Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

Die "Große Impfung" beginnt: Corona bleibt dennoch auf dem Vormarsch!

Die "Große Impfung" hat begonnen: Die Heimbewohnerin Edith Kwoizalla ist mit ihren 101 Jahren die erste, die am Samstag Corona geimpft wurde.
Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Matthias Bein

27.12.2020 / REGION - Weihnachten hat sich in diesem Jahr für viele von uns deutlich besinnlicher angefühlt als sonst. Die Heilige Nacht war wirklich still. Die Straßen, auf denen es sonst an den Feiertagen geschäftig zugeht, waren - wenn auch nicht leer – so doch weniger frequentiert. Lediglich dort, wo auch zu Weihnachten immer etwas los ist – bei uns in den Krankenhäusern – war es alles andere alle ruhig. Es war deutlich mehr zu tun. Deshalb haben wir auch die Besetzung der Stationen und Bereiche nicht reduziert, wie sonst um diese Zeit. Ich möchte allen denen, die an diesen - in doppelten Sinne ganz besonderen Feiertagen - ihren Dienst tun, dafür herzlich danken! Dabei bin ich mir sicher, dass ich das auch in Ihrem Namen - liebe Leserinnen und Leser - tun darf.  

Die Corona-Nachrichtenlage ist an diesem Feiertagswochenende leider nicht wirklich gut. Die Anzahl der Neuinfektionen bleibt hoch, auch wenn es nicht so aussieht. An Weihnachten wird halt nicht überall getestet. Und viele COVID-19-Patienten in den Krankenhäusern, die es nicht geschafft haben, müssen in den nächsten Tagen beerdigt werden.

In Sachsen und in Thüringen wird es in diesen Tagen eng in den Krankenhäusern. Auch der Platz für die vielen Corona-Toten wird knapp. Wir denken an die Alten, die sich in Pflegeheimen an Weihnachten besonders isoliert fühlen, dürfen darüber auch die Kinder und Jugendlichen nicht vergessen, die häufig mehr noch als die Alten unter den Restriktionen leiden. Kinder spüren sehr genau, was ihre Eltern und Großeltern belastet. Sie schlafen oder träumen schlecht in einem Jahr wie diesem, oder fragen schon einmal: Müssen Oma und Opa jetzt sterben, weil doch Corona vor allem sie treffe? Jugendliche leiden, weil sie auf Leben, Neugier und Aufbruch, auf Kontakte, Erlebnisse und Erfahrungen unter Gleichaltrigen programmiert sind. Und mit der Gelassenheit der Alten ist es dieser Tage so eine Sache. Jetzt, wo die Impfung sozusagen vor der Tür steht, möchte man nichts mehr falsch machen.

Wer das Buch über die "Spanische Grippe" von Laura Spinney "1918 – Die Welt im Fieber" - im Original übrigens mit "The pale rider" viel treffender betitelt - über die letzte aufgrund ihrer Größe, Globalität, Dauer und Tödlichkeit vergleichbaren Pandemie liest, der erfährt viel über unsere heutige Lage. Es dauerte damals lange und länger als die meisten dachten und auch als wir heute denken. Aber die Lektüre des Buches ist eben alles andere als ein Appell zu Lethargie und Fatalismus, kein Auruf zur passiven Ergebenheit in das, was wir als unabänderliches Schicksal wähnen, sondern ein Auftrag zu Vorsicht und Rückzug sowie – zur selben Zeit – zum mutigen Handeln.

Handeln, indem wir weiter vorsichtig sind. Handeln, indem wir uns in nächsten Monaten alle impfen lassen. Diese Option gab es 1918 noch nicht. Damals – und das ist auch erst 100 Jahre her – wusste niemand, dass es Viren überhaupt gab. Da sind wir heute weiter, auch wenn sich in den aktuellen Diskussionen um die Impfung noch einiges vom magischen Denken der letzten Jahrhunderte wiederfindet.  

