Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

Zur aktuellen Corona-Lage: Deutschland feiert sich (ein wenig)

Solange die Zahl der Neuinfektionen auf dem aktuellen Niveau bleibt, wird die schrittweise Rückkehr zu einem fast normalen OP-Betrieb möglich sein.
Fotos: Hendrik Urbin

03.05.2020 / REGION - "Deutschland hat die Zeit zum Aus- und Aufbau weiterer intensivmedizinischer Kapazitäten wie wenige andere nutzen können", sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 1. Mai. Er fügt hinzu: "Durch die frühzeitige Aufforderung an die Kliniken, medizinisch nicht zwingend notwendige Aufnahmen und Operationen zu verschieben war es gelungen, bis zu 50 % der Intensivbetten freizuhalten."



Nicht nur das vorausschauende Vorgehen in den Krankenhäusern findet Anerkennung. Unser Umgang mit der Pandemie insgesamt gilt weltweit als vorbildlich. Auch im Land selbst sind die Zustimmungsraten hoch. Die meisten von uns vertrauen der Bundesregierung und den Landesregierungen - noch.

An den Rändern des politischen Spektrums wird zwar schon länger gepoltert. Doch mit der Zeit fällt es auch in der Mitte der Gesellschaft zunehmend schwer, sich einen langen Fortgang der Einschränkungen vorzustellen.

Ob die Vertreter der Industrie oder der Eltern von Kita-Kindern: Alle fordern sie einen verlässlichen Stufenplan für die Rückkehr zur Normalität. Dafür gibt es gute Gründe. Denn mit dem Herunterfahren der wirtschaftlichen Aktivität gefährden wir letztlich die Lebensgrundlagen unserer Gesellschaft – wirtschaftlich, politisch und sozial.

Und schließlich sei die Zahl der täglich Neuinfizierten doch rückläufig, stünden die Betten in den Krankenhäusern leer, seien die Pflegeheime so gut geschützt, dass jetzt auch Besuche wieder möglich sein sollten.

Dass das eine Art Zirkelschluss ist, fällt scheinbar nicht auf. Die Zahlen sind so gut, gerade weil wir die Maßnahmen veranlasst und gemeinsam gut umgesetzt haben. Lassen wir es jetzt wieder laufen, werden wir spätestens in vier bis sechs Wochen volle Intensivstationen haben.

Denn: die Pandemie wird unbeeindruckt von linken und rechten Demonstrationen sowie den Hilferufen aus Industrie und Kitas ihren Weg bis ans Ende gehen. Und dieses wird erst erreicht sein, wenn 60 bis 70 Prozent der Menschheit durch Infektion oder Impfung immunisiert sein werden, oder wenn wir über ein nebenwirkungsarmes Medikament verfügen, mit dessen Gabe wir die schweren Verläufe wirksam verhindern. 

Bergamo, Madrid, New York: Vor solchen Verhältnissen sind wir verschont geblieben, weil wir früh – vom 9. März an – Großveranstaltungen verboten haben, weil weitere Restriktionen gefolgt sind und weil wir uns beinahe alle an die neuen Regeln gehalten haben. Schon aus Selbstschutz. Nur weil wir dadurch die Übertragung des Virus sehr effektiv verhindert haben, sind die Krankenhäuser nicht überfordert worden.

Aber klar: So kann es nicht ewig weitergehen.

Unsere Aufgabe ist es nun, eine verantwortbare Rückkehr zu wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Aktivität in "neuer Normalität" zuzulassen und zugleich die Ausbreitung der Infektion weiterhin auszubremsen: Eine zweite Welle der Ansteckung muss verhindert werden.

Wie wir diese beiden sich eigentlich widersprechenden Ziele erreichen, wird in den nächsten Wochen das beherrschende Thema sein.

Uns in den Krankenhäusern stellt sich eine ähnlich komplexe Aufgabe wie der Politik: Wie kehren wir endlich wieder zu einem geordneten Betrieb zurück, mit dem wir möglichst allen Patienten gerecht werden können, indem wir ihnen die erforderliche Diagnostik und Therapie angedeihen lassen, ohne dabei die Bedrohung durch die Pandemie zu vergessen, die jederzeit wieder aufflammen kann?

