Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

Corona ist nicht planbar: Impfungen für alle!

Jede Impfung schützt mindestens ein Leben.
Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress | Dwi Anoraganingrum/Geisler-Fotop

01.03.2021 / REGION - Die dritte Welle rollt an. Von 35 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen - vor wenigen Wochen noch das erklärte, ehrgeizige Ziel des aktuellen Shutdowns – davon spricht heute in der Politik niemand mehr. Stattdessen legen die Landesregierungen der Reihe nach ambitionierte Stufenpläne für umfassende Lockerungen vor, die bei der Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin am kommenden Mittwoch wohl beschlossen werden sollen.

Das ist keine gute Idee – auch wenn das schmerzlich klingt.

Denn tatsächlich ist davon auszugehen, dass wir im April wieder mit einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 100 rechnen müssen – ohne die jetzt diskutierten Lockerungen! Und wenn die Lockerungen kommen, könnte auch eine Sieben-Tage-Inzidenz um 200 erreicht werden.

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe:

Die britische Mutation B.1.1.7, die wohl um 35 Prozent infektiöser ist als der Wildtyp des Virus, greift weiter um sich. Deutschlandweit ist B.1.1.7 bereits für mehr als 25 Prozent aller COVID-Erkrankungen verantwortlich. Im Laufe der nächsten Wochen wird B1.1.7 die Regel werden und dann mehr als 90 Prozent aller COVID-Fälle ausmachen.

B1.1.7 erreicht auch die jüngeren Altersgruppen und auch die Kinder. Die Anzahl der schweren Verläufe wird - wie es die aktuellen Berichte aus Israel zeigen - den höheren Altersgruppen deutlich zurückgehen aber dafür bei den Jüngeren (noch nicht geimpften)  stark zunehmen. COVID gefährdet nicht nur die Alten!

Zum anderen sehen wir seit Mitte Februar trotz des Shutdowns wieder mehr Kontakte. Selbst wenn B1.1.7 nicht gefährlicher sein sollte als das bisherige Virus –  und dafür, dass es gefährlicher ist, gibt es mittlerweile einige Hinweise – werden sich die Krankenhäuser wieder auf mehr COVID-Patienten einstellen müssen.

Forderungen nach Lockerungen 

Und just in dieser Phase der Pandemie werden die Forderungen nach einer Lockerung der Restriktionen immer lauter. Die Politik kommt zunehmend unter Zugzwang, selbst Markus Söder stimmt in den Chor der Öffnungsbefürworter ein. Zur Begründung werden die derzeit "guten" Zahlen zitiert. Doch die können – wie wir im ersten Jahr der Pandemie immer wieder schmerzhaft rund um den Globus erfahren haben – trügerisch sein.


Mit den aktuellen Öffnungsskizzen erweckt die Politik den Eindruck, als wäre die Zukunft unter den gegenwärtigen Umständen planbar. Doch das ist sie nicht. Das Virus hält sich nicht an einen Fahrplan, und hat uns, seit es 2019 in die Welt kam, schon manches Rätsel aufgegeben.

Rätselhaft bleibt auch, warum wir in den vergangenen Wochen vieles von dem, was wir uns vorgenommen hatten, nicht wirklich hinbekommen haben. Der Kipp-Punkt war das Impfen. Im Herbst hatten wir voller Elan begonnen, Impfzentren auf kommunaler Ebene einzurichten. Wir waren Mitte Dezember bereit und hätten mit den Impfungen beginne können. Dann wurde der erste Impfstoff später zugelassen als erwartet, dann kamen die Impfstoffe in geringerer Zahl als erwartet und dann entbrannte ein Streit um den Impfstoff von AstraZeneca, der wirklich völlig unnötig war. "Das ist schlecht gelaufen", sagte der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission, Prof. Dr. Thomas Mertens, im ZDF.

Da hat er wohl Recht. Seine Kommission hat die Altersbeschränkung von 65 Jahren für den AstraZeneca-Impfstoff verhängt, aber nicht deutlich genug darauf hingewiesen, dass diese Einschränkung aus Sicht der Kommission nur deshalb erforderlich war, weil in der Zulassungsstudie zu wenige ältere Menschen dabei waren und die Datenlage deshalb nicht ausgereicht hat, die Zulassung auch für die Gruppe 65plus zu erteilen.

So ist der Eindruck entstanden, der Impfstoff britisch-schwedischen Konzern AstraZeneca sei "2. Wahl". Dazu beigetragen haben viele weitere Stimmen, auch die des "Weltärzte-Präsidenten" Montgomery, die letztlich dazu geführt haben, dass mehr AstraZeneca-Impfstoff in den Regalen liegt als wir verimpfen. Unter den täglich etwa 160.000 Impf-Dosen, die wir derzeit verimpfen, sind nur wenige – zu wenige - von AstraZeneca.

Das wiederum löst eine Kaskade von Verwerfungen aus. Der Impfstoff fügt sich nicht in unsere Priorisierungsliste für die Impfungen. Für die Menschen über 70, die nach der Gruppe 80plus nun in die Impfzentren kommen, ist der Impfstoff nicht zugelassen. Also steht er für Menschen bis 64 aus den oberen Priorisierungsgruppen – wie Polizei, Feuerwehr und Medizin - zur Verfügung. Aus diesen aber wehren sich einige lautstark gegen das Präparat mit dem Hinweis, dass der Impfstoff weniger wirksam und zudem auch noch deutlich schlechter verträglich sei. Die Konsequenz: Der Impfstoff wird zum Ladenhüter. Von 1,4 Millionen Dosen wurden in der vorigen Woche nur gut 200.000 verimpft, weil sich Rettungssanitäter, Krankenhauspersonal und Polizisten weigern, den eigentlichen Lebensretter zu akzeptieren. Nun soll demnächst das Personal in Kindergärten und Grundschulen damit geimpft werden. Mal sehen, wie dort die Akzeptanz sein wird.