Das ist ja auch nicht überraschend. Die Informationen zum Virus und zur Pandemie sind nicht leicht verdaubar. Wer, der sich nicht auch sonst damit beschäftigt, kann spontan schon etwas mit Begriffen wie "RNA-Impfstoff", "zellulärer Immunität" oder "Mutation in der Bindungsdomäne" anfangen. Ganz abgesehen davon, dass die, die auf diesem Gebiet firm sind, auch nicht alle mit einer Stimme sprechen. Aktuelles Beispiel sind die neu aufgetretenen Veränderungen des Virus, die schon erwähnten Mutationen, die für die Anpassung eines Virus an seinen Wirt von großer Bedeutung und deshalb auch an der Tagesordnung sind. Die Nachrichten von neuen Mutanten des Virus bereiten uns Sorgen. Ob diese berechtigt sind, werden die nächsten Tage zeigen. Insbesondere die hier schon am letzten Sonntag besprochene neue Variante (VUI2020/12/01), die jetzt offiziell "B1.1.7.Linie" heißt, wirft die Frage auf, ob die Impfungen wirksam  bleiben. Der in Deutschland zunächst exklusiv zum Einsatz kommende Impfstoff von Biontech/Pfizer, der seinen Labornamen "BNT162b2" abgegeben hat und jetzt offiziell "Tozinameran" heißt und auf den Markennamen Comirnaty® hört, wird wohl weiter wirksam sein, sagt Ugur Sahin, der Chef der Firma Biontech: "Wir müssen das jetzt experimentell testen. Das wird etwa zwei Wochen in Anspruch nehmen. Wir sind aber zuversichtlich, dass der Wirkungsmechanismus dadurch (die Mutation) nicht signifikant beeinträchtigt wird." Der Impfstoff sei bereits gegen circa 20 andere Virusvarianten mit anderen Mutationen getestet worden, die Immunantwort habe stets alle Virusformen inaktiviert. Gute Nachrichten immerhin bei diesem Thema, auch wenn viele Menschen eine gewisse Skepsis zeigen, wenn es ums Impfen geht. Zu dieser Skepsis und zum fehlenden Vertrauen vieler in das, was die Wissenschaft in absoluter Rekordzeit geleistet hat, haben wir uns an dieser Stelle schon geäußert.

Hier zusammengefasst die Antworten auf die häufigsten Fragen und Mutmaßungen zur Corona-Impfung, in Anlehnung an ein Infoblatt einer Hausarztpraxis aus Bayern, in dem ein Kollege aus der Hausarztpraxis Kröner & Kolleginnen in Neu-Ulm das wichtigste auf treffende Weise zusammengefasst hat:


Ja, wir – und ich ganz persönlich – empfehlen die Corona-Impfung. Wir werden uns und unsere Familien sobald wie möglich auch selbst impfen lassen. Weil wir nicht an COVID-19 erkranken wollen. Und weil wir davon überzeugt sind, dass die Impfung sicher ist. Zugelassen ist der Impfstoff für alle Personen ab 16 Jahren. Der Impfstoff, den die deutsche Firma Biontech gemeinsam mit der US-Pharmafirma Pfizer entwickelt hat, wurde – bevor ihn die Europäische Arzneimittelbehörde EMA am 21. Dezember 2020 ordentlich zugelassen hat – an über 21.000 Menschen getestet. Ebenso viele erhielten eine Injektion ohne den eigentlichen Impfstoff. In beiden Gruppen kam es nur zu geringen Nebenwirkungen wie Schmerzen an der Einstichstelle, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Erschöpfung, die auch rasch wieder verschwanden. Nachdem der Impfstoff in Großbritannien zugelassen war und breit zur Anwendung kam, traten bei einigen Geimpften auch allergische Reaktionen auf, die sich mit den richtigen Medikamenten gut beherrschen ließen.

Der Impfstoff verändert das Erbgut nicht und ist nach aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis sicher. Er enthält so genannte mRNA, die eine Art Bauplan für die Produktion von Eiweißstoffen ist und keine DNA, die unser Erbgut bildet. RNA enthalten übrigens auch die meisten Erkältungsviren, die uns in jedem Jahr heimsuchen. Bei jeder durchgemachten Erkältung hat der Erkältungsvirus mRNA in die Zellen seines Wirts eingebracht, um sich zu vermehren, ganz ohne das Erbgut des Menschen zu verändern. Dass das so ist, darüber haben sich – verständlicherweise – die meisten Menschen bisher noch nie Gedanken gemacht.

Alles, was in der Zulassungsstudie – an der übrigens so viele Menschen teilgenommen haben wie an fast keiner Impf-Studie zuvor – passiert ist, wurde komplett im "New England Journal of Medicine" veröffentlicht. Alle Informationen sind für alle öffentlich abrufbar. Diese Zeitschrift ist tatsächlich eine durch und durch seriösere Quelle, anders als WhatsApp, Telegram, Facebook und andere.

Sehr wahrscheinlich sind 95 von 100 Menschen geimpften Menschen vier Wochen nach der ersten der im Abstand von drei Wochen verabreichten zwei Injektionen mit dem Impfstoff vor einem tödlichen Verlauf der Coronainfektion geschützt. Die Frage, ob die Impfung auch davor schützt, dass man selbst nicht mehr ansteckend ist, können wir heute noch nicht beantworten, aber wahrscheinlich wird das so sein. Verbindliche Antworten auf diese wichtige Frage erwarten wir im Februar. Auf Masken werden wir deshalb wohl vorerst nicht verzichten können. Wie lange der Impfschutz hält, wissen wir noch nicht genau. Aber es sieht so aus, als ob er lange genug anhält, um die Pandemie zu stoppen.

Und: keine mit der Impfung implantierten Chips … Bill Gates steckt nicht hinter der Seuche ….und die Pharmaindustrie hat nicht alle Wissenschaftler:innen "gekauft", um einen schnellen Euro zu machen. Wirklich nicht!

Auch ganz wichtig: die Impfung ist für jede einzelne Person in Deutschland selbstverständlich kostenfrei. Bleibt nur die Frage, wann es denn endlich losgeht mit der "Großen Impfung". Schon am 11. Dezember standen in Hessen – und anderswo – die Impfzentren bereit. Die Verantwortlichen auf der kommunalen Ebene haben wirklich Herausragendes in kurzer Zeit geleistet. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hat am 21.12. die Zulassung erteilt. Und heute, wenn Sie diese Zeilen lesen, werden auch bei uns in Fulda die ersten Menschen bereits geimpft worden sein. Und damit hat ein Impfmarathon – die "Große Impfung" begonnen.

Bis Ende März sollen nach Angaben des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn bis zu zwölf Millionen Impfdosen bereit stehen. Da jeder Impfling zwei Dosen im Abstand von drei Wochen erhält, reicht diese Menge rechnerisch zunächst für bis zu sechs Millionen Menschen. Bis zum Sommer sollen alle Bürgern ein "Impfangebot" erhalten. Voraussetzung ist, dass bis dahin weitere Präparate eine Zulassung erhalten. Über die Zulassung des Mittels des amerikanischen Herstellers Moderna will die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) bis zum 6. Januar 2021 entscheiden. Allein von den beiden Impfstoffen der Hersteller Biontech/Pfizer sowie Moderna sind für Deutschland nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 136 Millionen Dosen gesichert, die nahezu alle 2021 geliefert werden könnten. Damit ließen sich 68 der 83 Millionen Einwohner schützten. Jedoch einer nach dem anderen, wenn auch parallel in etwa 400 Impfzentren und später zusätzlich in den Arztpraxen.

Nichtsdestotrotz wird die Pandemie uns noch länger begleiten, länger auch, als wir uns das wünschen. Auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten kann es immer wieder mal ein Aufflackern der Seuche geben, irgendwo auf der Welt, aber COVID-19 wird seinen Schrecken verloren haben. Nach der Pandemie von 1918, die nach drei Jahren auch nicht mit einem Mal erlosch, kamen mehr Kinder zur Welt als zuvor, und die Wirtschaft erholte sich rasch. Die Zwanzigerjahre des vergangen Jahrhunderts wurden legendär. Die Pandemie ist noch nicht zu Ende aber – übrigens einzig und allein durch die Möglichkeit der Impfung - an einem Wendepunkt in ihrem Verlauf. Es liegt – nicht allein, aber ganz entscheidend - an uns selbst, wie es mit uns allen weitergeht.

Und, selbst wenn es viele nicht mehr hören wollen: AHA hilft. Abstand und Hygiene, Masken tragen. So war das auch 1918, 1919 und 1920. Viren als solche waren damals noch nicht bekannt. Aber jene Städte in den USA, die Kontakte einschränkten, Massenveranstaltungen untersagten und einen Gesichtsschutz vorschrieben, kamen besser durch die Zeit als spanische Städte, in denen sich die Menschen in den Kirchen dicht an dicht zum Gebet gegen die Krankheit versammelten.

Die Auswirkungen der weihnachtlichen Begegnungen dieses Jahres werden wir in den kommenden Wochen auf unseren Intensivstationen erleben. Wir hoffen, dass die Folgen im Rahmen bleiben, und wir auch weiter für alle, die uns brauchen, da sein können.

Die Technische Universität (TU) Berlin hat am 17. Dezember eine Corona-Prognose auf der Basis angenommener Mobilitätsdaten der Berliner veröffentlicht. Denn Mobilität schafft Kontakte und damit Übertragungsmöglichkeiten für das Virus. Wenn das rücksichtsvolle Verhalten aus dem Dezember – mit den Einschränkungen zur Monatsmitte und den vorgezogenen Schulferien – über Weihnachten und Silvester fortgeführt würde, sänke die Zahl der Neuinfektionen und die angestrebte Schwelle einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner wäre in Berlin Anfang März erreicht.

Wenn die Menschen, trotz aller Appelle, die Lockerungen an Weihnachten zu (zu) vielen Besuchen genutzt haben sollten, wird die Zahl der Neuinfektionen nach Weihnachten wieder auf das Niveau von Anfang Dezember emporschnellen. Dann läge sie über Monate doppelt so hoch wie nach einer "Stillen (Weih-)Nacht", und die angestrebte Sieben-Tage-Inzidenz von 50 neuen Fällen je 100.000 Einwohner würde erst Ende März/Anfang April erreicht.

Sollten wir aber nicht nur Weihnachten, sondern auch Silvester zur erhöhten Mobilität und zu vielen (ungeschützten) Kontakten nutzen und uns erst danach stark erst einschränken, stiege die Zahl der Neuinfektionen am Tag kurzfristig um 50 Prozent an. Und wir hätten dann über Monate drei Mal sehr hohe Werte. Die Sieben-Tage-Inzidenz wäre erst im April auf dem angestrebten Niveau. Diese Simulation zeigt, wie wichtig die konsequente Einschränkung der Kontakte ist. Die Folgen der Treffen zu Weihnachten werden wir in den Krankenhäusern und auf den Friedhöfen bis weit in den April zu spüren bekommen, selbst dann, wenn von nun an endlich alle Vernunft einkehren ließen. Als die TU Berlin die Daten vorlegte, waren die – offenbar ansteckenderen - Mutanten des Virus noch nicht bekannt.

Je unvernünftiger jeder einzelne jetzt handelt, desto schmerzhafter und länger werden wir alle unter der Seuche leiden. Bis genug von uns durch die Impfung immunisiert sein werden, kann das Virus noch viele ungeschützte menschliche Wirte finden, um eine Schneise in die Gesellschaft zu schlagen, wie derzeit in Sachsen. Auch in Fulda, in Osthessen und im Kinzigtal. (Thomas P. Menzel) +++

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