Gast-Kolumne von Dr. med. Thomas Menzel
Corona in Deutschland: Den Rückstand aufholen!
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08.03.2021 / REGION -
Unter dem Hashtag "#SpahnMussWeg" bei Twitter finden sich bald 1.400 Tweets mit der immer gleichen Forderung: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn solle zurücktreten. Naja, ob das dann Impfungen und Schnelltests beschleunigen und besser machen würde, ist fraglich. Festzustellen ist aber schon, dass nicht nur der Gesundheitsminister, sondern die Bundesregierung in Gänze in der Bewertung durch die Bevölkerung schlechter abschneidet als noch vor einigen Wochen.
Der Chor der Stimmen, die eine "Öffnungsperspektive" verlangen, wird immer lauter und immer fordernder und wird auch dort gehört, wo bisher Vorsicht und Geduld gepredigt wurden. Die Beschlüsse der Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin am vergangenen Mittwoch sind nicht der "Große Wurf", den wir eigentlich brauchten – den wir aber ehrlicherweise auch nicht erwartet hatten.
Denn das, was in der vergangenen Woche auf dreizehn Seiten mit Punkten, Unterpunkten und relativierenden Protokollerklärungen beschlossen wurde, ist eine "Öffnung" nur in Trippelschritten und knüpft diese an zahlreiche Bedingungen, die selbst mit Hilfe eines farbigen Schaubilds nur schwer vermittelbar sind.
Die Diskussion darüber, ob die Inzidenz-Kennzahl nun die allein selig machende ist oder nicht, ist nicht neu, wird aber derzeit wieder neu entfacht. Die Inzidenz – also die Anzahl an neuen Erkrankungen - ist und bleibt der wichtigste Indikator der Pandemie. Insbesondere in Verbindung mit der Altersverteilung bei den Neuerkrankungen lässt sich sehr gut prognostizieren, wie sich die Belegung der Corona-Intensiv- und Normalstationen in den folgenden zehn bis zwanzig Tagen entwickeln wird.
Und die Maßnahmen an sich - was ist von denen zu halten?
Zunächst mal ist festzuhalten, dass das Regelwerk komplex ist. Die Politiker haben versucht, möglichst vielen Forderungen der unzähligen Interessengruppen irgendwie entgegen zu kommen. Aber das ist keine gute Idee.
Die Beschlüsse der Politik vermitteln alles andere als eine erlösende Perspektive. Die Eröffnung dieser ersehnten, befreienden Perspektive konnte wohl auch keiner erwarten. Denn Öffnung ist – einstweilen – noch keine Lösung, sondern allenfalls eine riskante Linderung der gesellschaftlich und wirtschaftlich empfundenen Schmerzen.
Die Zahl der Menschen, die an oder mit COVID sterben, verharrt auf einem hohen Niveau. Wenn wir nun – selbst nur in Trippelschritten – öffnen, wird sich die Ausbreitung des Virus mit Hilfe immer neuer, ansteckender Varianten wieder beschleunigen. Ob und wie die Tests in Eigenverantwortung uns helfen werden, die Pandemie zu bremsen, steht noch in den Sternen.
Gleichwohl gibt es eine echte Perspektive auf Öffnung und Freiheit. Allein der Blick darauf ist verstellt von der kleinkarierten Öffnungsdebatte.
Die Impfung ist unsere Perspektive.
Erst wenn genügend Menschen immunisiert sein werden, wird jene ersehnte Öffnung mit wenig "Wenn und Aber" möglich sein. Das kann schon im Herbst der Fall sein. Besser ein sicherer, direkter Weg in die Freiheit für immer mehr Menschen, als ein Fluchtversuch durch einen Hindernisparcours für alle, der Geld, Energie und Geduld kosten sowie Opfer fordern wird.
Dieser Weg führt über die Impfung! Nur über die Impfung.
