergleichbar. Am vorigen Freitag, den 13. November, wurden dem RKI 23.542 neue Corona-Fälle übermittelt. Das war ein neuer Höchststand. Eine Woche zuvor, am 6. November, waren es 21.506 neue Fälle. Im Vergleich zum Vortag sind am 13. November weitere 218 Personen verstorben.
Nach wie vor stecken sich also viele Menschen am SARS-2-Virus an. Das liegt auch daran, dass es mittlerweile viele Menschen gibt, die an COVID-19 erkrankt sind und deshalb das Virus weitergeben können. Das Robert-Koch-Institut (RKI) gab für gestern die Zahl von fast 260.000 Erkrankten an. Dazu kommen sicherlich noch einmal so viele Menschen, die sich infiziert haben, ohne es zu bemerken oder die – trotz Symptomen – nicht zum Test gehen.
Die 7-Tage-Inzidenz bei Menschen, die älter als 60 Jahre sind, ist auf aktuell 97 je 100.000 Fälle gestiegen. Die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf der Erkrankung ist bei diesen Personen deutlich erhöht, eine Behandlung im Krankenhaus bis hin zur Intensivstation öfter erforderlich als bei jüngeren COVID-Patienten.
Keine Grund zur Entwarnung!
In Folge der vielen Neuinfektionen nimmt auch die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle deutlich zu. In den vergangenen zwei Wochen ist sie von 1.839 Patienten am 30. Oktober 2020 auf 3.325 Patienten am 14. November gestiegen. Und wer erst einmal auf der Intensivstation als Corona-Patient angekommen ist, bleibt im Schnitt mindestens 14 Tage dort, also länger als die meisten Patienten, die aus anderen Gründen intensivmedizinisch behandelt werden.
Doch schon vor einer Woche keimte Hoffnung. Die Zahl der Neuinfektionen stieg nicht mehr so schnell wie zuvor, und vor allem der R-Wert war gesunken. Lag dieser Wert, der anzeigt, wie viele andere Menschen von einem COVID-Erkrankten im Durchschnitt angesteckt werden, im Oktober durchgängig deutlich über 1 ist er derzeit - mit leichten Schwankungen - auf 1 gesunken.
Die Stabilisierung der Zahl der Neuinfektionen auf ein - für Deutschland allerdings - zu hohes Niveau ist ebenso ein gutes Zeichen wie der Abfall des R-Wertes, auch wenn der am Samstag mit 1,05 wieder leicht gestiegen ist. Aber es gibt definitiv keinen Grund zur Entwarnung.
Auch wird - trotz der mutmaßlichen Stabilisierung - die Zahl der kranken und der schwerkranken Menschen zunächst weiter steigen. Denn zwischen der Infektion, dem Ausbruch der Erkrankung und der Einweisung ins Krankenhaus in schweren Fällen können zwei bis vier Wochen vergehen. Am 24. Oktober zählten wir in Deutschland knapp 13.000 Neuinfizierte, am 30. Oktober knapp 20.000 und am 6. November waren es knapp 22.000. Davon werden sechs Prozent demnächst im Krankenhaus behandelt werden müssen und ein bis zwei Prozent auf einer Intensivstation. Hinzu kommen viele weitere, die sich mit leichteren Symptomen an ihre Hausärzte wenden. Das heißt: Die Zahl der Menschen, die nach einer Infektion im Gesundheitssystem ankommen, wird künftig steigen.
Positiv zu vermerken ist, dass die Zahl derer, die auf den Intensivstationen behandelt werden müssen, ist in den jüngsten Tagen nicht ganz so stark gestiegen ist, wie erwartet. Es sind schon heute über 3.330 COVID-Patienten auf den Intensivstationen und damit mehr als im Frühjahr. Doch es gibt Hinweise darauf, dass Patienten heute früher und besser behandelt werden, da wir mehr Erfahrung mit der Erkrankung und ihrer Therapie haben. Zu den Erfahrungen zählt auch, dass es häufig alte, multimorbide Menschen sind, die schwer erkranken. Es ist möglich, wahrscheinlich und ethisch sinnvoll, dass mit diesen Patienten und ihren Angehörigen ein Gespräch geführt wird, ob die maximale intensivmedizinische Behandlung noch gewünscht wird, oder ob eine schonendere Therapie gewählt wird, die vor allem auf die Linderung der Symptome zielt. Das wäre keine Triage, sondern verantwortungsbewusstes Handeln.
Das Beispiel zeigt zudem, dass die Pandemie und ihre Folgen nicht allein mit Zahlen zu beschreiben ist. Das gilt auch für die Belastungen des medizinischen Personals, das die COVID-Patienten behandelt, pflegt und begleitet. Psychisch und physisch. Es ist nicht lange her, dass ich in einem Kommentar an dieser Stelle darauf verwies, dass in Belgien schon Klinikmitarbeiter, die selbst an COVID leiden, weiterarbeiten, damit die Patientenversorgung aufrecht erhalten werden kann. So weit ist es in Deutschland wohl noch nicht, aber wir diskutieren schon darüber.
Botschaft der Politik muss deutlicher werden!
