Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Impfen gegen Corona: Jetzt erst recht!
Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Oded Balilty
22.02.2021 / REGION -
In Israel, dem weltweiten Spitzenreiter bei den Corona-Impfungen, wurden bis zum 18. Februar bereits 7.078.000 Dosen des BioNtech-Pfizer-Impfstoffs verabreicht. Damit sind dort 78 Prozent der Bevölkerung zumindest einmal geimpft. Fast 90 Prozent der Menschen, die älter als 60 Jahre sind, haben ihre erste Dosis erhalten. Und, die israelische Impfkampagne zeigt offenbar Wirkung. Die Zahl der Neuinfektionen in der Altersgruppe der über 60jährigen, die zuerst geimpft wurden, ist deutlich zurückgegangen: Die bestätigten Covid-19-Infektionen sind von Mitte Januar bis Anfang Februar um 41 Prozent gesunken, Krankenhauseinweisungen wegen Covid-19 werden in dieser Altersgruppe ebenfalls immer seltener, ihre Zahl ging um 31 Prozent zurück.
Dennoch: die Daten sind ermutigend, wenn auch mit Vorsicht zu genießen.
Eigentlich hatte man in Israel erwartet, die positiven Auswirkungen der Impfungen schon früher zu sehen. Allerdings wurde mit Beginn der Impfkampagne die potenziell hochinfektiöse Variant B.1.1.7 vermehrt nachgewiesen, die einen früheren Rückgang der Fälle durch die Impfungen verhindert haben dürfte.
Und auch in der sehr wichtigen Frage, ob Geimpfte das Virus noch weitergeben können, gibt es ermutigende Nachrichten: Die Viruslast in Im Mund-Rachenraum ist bei Geimpften nach einer Exposition mit dem Virus deutlich geringer als in Abstrichen von Ungeimpften vor der Impf-Kampagne. Mit der Viruslast sinkt auch die Ansteckungsfähigkeit. Die Hinweise, dass Geimpfte das Virus nicht mehr weitergeben und damit für andere nicht mehr ansteckend sind, mehren sich. Das ist gut, wirft aber auch neue Fragen auf: Wenn Geimpfte andere nicht mehr anstecken, entfällt die Begründung für die meisten der derzeit vorgeschriebenen Schutznahmen. Aber das ist eine andere Diskussion.
Wie läuft es bei uns?
Seit Beginn der 'Großen Impfung' in Deutschland am 27. Dezember 2020 wurden bereits 4.719.900 Impfdosen verabreicht, davon allein am vergangen Donnerstag, dem 18. Februar, 139.128. Die Erst-Impfung haben damit 3.085.114 Personen erhalten, das sind immerhin 3,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, 1.634.786 Personen sind schon zweimal geimpft worden.
Aber: Bis zum 18. Februar 2021 wurden in Deutschland 6.813.795 Dosen Impfstoff angeliefert. Darunter 5.740.995 Dosen von BioNTech/Pfizer, 736.800 Dosen von AstraZeneca und 336.000 Dosen von Moderna. Rein rechnerisch liegen derzeit also noch etwa 2.1 Mio. Impfdosen im Lager. Warum ist das so?
Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten.
Nicht einmal vier Wochen sind vergangen, dass wir glaubten, in einer großen Impfkrise zu stecken. AstraZeneca wollte weniger Impfstoff liefern, als die EU mit dem Hersteller an Liefermengen vereinbart hatte, sagte später jedoch eine umfangreichere Lieferung zu. BionTech hat seine Produktionskapazitäten ausgeweitet, Moderna liefert ebenso, wenn auch vergleichsweise kleine Mengen. Aber insgesamt scheint der Impfstoff bei Weitem nicht zu reichen, um die Nachfrage zu decken. Was zu teilweise absurden Diskussionen führt, in denen jede Berufsgruppe für sich exklusiv die sofortige Impfung fordert. Und für die, die zwar noch nicht dran sind, aber definitiv nicht warten wollen, ist extra ein neues Wort geschaffen worden. Die "Impfdrängler" stehen allerorten am Pranger.