Aber das Thema Impfung geht in dem Papier der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten nahezu unter. Die Impfstoff-Lieferungen kommen von Woche zu Woche verlässlicher und die verfügbaren Mengen steigen stetig. Wir kommen mit den Impfungen voran. Aktuell sind etwa acht Prozent der Bevölkerung geimpft. Allerdings ist die damit verbundene Bürokratie – nicht zuletzt ausgelöst durch die "Impfdrängler-Diskussion" – ebenfalls stetig mehr geworden.
Und es sollte nicht mehr die Hälfte aller Lieferungen für die zweite Impfung zurückgehalten werden. Die Produktionskapazitäten werden weltweit Tag für Tag ausgeweitet. In drei Wochen oder in drei Monaten wird ausreichend Biontech- oder AstraZeneca-Impfstoff da sein, machen wir uns darüber keine Sorgen mehr und verimpfen wir alles, was da ist.
Die Hausärzte werden in die Impfungen einbezogen. Das wird im April Realität werden, das Tempo erhöhen und das ist gut so.
Und der wirksame und verfügbare Impfstoff von AstraZeneca ist nun endlich auch in Deutschland für Menschen der Altersgruppe 65plus zugelassen.
Immer mehr Impfstoffe werden in der Summe geliefert und weitere, neue Impfstoffe kommen noch hinzu. Der Impfstoff von Johnson und Johnson, der in den USA bereits eine Notzulassung erhalten, wird voraussichtlich in der nächsten Woche auch eine Zulassung für die EU erhalten. Damit steht neben AstraZeneca ein zweiter Vektor-Impfstoff zur Verfügung, der bei Kühlschranktemperatur deutlich einfacher zu lagern ist und der nur einmal gespritzt werden muss.
Unser Klinikum Fulda ist – auch beim Impfen – vorne dabei. Wir lassen weder etwas "anbrennen", noch etwas liegen. Das ist auch gut so. Denn wer geimpft ist, ist weniger ansteckend! Mit jeder Impfung schützen wir nicht nur die geimpfte Person, sondern auch alle Menschen, die den Geimpften begegnen. So, wie sich das Virus ohne Schutz exponentiell ausbreitet, so breitet auch die Impfung ihren Schutz in umgekehrter Richtung exponentiell aus.
Deshalb sollten wir in der Konsequenz auch die Priorisierung diskutieren.
Ist sie gerecht oder ungerecht? Darauf wird es keine einfache Antwort geben, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt: Ja, mit dem Alter und erkennbar von 50 Lebensjahren an wächst das Risiko langsam aber stetig, tödlich an COVID-19 zu erkranken. Wer über 80 Jahre alt ist, hat rechnerisch ein größeres Risiko schwer zu erkranken und daran zu sterben, als ein 60-Jähriger. Aber wer hat mehr an Lebensjahren zu verlieren? Vor dem 70-Jährigen liegen rechnerisch noch 15 Jahre, vor dem 60-Jährigen 25 und vor dem 50-Jährigen noch 35 Jahre. Die gegenwärtige Priorisierung zielt darauf, Todesfälle zu vermeiden. Wollten wir auf die Sicherung bedrohter Lebensjahre setzen, folgte daraus eine andere Priorisierung.
Wenn demnächst das Volumen an verfügbaren Impfstoffen zunehmen wird, könnten wir doch auch an anderen Orten als in Impfzentren die Vakzinen spritzen, könnten zeigen: Impfen, das ist gut und ab jetzt normal. Sei es in Einkaufszentren, im Bahnhof oder anderswo.
Andere Länder führen es uns vor. Wir können von ihnen lernen. Nicht umgekehrt. Deutschland ist im Umgang mit der Pandemie derzeit kein Vorbild mehr. Holen wir jetzt wenigstens den Rückstand auf. Wir sind dazu bereit. Man muss uns nur lassen.
Noch ein Hinweis für alle Leserinnen und Leser: in der nächsten Woche wird die Kolumne nicht erscheinen. Danach geht es in einem zweiwöchigen Rhythmus weiter. Bleiben Sie uns gewogen. (Thomas P. Menzel) +++
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