Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

Covid-19-Situation zu Beginn des Herbstes: Es ist noch nicht vorbei

Der Herbst könnte steigende Infektionszahlen bringen
Symbolbild: Pixabay

05.10.2020 / REGION - In Deutschland leben etwa 82 Millionen Menschen. Die Zahlen der Pandemie erscheinen dagegen überschaubar: Seit Februar dieses Jahres zählen wir 300.000 bestätigte Infektionen, davon 13.000 in den letzten sieben Tagen, 2.673 am 2. Oktober. 9.500 Menschen sind bisher im Zusammenhang mit einer COVID-Erkrankung verstorben, von den mehr als eine Millionen Tests pro Woche, fällt derzeit nur einer von 2.000 positiv aus, fast an jedem Tag wird in einer Stadt die Grenze von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen überschritten.



Wenn sich 60 bis 70 Prozent der Menschen infizieren müssen, damit wir als Gesellschaft die nötige Immunität erreichen, um das Virus nicht mehr weiterzugeben und dadurch die Pandemie zu stoppen - davon gehen die meisten Wissenschaftler derzeit aus – dann bedeutet das: Wir sind erst ganz am Anfang.

Das ist die Situation in Deutschland zu Beginn des Herbstes, dargestellt in nackten Zahlen.

Zahlen und andere Fakten sind abstrakt. Menschen denken lieber in Geschichten. Wer im eigenen Umfeld niemanden mit einer COVID-19-Erkrankung kennt, dem fällt es schwerer, sich auf das Thema einzulassen und es einzuordnen. Und wir alle sehnen uns nach Normalität.

Blicken wir zurück: Am 3. April hatte Deutschland mit 6.174 Neuinfektionen den bisherigen Gipfelpunkt der Pandemie erreicht. Seither sank die Zahl der Neuinfektionen bis in die erste Juniwoche und begann dann wieder – von 214 Neuinfektionen am 8. Juni - zu steigen. Am 2. Oktober wurden in Deutschland 2.673 Neuinfektionen gemeldet. Damit sind wir zwar noch weit weg vom bisherigen Gipfelwert im April, aber die Kurve hat längst wieder die Richtung gewechselt und steigt an.

Weniger Covid-19-Patienten in Kliniken

Allerdings werden in den Kliniken derzeit deutlich weniger COVID-Patienten behandelt als noch im Frühjahr. Das liegt auch daran, dass das Durchschnittsalter der Infizierten erheblich niedriger ist als damals, von 52 Jahren ist es auf etwa 30 Jahre gesunken. Jüngere Menschen erkranken in der Regel weniger schwer. In den Krankenhäusern herrscht fast überall wieder Normalbetrieb, mal abgesehen von den Besuchsbeschränkungen und einer insgesamt um etwa 10 bis 15 Prozent niedrigeren Auslastung. Die Krankenhäuser in Deutschland waren und sind mit der Behandlung schwerkranker Corona-Patienten nicht überfordert.

Viele ältere Menschen sind aufmerksam und schützen sich selbst. Die Altersheime und Seniorenresidenzen haben beindruckend schnell und gut reagiert und sehr wirksame Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt. Wir alle achten mehr aufeinander. Rückblickend haben wir im letzten halben Jahr alle gemeinsam etwas Herausragendes geschafft: Wir haben die exponentielle Ausbreitung von Sars-COV-2 regelrecht ausgestanden, indem wir unsere Mobilität und den Umgang miteinander eingeschränkt haben.

Andere Länder in Europa waren und sind aktuell erneut wieder viel stärker von der Pandemie betroffen als wir. Vielerorts auf unserem Kontinent steigen die Zahlen sogar exponentiell. Auch dort zeigt sich eine andere Altersverteilung als im Frühjahr, allerdings gibt es auch schon erste Engpässe in den Krankenhäusern. Diese Entwicklung kann sich auch in Deutschland ergeben. Aber wir haben im Gegensatz zu Frankreich und Spanien noch Zeit für eine angemessene Reaktion.

Wie diese Reaktion aussehen könnte, haben die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin in dieser Woche aufgezeigt: Es kommt weiterhin auf jeden Einzelnen an.