Diese Diskussion wird sich von alleine erledigen, wenn, ja wenn, endlich genug Impfstoff zur Verfügung steht, haben wir alle angenommen.
Nicht ganz. Denn jetzt, wo die Lieferungen von AstraZeneca anlaufen, beginnt schon die nächste Diskussion: Der Impfstoff ist schwer in die Kritik geraten. Nachdem ja schon die Zulassungsstudie von Pannen begleitet war – bei der Hälfte der Probanden wurde bei der ersten Impfung versehentlich nur die halbe Dosis des Impfstoffs gespritzt – wird nun darüber diskutiert, wie wirksam die Impfung überhaupt ist, und ob die Häufigkeit und das Ausmaß der Nebenwirkungen nicht weit größer sei, als bei den anderen Impfstoffen.
In Wahrheit ist es aber eine Kommunikationskrise.
Die begann schon während des Streits zwischen der EU-Kommission, einigen EU-Mitgliedsstaaten und AstraZeneca im Januar. Abgesehen davon, dass die unterschiedlichen Standpunkte der Kontrahenten schwer zu verstehen und vermittelbar waren, verdrehten einzelne – eigentlich seriöse - Medien auch noch die Fakten. Der Impfstoff sei bei älteren Menschen nur eingeschränkt wirksam, hieß es. Das stimmte nicht. Vielmehr war es so, dass über den Einsatz des Impfstoffs bei älteren Menschen nur beschränkt Daten vorlagen. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) ließ den Impfstoff dennoch uneingeschränkt für die Menschen der Altersgruppe 65plus zu. Einzelne nationale Behörden, darunter die deutsche, entschieden sich anders.
Daraufhin wurden die Impfpläne geändert. Der Impfstoff von AstraZeneca sollte jüngeren Menschen zugute kommen. Die aber fragten sich offenbar: Warum soll ich mich als jüngerer damit impfen lassen, wenn das Präparat für die älteren nicht gut genug ist?
Die Frage der Laien war verständlich, aber nicht berechtigt. Unverständlich bleibt, warum die Fachleute nicht sogleich – in verständlichen Worten – das drohende Missverständnis ausräumten. Denn der Wirkstoff von AstraZeneca hat unbestritten eine hohe Wirksamkeit – je nach Studie – von 60 bis mehr als 80 Prozent, insbesondere in der Verhinderung schwerer Verläufe der COVID-Erkrankung.
Gleichwohl nährt der Hamburger Radiologe und Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery die Zweifel. Die geringere Wirksamkeit eben dieses Impfstoffes sei nicht wegzudiskutieren, sagte er der Rheinischen Post und äußerte Verständnis dafür, dass sich medizinisches Personal damit nicht impfen lassen wolle. In den Medien verdichtete sich die Botschaft gleichsam zur Warnung vor dem Impfstoff durch den Weltärztepräsident. Solche unbedachten Aussagen zeigen jetzt Wirkung.
Hinzukamen – nach ersten Impfungen mit der Vakzine von AstraZeneca – Meldungen über stärkere Nebenwirkungen bei Klinikpersonal: Bis zu einem Viertel der Impflinge klagte über Abgeschlagenheit, Frösteln oder Fieber und hat sich krank gemeldet. Daraufhin lehnten vielerorts in Deutschland die Mitarbeiter aus dem Medizinbetrieb und von Rettungsdiensten die Impfung ab. Im Saarland erschienen Ärzte und Pflegekräfte nicht zu ihrer vereinbarten Impfung. Und wenn schon Ärzte und Pflegekräfte Wirksamkeit und Verträglichkeit des Impfstoffs in Zweifel ziehen, dann muss da ja wohl was dran sein – denkt sich der Beobachter.
Doch was besagen eigentlich die Fakten?