Es ist eigentlich ein Skandal: Wir haben weniger Impfstoff, als wir einsetzen könnten. Wir achten auf eine strikte Reihenfolge der Impfberechtigten. "Impfdrängler" werden an den medialen Pranger gestellt und müssen zukünftig vielleicht auch noch mit Bußgeldern rechnen. Und jene, die die Chance auf Immunisierung mit einem hochwirksamen und verträglichen Impfstoff haben, finden den irgendwie nicht gut genug. Und weil sie sich so verhalten, ändern wir die Priorisierung – Lehrer und Erzieher werden früher geimpft - wohl auch in der Hoffnung, den Streit um die Öffnung von Kindergärten und Schulen beruhigen zu können. Irgendwie auch rätselhaft.

Übrigens: Im Klinikum Fulda haben wir in der vergangenen Woche mehr als 350 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit AstraZeneca geimpft. Die Nebenwirkungen – im wesentlichen Symptome wie bei einer Grippe – waren stärker ausgeprägt als beim Impfstoff von Biontech, hielten sich aber in Grenzen. Und die Impfbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war überwältigend – so groß, dass unser internes Online-Buchungssystem schon wenige Minuten nach der Freischaltung in die Knie gegangen ist. Mittlerweile läuft alles soweit stabil. Sobald wir weitere Impfstoff-Lieferungen erhalten, werden wir neue Termine anbieten.

Und wenn wir schon über die Priorisierung streiten, warum stellen wir sie nicht ganz und gar in Frage - wie es heute Morgen die Ministerpräsidenten von Bayern und Baden-Württemberg, Söder und Kretschmann bereits getan haben? Astra-Zeneca für alle, die ihn haben wollen, sofort.

Ja, die alten Menschen sind statistisch betrachtet am meisten gefährdet, als Folge einer Infektion zu sterben. Männer mehr als Frauen. Ebenso die Menschen mit geringem Bildungsabschluss, wie das Robert Koch-Institut jüngst publiziert hat. Ostdeutsche und Saarländer trifft das Virus tödlicher als Rheinland-Pfälzer oder Baden-Württemberger. Sollten wir diese soziodemographischen und regionalen Risikoprofile in die Betrachtung einbeziehen? Wir könnten sie noch um andere Kriterien erweitern, wie zum Beispiel Diabetes.

Im Durchschnitt verliert ein Mensch, der an Covid-19 stirbt, 9,7 Lebensjahre. Auch hier gibt es wieder weitere Differenzierungen. Wer muss mobil sein, muss unter Leute, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Wer trägt als Unternehmer Verantwortung dafür, dass andere Menschen Arbeit haben? Und wer kann sich besser zurückziehen und vor Kontakten schützen? Und wie ist der lebensalterstypische Bedarf an Mobilität und Agilität gerecht einzupreisen in die Priorisierung? Kinder und Jugendliche sind auf Leben programmiert! Was nehmen wir ihnen, wenn wir sie vom Leben wegsperren?

Es ist doch ganz einfach: Jede Impfung hilft!

Jede Impfung schützt mindestens ein Leben – nicht nur vor einer tödlichen Erkrankung, sondern vor einer Erkrankung generell. Vor einer Erkrankung, die einen ungewissen Verlauf nehmen und ungeahnte Folgeschäden auslösen kann. Und jede Impfung verhindert oder mindert die Weitergabe des Virus an andere. Diese Erkenntnis setzt sich zunehmend durch, denn die Daten, die zeigen, dass Geimpfte andere nicht mehr anstecken, verdichten sich.

Rechtfertigen müssten sich nicht die vermeintlichen "Impfdrängler", sondern jene, die ihre eigene Vakzinierung ohne Grund verweigern. Diese handeln unsolidarisch. Sie meiden eine Immunisierung, die sie selbst für sich zu gefährlich halten, und setzen darauf, dass andere für sie in die immunisierende Bresche springen.

Wer soll also wann geimpft werden? Diese Frage kategorisch an die Corona-Impfverordnung zu delegieren, bringt uns nicht weiter. Aber solange nicht genug Impfstoff für alle und sofort da ist, bleibt sie dennoch relevant.

Denn unbestritten ist: Je mehr Menschen wir umso schneller impfen, desto größer ist der Nutzen für uns alle als Gesellschaft. Darum sollten wir zwar weiterhin nach Alters- und Gefährdungsstufen impfen. Aber auch ab sofort alle die, die geimpft werden wollen, wenn es überschüssigen Impfstoff gibt. Allein in der vorigen Woche hätten 1,2 Millionen Menschen schon ihre erste Dosis von AstraZeneca bekommen können! Weitere 650.000 Dosen werden in der kommenden erwartet. Raus damit in die Gesellschaft.
Und geben wir dann denen, die geimpft sind, alsbald ihre Freiheit zurück. Freiheit ist ein Grundrecht. Sie einzuschränken, braucht es gute Gründe und nicht umgekehrt.

Die Sehnsucht nach einer Perspektive auf ein normales Leben, nach der die Menschen verlangen, ist verständlich. Geben wir die Aussicht darauf frei! Verhindern wir gemeinsam eine Dritte Welle – mit Disziplin und Beharrlichkeit. Und mit mehr Impfungen für alle. (Thomas P. Menzel)+++

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