Breite Diskussion gefordert

Das sagen auch Prof. Dr. med. René Gottschalk, Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts, und seine frühere Stellvertreterin, Prof. Dr. med. Ursel Heudorf. "Deutschland ist nicht durch ,Glück‘ bislang so gut durch diese Krise gekommen: Natürlich ist die Bettenkapazität (vor allem die der Intensivbetten) ein wesentlicher Faktor. Aber den entscheidenden Anteil hat(te) die Arbeit der Gesundheitsämter, die die meisten Indexfälle und deren Infektionsketten nachverfolgen konnten. Dadurch kam es zur schnellen Isolierung von Indexfällen bzw. zur Quarantänisierung von Kontaktpersonen." Kritsch merken die beiden allerdings an: "Ob dies bei einer Erkrankung, die zum weitaus größten Teil bei den Patienten leicht oder gar asymptomatisch verläuft, sinnvoll ist, muss bezweifelt werden…", und fordern eine breite Diskussion der Maßnahmen unter stärkerer Einbeziehung der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitswesens.

Die Berliner Zeitung zitierte Gottschalk mit der Einschätzung, dass die gegenwärtige Strategie zur Bekämpfung der Pandemie von Containment (Eindämmungsstrategie), Protection (Schutz für Risiko-Gruppen) und Mitigation (Folgenminderung), die im nationalen Pandemieplan des Robert-Koch-Institutes (RKI) beschrieben seien, abweiche. Derzeit werde ausschließlich Containment betrieben, was angesichts der Fallzahlen dringend überdacht werden sollte. Sollten wir also schwache, anfällige Personen stärker schützen, und mehr Wert auf die Linderung von Folgen der Infektion legen, um die Eindämmung des Virus durch die Übertragung durch Menschen zu reduzieren? Der von Ihnen empfohlene neun Punkte umfassende Maßnahmenkatalog enthält allerdings wenig Neues und überwiegend vertraute Empfehlungen wie "Abstand halten", "Masken tragen", sich im Freien aufzuhalten und Räume gut zu lüften.

Auch wenn die Aussagen zu falsch positiven PCR-Tests in dem Artikel nicht nachvollziehbar sind, der Impuls aus der Perspektive eines renommierten Experten für das öffentliche Gesundheitswesen kann die Debatte zu Zielen und Mitteln der Pandemie-Bekämpfung bereichern, denn die Fragen, die Gottschalk aufwirft, sind es wert, diskutiert zu werden.

Doch zugleich gilt noch immer die Erkenntnis, dass Sars-CoV-2 eine schwere, ansteckende Erkrankung ist, die - wenn wir ihre Ausbreitung nicht eingedämmt hätten - sehr wohl zum Tod vieler Menschen und zur Überlastung selbst unseres deutschen Gesundheitssystems geführt hätte. Und auch der häufig angeführte Vergleich mit der Virus-Grippe für die "man ja auch nicht gleich das ganze Land lahm legt" ist definitiv vom Tisch. In einer aktuellen Publikation auf Basis einer Vielzahl internationaler Studien wird gezeigt, dass die Influenza beispielsweise in den USA über einen mehrjährigen Zeitraum eine Infektionssterblichkeit von 0,05 Prozent aufweist, Covid-19 dagegen eine 16 Mal höhere Infektionssterblichkeit von 0,8 Prozent. Bei 75 bis 84 jährigen beträgt die Sterblichkeit 7,3 Prozent und von COVID-Erkrankten, die älter als 85 Jahren sind, stirbt fast jeder Dritte.

Aerosole - unterschätztes Risiko

Auch die Rolle der Aerosole, dieser besonders kleinen Tröpfchen, die sich länger in der Luft halten und das Virus übertragen können, rückt wieder verstärkt in den Blick. Eine von zahlreichen internationalen Wissenschaftlern erstellte Zusammenfassung macht deutlich, dass die Rolle der Aerosole als Überträger von Viren – und nicht nur von Corona-Viren - lange Zeit unterschätzt wurde.

Deshalb sollte sich jeder von uns merken, dass die Ansteckungsgefahr drinnen – und insbesondere in überfüllten, schlecht gelüfteten Räumen, in denen die Menschen auf Tuchfühlung gehen, wo sie singen, laut sprechen oder sich bei der Arbeit oder beim Sport verausgaben, wesentlich größer ist als draußen. Lüften, also der Austausch von Luft und nicht das Verquirlen der mit infektiösen Aerosolen belasteten Luft mit einem Ventilator, ist sinnvoll. Doch Lüften braucht seine Zeit – je nach Größe der Fenster im Verhältnis zum Raumvolumen. In Wohngebäuden dauert es 30 Minuten, bis die Luft im Innenraum zu 95 Prozent ersetzt ist, und in einem Krankenhauszimmer bis zu fünf Minuten.

Und – korrekt getragene und regelmäßig ausgetauschte - Mund-Nase-Bedeckungen helfen draußen wie drinnen, um sich und andere vor einer Infektion zu schützen.