Um es vorwegzunehmen: Je 1.000 Impfungen wurden 1,9 Fälle von Nebenwirkungen oder Komplikationen gemeldet.
Hier kommen die Zahlen im Detail: Aus Deutschland wurden von Beginn der Impfkampagne am 27. Dezember 2020 bis zum 12. Februar 2021 7.690 Verdachtsfälle von Nebenwirkungen oder Impfkomplikationen gemeldet, die im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung mit dem mRNA-Impfstoff Comirnaty (BioNTech Manufacturing GmbH), der COVID-19 Vaccine von Moderna und dem COVID-19 Vaccine von AstraZeneca auftraten, berichtet das Paul-Ehrlich-Institut (PEI).
In 1.178 Fällen wurde über schwerwiegende Reaktionen berichtet, in 1.072 Fällen nach Impfung mit Comirnaty, in 41 Fällen nach Impfung mit dem COVID-19 Impfstoff Moderna und in elf Fällen nach Impfung mit dem COVID-19 Impfstoff AstraZeneca. In 63 Fällen mit schwerwiegenden Reaktionen wurde der Name des Impfstoffes nicht angegeben. Die Melderate betrug für die drei Impfstoffe zusammen 1,9 pro 1.000 Impfdosen, für Meldungen über schwerwiegende Reaktionen 0,3 pro 1.000 Impfdosen gesamt.
Das ergibt ein anders Bild, als es in der Öffentlichkeit vermittelt wird. Die Tatsache, dass aufgrund der späteren Verfügbarkeit insgesamt weniger AstraZeneca-Dosen verimpft worden sind als Dosen von anderen Herstellern ist dabei zu berücksichtigen.
Alle bisher beobachteten Nebenwirkungen der Impfung sind in Quantität und Qualität normal. Sie waren genau so erwartet und vorhergesagt worden. Sie sind unvermeidlich, wenn nicht sogar beabsichtigt, denn sie zeigen, dass der Körper auf die Impfung reagiert und die erhofften Abwehrstoffe bildet. In der Art und der Zahl der Nebenwirkungen unterscheiden sich die Impfstoffe kaum, bis auf den einen Punkt: Beim Impfstoff von AstraZeneca treten die Nebenwirkungen meist nach der ersten Impfung auf, bei den Impfstoffen von Biontech/Pfizer und Moderna meist nach der zweiten Dosis.
In Dortmund hatten sich nach der Impfung von Feuerwehrleuten am Donnerstag rund 25 Prozent der Mitarbeiter krankgemeldet, wie eine Sprecherin der Stadt sagte. Auch die Stadt Düsseldorf hat nach dem Bericht der Zeitung "Rheinische Post" bereits reagiert und schickt die Rettungskräfte zeitversetzt zum Impfen. Der ärztliche Leiter des Impfzentrums im Kreis Lippe, Ludger Böhlen, berichtet davon, dass sich bei etwa 20 bis 30 Prozent der Geimpften Symptome zeigten. "Das ist ein typisches Bild wie bei einer Grippe, die Leute frösteln, bekommen Kopfschmerzen und Fieber", sagte Böhlen der F.A.Z. "Manche hat es richtig aus den Socken gehauen, die wollten nur noch ins Bett."
Spätestens nach ein paar Tagen seien die Symptome dann wieder abgeklungen. Vorsorglich könnten Impflinge Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Paracetamol nehmen, rät der Arzt. "Ich bin seit 30 Jahre Hausarzt und habe tausendfach geimpft, aber so etwas habe ich so noch nicht gesehen", sagt Böhlen. Immerhin seien die teils heftigen Symptome ein Zeichen dafür, dass das Immunsystem reagiere. "Diese Leute haben eine starke Immunisierung zu erwarten."