Es ist an der Zeit für Offenheit und Ehrlichkeit. Zwar sagen die Politiker längst die Wahrheit, aber sie müssen diese offenbar noch klarer sagen als mit den Worten "Der Winter wird schwer, aber er wird enden", damit alle die Botschaft verstehen. Dazu gehört auch, dass wir denen, die immer noch der Ansicht sind, unsere Antwort auf die Pandemie wäre weit übertrieben, keine vermeintlich seriöse Plattformen bieten dürfen, von denen aus sie Zweifel säen und Verunsicherung stiften können; auch nicht bei uns in Fulda. Dabei geht es nicht darum, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Aber Meinungsfreiheit ist nicht Faktenfreiheit, und vieles, was auf Facebook, Telegram und anderen Channels läuft, bleibt besser dort, wo es schon schädlich genug ist.
Heute sollten wir deutlich sagen, dass wir noch längere Zeit die Zahl der Kontakte zwischen Menschen und damit die Möglichkeit zur Weitergabe des Virus reduzieren müssen, wenn wir unser Gesundheitssystem und damit uns vor Überlastung schützen wollen.
Dabei spielt der Winter dem Virus in die Hände – so wie uns Menschen der Sommer Entlastung verschafft hat.
Dazu könnten auch Impfstoffe beitragen. Die aktuellen Nachrichten sind ermutigend. Die Firma Biontech aus Mainz, gegründet im Jahr 2008 mit dem Ziel, die individualisierte Behandlung von Krebserkrankungen voranzubringen, wird in Zusammenarbeit mit dem Pharmariesen Pfizer möglicherweise schon im Januar einen Impfstoff ausliefern. Mit der Europäischen Union haben die beiden Firmen gerade eine Liefervereinbarung über 200 Millionen Dosen ihres mRNA-basierten Impfstoffkandidaten "BNT162b2" gegen COVID-19 vereinbart. Mit zwei kleinen Impfungen im Abstand von drei Wochen konnte 90 Prozent der mehr als 20.000 mit dem echten Impfstoff behandelten Patienten bereits eine Woche nach der zweiten Injektion ein guter Schutz gegen eine Infektion mit den SARS-2-Virus vermittelt werden. Ein im Vergleich zur Placebo-Gruppe - der kein "echter" Impfstoff injiziert wurde - überzeugendes Ergebnis, das derzeit allerdings nur in Form von Pressemeldungen veröffentlicht und deshalb auch nur ein – wenn auch ermutigender - Zwischenstand ist.
Das Prinzip dieser Impfung ist neu. Statt - wie beispielsweise bei der Grippeimpfung - das Virus als Ganzes hochzuzüchten, abzutöten und dann zu verimpfen, wird lediglich eine genetische Information, die so genannte mRNA – verpackt in kleine "Fett-Tröpfchen" – gespritzt. Die mRNA gelangt in die körpereigenen Zellen und liefert diesen den "Bauplan" für das so genannte "Spikeproteins" (S-Protein) des Coronavirus. Das ist genau das Eiweißteilchen, das dem Virus bei einer Infektion den Zutritt in unsere Zellen ermöglicht. Das Protein wird nach der Impfung in unserem Körper eine Zeit lang produziert und gelangt dann in Kontakt mit unserem Immunsystem, das daraufhin Antikörper und spezifische Abwehrzellen bildet. Kommen wir schließlich mit SARS-CoV-2 in Kontakt, ist unser Immunsystem vorbereitet und kann den Angriff des Virus rasch abwehren.
Aber nicht nur von diesem Unternehmen kommt Impfstoff, sondern insgesamt 1,3 Milliarden Impfdosen hat sich die EU in einem Beispiel gebenden Gemeinschaftsakt gesichert, damit in allen Ländern geimpft werden kann. Wir können also die berechtigte Hoffnung haben, dass wir im kommenden Jahr beginnen werden, einen Impfschutz aufzubauen. Ob wir einen kompletten Impfschutz für die gesamte Gesellschaft noch vor dem Herbst erreicht haben werden, ist fraglich.
Allein die Verteilung des Impfstoffs und die Impfung so vieler Menschen ist eine große Herausforderung. Die Vorbereitungen dafür laufen derzeit im Hintergrund sehr konzentriert.
Klar ist aber auch: Wenn der kommende harte Winter zu Ende sein wird, wird ein nächster Winter kommen, in dem die neue Normalität noch nicht Vergangenheit sein dürfte.
Lage in Osthessen: angespannt, aber unter Kontrolle!
Die finanziellen Ausgleiche, die bis Ende September gewährt wurden, werden jetzt wieder notwendig. Kommen sie nicht, sind Krankenhäuser mitten in der 2. Welle von der Insolvenz bedroht. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Doch ungeachtet dessen arbeiten alle, die im Gesundheitswesen Verantwortung tragen, sehr gut zusammen in der Region Fulda. Probleme, wie beispielsweise die langen Wartezeiten im Test-Zentrum der Kassenärztlichen Vereinigung am Klinikum Fulda, werden rasch und effizient gelöst. Innerhalb von Hessen werden Patientinnen und Patienten aus Rhein-Main und dem Kinzigtal, wo die Intensivstationen erheblich belastet sind, nach Nord- und Osthessen verlegt - geräuschlos und kollegial.
Diese Solidarität ist ermutigend und kann beispielhaft für uns alle sein: Nur mit einer großen solidarischen Anstrengung und aktiver Eigenverantwortung aller werden wir auch weiterhin gut durch diese Krise kommen und uns die Chance auf eine Wende erarbeiten. (Thomas P. Menzel) +++
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