"Mögest Du ein süßes Jahr haben!"

Rosch Haschana – das Jüdische Neujahrsfest

Neujahrswunsch der Wiener Werkstätte
© Wikipedia /Anton Pospischil + Salomon Kohn

06.10.2024 / FULDA - In den Tagen vor dem jüdischen Neujahrsfest ertönten in Israel landesweit wieder einmal die Sirenen – der Iran hatte den Abend vor Erew Rosch Haschana für seinen zweiten Raketenangriff auf das Land gewählt. Sicher eine Reaktion auf explodierende Pager und getötete Hisbollah-Chefs, und ganz gewiss nicht von ungefähr zu Beginn eines Monats, in dem viele hohe jüdische Feiertage begangen werden (es folgen noch Jom Kippur und Sukkot). Ich feiere heute Erew Rosch Haschana mit – den Vorabend des Neujahrstages.



Am Kopf des Jahres

"Mir graut vor unseren Feiertagen", hatte meine Freundin Gaby mir schon in der letzten Woche geschrieben. Das Trauma des 07. Oktober sitzt tief, die Befürchtungen, dass genau dann wieder mit besonders heftigen Angriffen zu rechnen ist, sind groß. Trotzdem macht sie das, was so gut wie alle in Israel machen: Sich den Vorbereitungen widmen, sich die Feiertagsfreude nicht nehmen lassen. Gelassenheit, Stolz und Wachsamkeit – es ist eine berührende und zugleich beeindruckende Haltung.

Mit Rosch Haschana am 01./02. Tischri 5785 nach dem jüdischen Kalender, (dem 03./ 04. Oktober 2024 nach unserem gregorianischen Kalender) beginnt das neue Jahr. Der Name des Fests bedeutet "Kopf des Jahres". Rosch Haschana ist der Tag, an dem Gott Adam und Eva geschaffen hat – damit ist es auch der Geburtstag der ganzen Menschheit. Deshalb wird an diesem Fest die besondere Verbundenheit zwischen Gott und den Menschen hervorgehoben. "Wenn der Anfang gut ist, dann wird auch der Rest entsprechend sein", so erklärt es Militärrabbiner Elischa Portnoy, der die Jüdische Gemeinde in Halle betreut.

Auch der christliche Neujahrstag ist ein Tag, an dem viele Menschen gute Vorsätze fassen, Dinge ändern und verbessern wollen. Allerdings bereiten die meisten sich auf diesen Tag nicht sonderlich vor, und in aller Regel sind Neujahrsvorsätze schon bald wieder vergessen. Die Vorbereitung auf Rosch Haschana ist nachhaltiger, sie dauert den ganzen Monat Elul (September). Etwas positiv verändern, über sich selbst nachdenken, die spirituelle Komponente ist an Rosch Haschana viel deutlicher als bei unserem Neujahrstag. Das zentrale Wort ist "teschuwa" (= Reue, Umkehr). Darin steckt das hebräische Wort "schuw" (= zurückkehren, umkehren). Damit ist nicht gemeint, dass man zu seinem alten Leben – nur ohne die Sünden – zurückkehrt, sondern dass man zu Gott zurückkehrt. Es gibt dafür keine ‚Anleitung‘, jeder Mensch ist aufgerufen, seinen Weg zu Gott zurückzufinden. Das Neujahrsfest bietet so jedem die Chance, das neue Jahr unbelastet zu beginnen. Zeit dafür hat man bis Jom Kippur. Rosch Haschana gemahnt uns, in uns zu gehen und uns grundsätzlich vom Guten und Göttlichen leiten zu lassen. Rosch Haschana sagt uns auch, dass unser Schicksal nicht in Stein gemeißelt ist – wir haben es in der Hand, unser Leben durch Worte und Taten positiv zu verändern. Eben durch "teschuwa", dann durch "zedaka" (= Gerechtigkeit") und "tefilla" (= Gebet).

Wir wollen Deinen Namen in der Welt heiligen

Die Synagoge ist rappelvoll. Wir beten aus dem Siddur "Tefilat Amcha" - dem Gebetbuch zum Feiertag Rosch Haschana - und der Gottesdienst beginnt mit dem Anzünden der Feiertagskerzen. Dann beten wir das "Ma’ariw" (= Abendgebet), dessen Hauptteile das "Schma Israel" und die "Amida" sind. Die "Amida" ist das Kernstück jedes Gottesdienstes, deshalb wird es immer im Stehen gesprochen.