Wer das weiß, kann damit umgehen. Um den Ablauf in einem Betrieb oder einem Krankenhaus nicht zu stören, sollten nicht alle Mitarbeiter einer Betriebseinheit an einem Tag geimpft werden, und jeder Impfling sollte bei der Vakzine von AstraZeneca nach der ersten Dosis und bei den gentechnisch gewonnenen Impfstoffen nach der zweiten Dosis – wenn das möglich ist – zwei ruhigere Tage einplanen. Außerdem kann die Einnahme von Ibuprofen oder Paracetamol –sofern dagegen keine Kontraindikation vorliegt – die Beschwerden erheblich abmildern.
Unbedingt sollten sich alle Menschen mit einem der zugelassenen Stoffe impfen lassen und dass so bald wie möglich, sofern keine ernsthaften Gründe im Einzelfall dagegen sprechen. Denn wir sind mitten in einer Pandemie. Ein bedrohliches Virus geht um. Von 100 Menschen, bei denen eine Infektion festgestellt wird, sterben 2,5. Das ist jede 40. Person von 100 festgestellten Infizierten. Die Folgeschäden und die Langzeitfolgen sind heute noch gar nicht absehbar.
Zwar haben wir durch unsere Kontakteinschränkungen große Erfolge erreicht. Die Zahl der Neuinfektionen, die der Todesfälle und die Inzidenz sinken. Aber die Mutanten, die weit ansteckender sind, breiten sich aus. Nach neuen Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) aus der vergangenen Woche stieg der Anteil der britischen Mutante an den Neuinfektionen binnen zwei Wochen von knapp 6 auf mehr als 22 Prozent. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn fürchtet, dass diese Variante in Deutschland bald die dominierende werden könnte. Der Anteil der südafrikanischen Version beträgt aktuell 1,5 Prozent.
Und die britische Variante ist weit ansteckender als der Wildtyp des Virus. Eine einfache Betrachtung macht das deutlich. Beträgt der R-Wert 1,0 bleibt die Zahl der Infizierten gleich, weil jeweils eine Person rechnerisch eine andere ansteckt.
Lange lag der R-Wert bei uns bei knapp 0,8, zum Wochenende ist er allerdings auf 1,01 anstiegen. Das ist nicht gut. Die ansteckendere Variante des Virus breitet sich auch bei uns weiter aus. Ein R-Wert von 1,1 klingt erstmal nicht so dramatisch. Eine Person steckt 0,1 weitere Personen an. Aber das ist immerhin eine Steigerung um 10 Prozent und das in wenigen Tagen.
Aus 10.000 Infizierten werden im ersten Zyklus von maximal sieben Tagen 11.000, aus den 11.000 werden – multipliziert mit 1,1 – in maximal einer weiteren Woche 12.100 Infizierte, dann sind es 13.310, 14.641 und nach fünf Zyklen sind es 16.105 Infizierte.
Wenn wir zwar ebenfalls von 10.000 Infizierten ausgehen, aber einen R-Wert von 1,6 annehmen, mit dem sich die britische Mutante ausbreiten kann, dann kommen wir nach fünf Zyklen oder etwa einem Monat auf 122.298 Infizierte.
Nur mit der Impfung kann der Weg aus der Pandemie und dem Lockdown, der uns allen so viel abverlangt und die Wirtschaft niederringt, gelingen.
Die Schnelltests, die für alle kommen sollen, können nur eine Hilfe für den Übergang sein. Sie müssen erst einmal da sein, richtig angewandt werden – auch von Laien -, und wir werden mit den Testergebnissen verantwortlich umgehen müssen. Ein positives Ergebnis muss unverzüglich zur Isolation und zur weiteren Abklärung führen.
Verantwortlich sollten wir ebenso mit Informationen umgehen, und im Zweifel mehr, aber vor allem für jedermann verständlich erklären. Unverantwortlich ist es, vor wirksamen Impfstoffen zu warnen, solange an den lebensrettenden Vakzinen noch ein Mangel herrscht, der allein in Deutschland bis zum 17. Februar schon für 66.732 Menschen tödlich war. (Thomas P. Menzel) +++
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