Momentan finden sich ca. 150.000 freie Betten und 10.000 freie Intensivplätze in deutschen Krankenhäusern. "Die derzeitige Situation in den Krankenhäusern erlaubt eine vorsichtige, schrittweise Wiederaufnahme der Regelversorgung", so der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Dr. Gerald Gaß. "Die Krankenhäuser haben in den vergangenen Wochen sehr eindrucksvoll bewiesen, dass sie in kürzester Zeit in der Lage waren, sehr verantwortungsbewusst auf die Corona-bedingten Anforderungen zu reagieren."

Bei uns im Klinikum bereiten wir uns seit längerem auf die Rückkehr zur neuen Normalität vor. Dazu werden obligate Abstrichuntersuchungen bei allen Patientinnen und Patienten, die zur stationären Behandlung zu uns kommen, ebenso gehören, wie eine weiterhin durchgängig reduzierte Belegung der Stationen. Aber die Anzahl der planbaren Operationen werden wir schrittweise erhöhen. Akute Fälle behandeln wir ohnehin.

Zum entscheidenden Faktor führt die Frage, ob der Patient nach der planbaren, der elektiven, Operation erfahrungsgemäß auf der Intensivstation behandelt werden muss und wenn ja, wie lange. Dort, auf der Intensivstation, werden wir durchgängig Betten frei halten für COVID-Patienten. Wir wollen also genügend, aber nicht zu viele Betten für mögliche künftige COVID-Patienten frei halten, damit wir wieder mehr Betten für Patienten nach elektiven Eingriffen zur Verfügung haben werden.

Um das Verhältnis an Bettenkapazität für Patienten nach elektiven Operationen einerseits und erwarteten COVID-Patienten andererseits bestmöglich auszutarieren, werden wir sehr genau beobachten, wie viele Neuinfektionen an jedem Tag bestätigt werden. Allerdings werden nicht alle Infektionen und damit alle Infizierten bekannt. In jedem Fall vergehen etwa zehn bis zwölf Tage, bis eine Infektion bei einem Teil der Patienten dazu führt, dass diese ins Krankenhaus müssen. Auch wenn das alles sehr präzise klingt, die Unsicherheit bleibt. Sich das bewusst zu machen, ist sehr wichtig.

Solange die Zahl der Neuinfektionen auf dem aktuellen Niveau bleibt, wird die schrittweise Rückkehr zu einem fast normalen OP-Betrieb möglich sein. Alle Patientinnen und Patienten werden zukünftig rechtzeitig vor dem Operationstermin ambulant ins Klinikum kommen. Dann wird ein Abstrich genommen, um eine mögliche Infektion mit COVID-19 festzustellen. Bis das Ergebnis vorliegt - in der Regel nach 48 Stunden - ist eine strikte häusliche Quarantäne einzuhalten. Patienten, die keine dringliche Operation brauchen, werden nur dann aufgenommen, wenn kein Virus nachweisbar ist. Notfälle werden selbstverständlich auch mit positivem Nachweis behandelt, dann aber abgeschirmt von den anderen Patienten.

Patientinnen und Patienten, die über die Zentrale Notaufnahme ins Klinikum kommen, werden dort abgestrichen. Je nachdem, wie schwer krank sie dort eintreffen, wird entweder ein Schnelltest durchgeführt, der schon nach zwei Stunden ein Ergebnis zeigt, oder sie werden über die nächsten 48 bis zur Vorlage des Testergebnisses von den anderen Patienten getrennt. Gerne würden wir den Schnelltest bei allen Patienten durchführen, um rasch Klarheit über den COVID-Status zu erhalten. Als eins von wenigen Kliniken in Deutschland verfügen wir seit kurzem über diesen Test. Leider steht der aber nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung, so dass wir ihn nur dann einsetzen, wenn er unverzichtbar ist, um sowohl dem Patienten zu helfen, als auch unser Personal zu schützen, da bei Notfällen häufig viele Ärzte und Pflegekräfte sehr engen Kontakt mit dem Patienten haben.

Die nächsten Monate werden uns vor viele organisatorische Herausforderungen stellen und die Abläufe im Haus insgesamt verlangsamen.

Gerne würden auch wir lieber heute als morgen zur Normalität zurückkehren, am besten abgesichert durch eindeutige Ergebnisse wissenschaftlicher Studien. Doch solche Studien lassen sich aber nicht mal eben so über Nacht erstellen. Die Ungewissheit wird zur Zumutung.

Aber Gewissheit können wir nicht herbeizwingen. Das liegt in der Natur der Sache. Nehmen wir die Wirklichkeit zur Kenntnis. Und feiern wir uns ein wenig, für die Verhinderung des medizinischen Ausnahmezustands. (Thomas P. Menzel) +++

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