Verbunden mit dem Abstand halten und dem regelmäßigen, gründlichen Waschen der Hände sind das alles Hinweise für ein rationales Verhalten im Alltag. Begegnungen mit anderen Menschen unter Wahrung von Abstand und Hygieneregeln, das Erledigen von Einkäufen, das Nachgehen der Erwerbstätigkeit, der Besuch von Schulen, Spaziergänge, Restaurantbesuche im Freien oder großen, gelüfteten Räumen mit dem nötigen Abstand zum Nachbarn und notwendige Konsultationen von Ärzten sowie das Aufsuchen von Gesundheitseinrichtungen sind – unter der Einhaltung von Regeln - weiterhin möglich.

Indes sollten Menschen aus der Risikogruppe sich ihrer Verletzlichkeit bewusst sein. Für sie tragen wir alle Verantwortung – auch die Risikopatienten selbst. Wir beklagen zwar gern den föderalen Flickenteppich, den Deutschland auch in der Corona-Politik knüpft. Aber die Seuche breitet sich im Nahbereich aus. Es geht um Meter und Mikrometer. Das Virus geht von Mensch zu Mensch, wenn ihm die Möglichkeit gegeben wird.

Das Virus macht keine Ausnahme

Das zeigen ja auch die aktuellen Nachrichten aus den USA. Selbst im Weißen Haus macht das Virus keine Ausnahme. Darum ist es richtig, die Seuche lokal passend zu bekämpfen – und nicht allein durch Restriktionen, sondern vor allem durch Aufklärung.

Das zeigt die Analyse des Infektionsgeschehens in den Einzelfällen: Es gibt Gründe, warum sich das Virus in den Gemeinschaftsunterkünften oder bei einzelnen Familienfeiern rasant ausbreitet, in anderen Unternehmen oder sozialen Strukturen in unmittelbarer Nachbarschaft aber eben nicht. Die Eindämmung der Pandemie dort und überall, wo Menschen auf engem Raum zusammen kommen, ist weniger eine medizinische, als vielmehr eine politische und didaktisch-pädagogische Aufgabe.

Die Zeichen dafür, dass wir mit Optimismus in den Herbst gehen können, stehen nicht schlecht. Denn wir haben in unserer europäischen Nachbarschaft vor Augen, wie unsere Zukunft auch aussehen könnte, und was passiert, wenn wir in unserem Bemühen, Corona einzudämmen, nachlassen sollten.

In einem Streifen von Spanien, über Frankreich, Belgien und die Niederlande bis Dänemark haben sich während der vergangen zwei Wochen mehr als 120 Personen je 100.000 Einwohner mit dem neuartigen Virus infiziert. In Österreich, der Schweiz und UK – um nur wenige Beispiele zu nennen – waren es 60 bis 119,9 Personen, und in Italien, Deutschland, Polen, Norwegen, Schweden und Finnland waren es 20 bis 59,9 Personen je 100.000 Einwohner.

Die Zahl der Menschen, die mit oder an COVID binnen der letzten zwei Wochen gestorben sind, beträgt in Deutschland und Schweden 0,2 je 100.000 Einwohner, in Italien 0,4, in Belgien 0,7, in den Niederlanden 0,9, in Frankreich 1,4 und in Spanien 3,3.

Insbesondere Frankreich und Spanien sind Länder, in denen die Politik der jeweiligen Zentralregierung zur Eindämmung der Seuche etwa in Marseille sowie in einigen Vierteln von Madrid auf lokalen Widerstand gestoßen ist, hat sich die Seuche wieder ausgebreitet. Im föderal strukturierten Italien hingegen, das im Frühjahr vom Virus in seinem Norden auf verheerende Weise heimgesucht worden war, sind die Zahlen aktuell moderat wie hierzulande. Das hat wahrscheinlich einen simplen Grund: Die Menschen handeln eigenverantwortlich, nehmen COVID ernst, haben Respekt vor einer Infektion.

Infektionen werden niemals zu 100 Prozent zu vermeiden sein. Aber jeder einzelne von uns kann das Risiko, sich und andere zu infizieren, mindern – und damit die eigene Freiheit und die des anderen möglichst uneingeschränkt erhalten. Nicht die Fahrt auf der Autobahn in die Ferien oder der Spaziergang am Strand führen zur Infektion mit dem Virus, sondern Unbedachtheit, Übermut, Vorsatz – und immer wieder auch der Zufall, ob in Fulda oder Hünfeld, in Westerland oder Ischgl. (Thomas P. Menzel) +++

Dr. Thomas Menzel - weitere Artikel

↓↓ alle 42 Artikel anzeigen ↓↓

X