O|N-Serie über Jüdische Feiertage (3)

Schawuot – das Fest der Tora

Zu Schawuot wird die Synagoge mit bunten Blumen geschmückt. Bella Gusman prüft den schönen Rotdorn-Strauß vor dem Tora-Schrein.
Alle Fotos: Martin Engel

28.05.2023 / FULDA - Das Wochenfest Schawuot, das am 26./27. Mai gefeiert wurde, hat mehrere Dimensionen – religiös, landwirtschaftlich und kulinarisch. Am wichtigsten ist die religiöse, an Schawuot feiern Juden weltweit, dass sie die Tora erhalten haben. Aber die Tora hat man nicht und damit ist alles gut, man bekommt sie jedes Jahr aufs Neue. Und das bedeutet, sich ihr jedes Jahr aufs Neue würdig zu erweisen und so den am Berg Sinai geschmiedeten Bund zu bestätigen.


Die Wüste als heiliger Ort

Schawuot findet genau sieben Wochen nach Pessach statt. Die beiden Feiertage stehen in einem tiefen, inneren Zusammenhang: Pessach feiert die physische Befreiung der Juden aus ägyptischer Sklaverei, Schawuot ihre geistige Befreiung durch den Bund mit Gott und die Übergabe der Tora. Die sieben Wochen vor Schawuot in der Wüste kann man als Lernzeit auffassen, in der die Israeliten sich auf den Empfang der Tora vorbereiteten.

Die Wüste ist eine immense Herausforderung. Für Juden wie Christen ist sie positiv besetzt, ist sie doch ein Ort, der wegen seiner Kargheit zur Besinnung auf sich selbst zwingt und so Persönlichkeit und Charakter formt. Der israelische Schriftsteller Chaim Noll sagte einmal, für Christen sei die Wüste ein Ort der Inspiration, für Juden ein heiliger Ort. Heilig deshalb, weil Gott sich dort seinem Volk offenbart und ihm die Tora übergeben hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte das jüdische Volk noch kein eigenes Land – es akzeptierte die Tora also, bevor es Israel erreichte. Doron Rubin schreibt in der Jüdischen Allgemeine 05/23, dass dies der Grund dafür sei, warum es den Juden jahrhundertelang gelang, ohne eigenen Staat zu überleben – denn die Gesetze der Tora galten von Anfang an und unabhängig von einem Land.

Von Gott und den Menschen

"Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis machen…", heißt es im zweiten Gebot (Zählung nach jüdischer Tradition, im Christentum ist dies das erste Gebot). In einer Zeit wie der unseren, in der wir durch wahre Bilderfluten schier erschlagen werden, wirkt dieses Gebot besonders streng und geradezu archaisch, und hat doch einen tiefen Sinn. Gott ist immer größer als jedes Bild, in dem man ihn festhalten oder festlegen könnte. Deshalb wird er durch das Wort vermittelt. Es verwundert nicht, dass das spirituellste aller Evangelien, das Johannesevangelium, genau diesen Gedanken gleich im ersten Vers aufgreift: "Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort." Das Göttliche im Wort ist eine intellektuelle und spirituelle Herausforderung, denn das Wort ist abstrakter als ein Bildnis, Symbol oder Bauwerk.

Mein Gespräch mit meinem Tischnachbarn Ingo Rothkegel hallt lange in mir nach. "Für uns geht es immer darum, das Leben zu feiern", sagt er mir. Wir unterhalten uns über den Begriff "von Ewigkeit zu Ewigkeit" und darüber, dass es mehr als eine Zeit gibt, jeder Mensch aber nur in seiner Zeit lebt und damit Teil von etwas ist. Die Verbindung mit anderen Zeiten und den Menschen, die darin gelebt haben, gelingt über Traditionen und den Glauben. Gott aber ist "von Ewigkeit zu Ewigkeit", immerwährend. Tradition meint, etwas wieder zu tun und wieder so zu erleben, als wäre es neu – so wie man jedes Jahr aufs Neue an Schawuot den Empfang der Tora feiert. "Wir sagen nicht, wir haben die Tora bekommen, wir sagen, wir bekommen die Tora" – so hatte es Roman Melamed schon während der Feier erklärt.

Deshalb haben die Zehn Gebote im Judentum auch eine etwas andere Bedeutung als im Christentum, wo sie eher Anweisungen sind. Das Judentum aber geht davon aus, dass der Mensch aus Liebe zu Gott nach seinen Geboten leben will. Im Judentum ist die Haltung des Menschen zu Gott genauso wichtig wie die Haltung zu den Mitmenschen.