Wie bedeutend dieses Gebet für Juden in aller Welt ist, verdeutlicht dieses Zitat aus haGalil.com: "Wenn man es mit all der Hingabe und Inbrunst liest, die in ihr ist und aus ihr zum Himmel aufsteigt, zuversichtlich aufblickt und aus der Not aufruft, und wenn man sich ungefähr noch alle kleine private und große allgemeine Qual und Hoffnung vorstellt, welche jahrhundertelang die Juden einer schweren, mühseligen Welt in diese Worte morgens und abends, Jahr um Jahr, hineingebetet haben, dann hat man vielleicht einen Schimmer davon, wie sehr gerade dieses das Judengebet ist – mit dem ganzen Judenleben darin, von der "Hölle" durch die Welt zum Himmel." Nach diesem Gebet wird der Tora-Schrein geöffnet – die Gemeinde sieht die Tora-Rollen – dann wünschen sich alle "schana towa" (= gutes neues Jahr).

Der Ruf des Shofar

Ein Instrument spielt an Rosch Haschana eine besonders wichtige Rolle, der Shofar. Es ist eine meist aus einem Widderhorn gefertigte Posaune und dient rituellen Zwecken. Ein Shofar ist laut – genau wie auch die Posaunen, die Sie aus Konzerten kennen – und das muss so sein. Denn der Shofar ist die hörbare Erinnerung an die moralischen Pflichten, die ich als Mensch habe. Es erklingt täglich in den 30 Tagen vor Rosch Haschana. An Rosch Haschana selbst erklingt es nach der Lesung aus der Tora, und mehrfach bei den Gebeten dieses Fests. An Erew Rosch Haschana hingegen erklingt der Shofar nicht, denn er wird nur bei Tag und nicht nach Sonnenuntergang geblasen.

Simanim – die symbolischen Speisen

An Rosch Haschana dreht sich beim Essen alles um Süßes – das ist auch als Wunsch für das neue Jahr gedacht, das Süße, Segen und Fülle bringen soll. Viele besondere Speisen kommen an diesem Tag auf den Tisch, sie heißen "Simanim" (= Zeichen, Symbole). Es sind alles Lebensmittel, zu denen man positive Assoziationen hat. Natürlich gehört immer ein Challa-Brot auf den Tisch, an diesem Abend ist es rund, um den Jahreszyklus zu symbolisieren, und mit Rosinen gefüllt. Man taucht es in Honig. Man isst Datteln und bittet darum, "keine Hasser und Feinde zu haben". Man isst Granatapfelkerne, weil "unsere Verdienste so zahlreich sein sollen, wie Kerne im Granatapfel sind". Man taucht Apfelstücke in Honig und bittet um "ein neues, gutes und süßes Jahr". Beim Fischkopf bittet man darum, "dass wir im Jahr vorne und nicht die die letzten sein werden", und beim Fischessen bittet man, dass "wir uns vermehren und so zahlreich werden wie die Fische".

Es ist – trotz der bedrückenden Lage in Israel und im Nahen Osten, die auch in der Fuldaer Gemeinde immer wieder Thema ist – ein fröhliches Fest. Es wird viel gesungen, und beim "Hawa Nagila" tanzen die Frauen ausgelassen durch den Raum. Zum Abschied bekommt jeder einen Apfel und ein Glas Honig mit, man wünscht sich "Leschana towa tikatev wetichatem" (= Mögest Du für ein gutes Jahr eingeschrieben und besiegelt sein).

Festtagsfreude im Raketenhagel?

Immer wieder gehen meine Gedanken an diesem Abend nach Bet Shemesh zu meiner Freundin Gaby. In diesen Tagen stehen wir mal wieder im Dauerkontakt. Am Montagnachmittag schrieb sie sie mir: "Here we go, wir sitzen im Bunker. Hier ist ordentlich was los. Wir haben ‚Gäste‘, ein gestrandetes älteres Ehepaar, das einen Schutzraum suchte. