Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Bewertung der aktuellen Corona-Lage: Keine Überraschungen!
Fotos: O|N
25.01.2021 / REGION -
Bis zum 22. Januar 2021 haben in Deutschland 1.501.639 Menschen die Erstimpfung gegen SARS-CoV-2 erhalten, berichtet das Robert-Koch-Institut. Das sind 1,7 Prozent der Gesamt-Bevölkerung, fast 78.000 Menschen sind bereits zum zweiten Mal geimpft und damit vollständig immun gegen SARS-CoV-2. Bei dem derzeit in Deutschland verwendeten Impfstoff der Firma Biontech (Comirnaty®) sind zwei Impfungen im Abstand von drei Wochen vorgesehen, die vollständige Immunität tritt vier Wochen nach der ersten Impfung ein, ist aber schon einige Tage nach der ersten Impfung zumindest teilweise vorhanden.
Zu den Geimpften kommen über zwei Millionen bestätigte COVID-19-Fälle und noch weitere acht bis zwölf Millionen unbestätigten Fälle, die "Dunkelziffer", hinzu. Auch diese Menschen sind immun: sie werden selbst nicht mehr krank, wenn sie erneut auf das SARS-CoV-2 treffen, und werden es auch nicht an andere weiter geben.
Ja, es gibt Ausnahmen: Menschen, die sich zwei Mal mit SARS-CoV-2 infizieren und auch erkranken. Im Verhältnis zur Gesamtzahl allerdings spielen diese extrem wenigen Fälle keine Rolle. Zu Reinfektionen mit genetisch veränderten, mutierten Viren gibt es erst sehr wenige Daten. Deshalb können wir heute auch nicht sagen, ob es mehr Reinfektionen geben wird, wenn sich die neuen Mutanten aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien auch in Deutschland festsetzen. Derzeit sieht es aber nicht so aus. Der so genannte "Immun-Escape" bewegt sich für B1.1.7 im Bereich von weniger als 20%. Die Antikörper, die im Rahmen der Impfung oder der Erkrankung gebildet werden, erkennen das Virus auch in der mutierten Form und können es neutralisieren.
Warum das so ist, zeigt diese einfache Rechnung:
Beträgt der R-Wert 1,1 klingt das nicht dramatisch. Eine Person steckt 0,1 weitere Personen an. Aber das ist immerhin eine Steigerung um 10 Prozent und das in wenigen Tagen.
Aus 10.000 Infizierten werden im ersten Zyklus von maximal sieben Tagen 11.000, aus den 11.000 werden – multipliziert mit 1,1 – in maximal einer weiteren Woche 12.100 Infizierte, dann sind es 13.310, 14.641 und nach fünf Zyklen sind es 16.105 Infizierte.
Wenn wir zwar ebenfalls von 10.000 Infizierten ausgehen, aber einen R-Wert annehmen, mit dem sich die britische Mutante ausbreitet, dann kommen wir nach fünf Zyklen auf 122.298 Infizierte.
Und aus Infizierten werden Kranke, und einige davon werden eine Behandlung im Krankenhaus brauchen, etwas mehr als 1 Prozent von allen Infizierten werden versterben.
Sollte sich die englische Variante auch bei uns verbreiten, brauchen wir darüber hinaus auch mehr immune Menschen um die Pandemie zu stoppen, wahrscheinlich muss die Herdenimmunität schließlich zwischen 85 und 90 Prozent liegen und nicht wie bisher gedacht bei etwas über 70 Prozent.
Schlechte Corona-Nachrichten aus England!
Und leider kommen aus England weitere schlechte Nachrichten: Die mutierten Virusvarianten scheinen schwerere Krankheitsbilder zu verursachen. Das geht aus einem vorläufigen Bericht der SAGE-Gruppe, der "Scientific Advisory Group for Emergencies", die die britische Regierung wissenschaftlich berät, vom 21. Januar hervor.
Damit wird wieder einmal deutlich, dass die Corona-Pandemie nur international erfolgreich bekämpft werden kann. Das fordern erneut Wissenschaftler aus ganz Europa in einer Publikation, die ebenfalls am 21. Januar in der renommierten Fachzeitschrift "The Lancet" erschienen ist: Prävention, enge Beobachtung der Verbreitung der Mutanten, Reduktion der Mobilität, schnelleres Impfen im europäischen Maßstab wären sehr hilfreich.
Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland war mit mehr als 20.000 am Tag zwar lange Zeit weiterhin hoch, doch nun scheint sie zu sinken. Das Robert Koch-Institut (RKI) gab gestern die 7-Tage-Inzidenz mit 119,0 an - das ist der niedrigste Wert seit dem 1. November 2020. Ihren bisherigen Höchstwert hatte sie kurz vor Weihnachten mit 197,6 erreicht. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind jedoch groß: Die höchsten Inzidenzen haben Thüringen mit 225,0 und Brandenburg mit 203,3. Den niedrigsten Wert hat Bremen mit 76,6.
Bei uns in Landkreis Fulda liegt der Wert am Freitag bei 275!
Die Zahl der Todesfälle in Deutschland innerhalb von 24 Stunden betrug 1.013 (Datenstand 21. Januar, 00:00). Die Marke von 50.000 ist überschritten. Bis zum 22. Januar 2021 sind 51.713 Menschen im Zusammenhang mit COVID-19 verstorben. Daraus errechnet sich eine Fallsterblichkeit von 2,4 Prozent, bereinigt um die Dunkelziffer sowohl bei den Fällen als auch bei den Todesfällen gehen wir derzeit davon aus, das etwa 1 Prozent aller COVID-Erkrankten versterben.
Etwa 5 Prozent der Fälle werden im Krankenhaus behandelt, 2 Prozent auf den Intensivstationen. Nach wie vor verstirbt mehr als die Hälfte der beatmeten Patientinnen und Patienten, teilweise nach mehr als fünfwöchiger Behandlung. Viele von denen, die es schaffen – egal ob über den Umweg auf die Intensivstation oder auch ganz ohne Behandlung - tragen lange und schwer an den Folgen. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass bis zu 40 Prozent der "Genesenen" an Langzeitfolgen wie Abgeschlagenheit, Atemnot bei Belastung und anderen Beschwerden leiden. Schäden an den Organen, die im Verlauf der COVID-Erkrankungen entstanden sind, führen nach Monaten zu erneuten Einweisungen ins Krankenhaus und zu Todesfällen.
Wie soll es bei uns in Deutschland weitergehen?
Also bleibt als wichtigste Änderung der verpflichtende Umstieg auf "medizinische Masken" in Geschäften und im öffentlichen Verkehr - den die meisten Menschen schon am Tag nach der Konferenz der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten vollzogen haben, wie ein Blick in Geschäfte, Busse und Bahnen beweist -, die "harte" Aufforderung zum Homeofffice, die weitere Schließung der Schulen und Kitas sowie der Appell an die Vernunft.
Solange wir noch keinen ausreichenden Impfschutz haben, die Umstände der Jahreszeit offenbar die Ausbreitung des Virus begünstigen, und das Virus auf natürliche Weise durch Mutation seine Ausbreitungsdynamik immer weiter optimiert, bleibt uns nur der Selbstschutz durch die Reduktion oder gar den Ausschluss von Kontakten unter potentiellen Wirten. Und Wirte sind alle, die noch nicht die Krankheit durchgemacht haben. Ob die Impfung die Impflinge so weit protegiert, dass sie das Virus selbst nicht weitertragen, ist noch nicht wissenschaftlich geklärt. Die Antwort auf diese sehr, sehr wichtige Frage erwarten wir bis Ende Februar.
All jenen, die nun klagen, dass der Shutdown einmal mehr verlängert wurde, und die mit einer Rückkehr zur Normalität in naher Zukunft rechnen, sei die Wirklichkeit vor Augen geführt.
Und diese Beschränkungen werden notwendiger denn je, eben weil sich die neuen Virusvarianten erheblich schneller ausbreiten als die bisher bekannten. Wenn wir jetzt nicht das Vordringen der deutlich ansteckenderen Mutanten verhindern, dann kippt die Quantität in eine neue, möglicherweise verheerende Qualität.
Wir werden uns für die kommenden Monate, länger als bis Mitte Februar und vielleicht auch bis weit ins zweite Quartal, auf ein Leben unter Coronabedingungen einstellen müssen.
Es würde die Debatte heutzutage jedoch erleichtern, wenn wir mehr evidenzbasierte Aussagen über das Infektionsgeschehen hätten, um Risiken begründet reduzieren zu können. Wie groß ist die Ansteckungsgefahr in Kindergärten und Schulen? Welchen Risiken sind Lehrer im Vergleich zu Krankenpflegern und Ärzten ausgesetzt? Wie gefährlich ist es Bus und Bahn zu fahren? Wie groß ist das Infektionsrisiko in Büros und Fabriken? Wie weit verbreitet sind die gefährlichen Mutanten? In Deutschland und Frankreich als den großen Ländern im Zentrum der EU werden die Viren sehr selten, ja zu selten sequenziert, um Veränderungen überhaupt feststellen zu können. Das soll besser werden. In Belgien und den Niederlanden ist das anders und besser. Dort wurden deshalb schon Hot-Spots, in denen sich die Mutation ausbreitet, isoliert.
Wir haben in der Region Fulda bisher fast 6.000 Menschen geimpft, unter anderem in 36 von 38 Pflege- und Altenheimen im Landkreis. 80 Prozent der dortigen Bewohner und mehr als 60 Prozent der dort arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die Impfung selbst lief bisher gut. Die Gabe der ersten Dosis haben – bis auf wenige Ausnahmen – alle Impflinge ohne jegliche Nebenwirkungen verkraftet. Nach der Verabreichung der zweiten Dosis gab es schon mehr Reaktionen wie Fieber, Schüttelfrost und Abgeschlagenheit, die aber nicht von Dauer waren. Sehen wir es so: Die Impfung hilft. Denn Fieber und Schüttelfrost waren Abwehrreaktionen auf den mit der Impfung simulierten Angriff des Virus.
Impftsoff in den Krankenhäusern weiter knapp!
Knapp ist der Impfstoff weiterhin in den Krankenhäusern und in den Praxen. Das ist nicht gut und führt zu erheblichem Unmut bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Hier muss dringend gegengesteuert werden. Die Impfung für die Beschäftigten in den Gesundheitseinrichtungen ist auch ein Zeichen der Wertschätzung für die aufopferungsvolle Arbeit in den letzten Monaten, weit mehr als die warmen Worte.
Die Frage schließlich, ob die Geimpften mehr dürfen als die Ungeimpften, stellt sich einstweilen noch nicht. Denn der Grund für die Impfung ist zum einen der Schutz für das geimpfte Individuum. Für die Gesellschaft wichtiger ist allerdings der Schutz der Gemeinschaft vor einer Ansteckung durch ein – auch geimpftes – Individuum. Solange nicht klar ist, ob der Impfschutz nicht nur das Individuum vor dem Virus, sondern auch die Gesellschaft vor dem infektiösen Individuum schützt, werden sich die Menschen nach einer Impfung an die allgemeinen Regeln halten müssen.
Da die Impfung staatlich finanziert, ermöglicht und geregelt wird, gibt es auch politische Gründe – etwa der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung – das Leben aller Deutschen für eine Weile ähnlich oder gleichermaßen einzuschränken.
Wenn aber erst einmal für alle Erwachsenen und Nicht-Schwangeren die Möglichkeit besteht, sich impfen zu lassen, dann gibt es auch keinen Grund mehr, die Geimpften mit Restriktionen zu beschränken. Es geht hier nicht um Privilegien. Es geht um die Rückkehr zu Grundrechten, die für eine befristete Zeit aus guten Gründen eingeschränkt sind. Wenn aber kein Grund zur Einschränkung der grundlegenden Freiheitsrechte mehr besteht, dürfen die Menschen auch nicht länger mit Einschränkungen belegt werden.
Anders sieht es für den aus, der ein bestehendes Impfangebot nicht wahrnimmt. Sollte von dieser Person weiterhin ein gesundheitliches Risiko ausgehen für andere, dann gibt es einen Grund und eine Verpflichtung, andere vor diesem Risiko zu schützen, - und das käme ebenfalls keiner Impfpflicht gleich.
Auch wenn in privatrechtlichen Beziehungen eine Impfung verlangt wird, um Zutritt zu einem Kino und Theater, zu einem Restaurant und Hotel zu erlangen, um ein Flugzeug, einen Bus oder einen Konferenzraum betreten zu dürfen, kommt das keiner Impfplicht gleich. Wer ohne medizinischen Grund keine Impfung will, der muss halt draußen bleiben.
Frage der Impfpflicht
Es ist vollkommen berechtigt, die Frage der Impfplicht zu stellen. Die Gesellschaft wird sie schon auf ihre Weise beantworten. Wer ohne einen triftigen Grund unsolidarisch ist, und darauf setzt, dass die anderen ihn durch eine Impfung schützen, exkludiert sich – zumindest für eine Übergangsphase auf dem Weg zur globalen Herdenimmunität - selbst vom gesellschaftlichen Leben.
Wir steuern also noch auf herausfordernde Debatten zu in einer Zeit, in der der Wahlkampf in einigen Bundesländern und schließlich im Bund den Alltag prägen wird. Indem die Pandemie dank der Impfung bewältigt werden wird, gewinnt sie eine zunehmend politische und kulturelle Dimension. (Thomas P. Menzel) +++
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