In unserem Gespräch kommen wir auch auf das dritte Gebot zu sprechen (Zählung wieder nach der jüdischen Tradition, in der christlichen ist es das zweite): "Du sollst den Namen des Herrn, Deines Gottes, nicht missbrauchen". Viele deutsche Redewendungen führen den Namen Gottes – von ‚Gottseidank‘, ‚Grüß Gott‘, ‚das ist göttlich!" und ‚Vergelt’s Gott‘ bis zu ‚Um Gottes Willen!‘ und ‚Oh mein Gott!‘ Noch gibt es viele Redensarten mit Gott, und mit dem Wort Gott flucht es sich auch besonders schön. "Vieles davon verstößt eigentlich gegen das dritte Gebot", meint Ingo Rothkegel. Das ist wohl so, allerdings dürfte es wenigen Menschen bewusst sein. Sprachlich ist Gott auf dem Rückzug – in dem Maße, wie er aus dem Alltag vieler Menschen verschwindet.

Das Fest der Ernte

Am zweiten Tag von Schawuot wird traditionell das Buch Rut gelesen, denn seine Themen passen besonders gut zu diesem Feiertag. Das Buch handelt von einer starken und selbstbewussten Frau aus Moabit, die nach dem Tod ihres Mannes ihrer israelitischen Schwiegermutter Naomi mit den Worten folgt: "Wohin du gehst, werde ich gehen, wo du bleibst, werde ich bleiben, dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott." Niemand zwingt sie zu dieser Entscheidung, sie trifft sie aus freien Stücken.

Die Verbindung zwischen Schawuot und Ruth ist eng. Die Geschichte Ruts spielt um die Zeit der Getreideernte – und Schawuot ist ja auch das Erntefest. Deshalb wird die Synagoge mit frischen Blumen festlich dekoriert, in der Fuldaer Jüdischen Gemeinde haben das vor allem die Kinder mit ihrem Lehrer Beni Polak gemacht. So wie Ruth freiwillig zum jüdischen Glauben konvertiert, konvertiert das gesamte israelitische Volk zum Judentum in dem Moment, als es die Tora als sein Gesetz empfängt. Und last but not least: Ruts Nachfahr David wird an Schawuot geboren, und stirbt auch an Schawuot.

Die Feier beginnt mit dem Entzünden der Sabbat-Kerzen, das übernimmt wie immer Bella Gusman und spricht dazu den Segensspruch: Gesegnet seist Du, Gott, unser Gott, König des Universums, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns befohlen hat, das heilige Schabbat-Licht anzuzünden ("Baruch ata Adonai…"). Es folgt das Hallel-Dankgebet. Danach liest Roman Melamed die Zehn Gebote vor und erklärt sie uns. Mit dem Mincha Nachmittagsgebet und dem Alejnu-Gebet endet die Feier – und alle versammeln sich zum Schawuot-Mahl.

Kein jüdisches Fest ohne Speisevorschriften! Gegessen wird an Schawuot vor allem Milchiges – Käsekuchen, Blintze (kleine Pfannekuchen), Eis und Honig. Warum es Milchiges ist, dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. "Ich mag die Erklärung nicht, dass die Juden bei der Übergabe der Tora einfach noch nicht wussten, wie man Speisen koscher zubereitet und sich deshalb an Milchiges, Obst und Gemüse hielten", so Roman Melamed. Ihn überzeuge eine aus der Kabbala stammende Erklärung mehr. Das hebräische Wort für Milch ("Chalaw") habe einen Zahlenwert von vierzig und erinnere so die vierzig Tage und Nächte, die Moses auf dem Berg Sinai verbrachte.

Während wir noch den Käsekuchen essen, stimmt Sängerin Jana Tegel das Milch-Lied "Erez Sawat Chalaw" an, das aus einer einzigen Zeile besteht: "Das Land, in dem Milch und Honig fließt" – alle singen und klatschen mit, es herrscht ansteckende Fröhlichkeit. Fröhlich, beschwingt und in jeder Hinsicht gestärkt gehen die Gemeindemitglieder nach Hause. Sie feiern die Tora, die nicht nur eine Religion begründet hat, sondern auch identitätsstiftend ist für Juden in aller Welt. Schawuot Sameach!

Nachbemerkung: Alle Fotos zu Schawuot entstanden vor Beginn des Feiertags, denn an diesem wie am Sabbat darf man nicht fotografieren, wenn man das Sabbat-Gebot respektiert. (Jutta Hamberger) +++

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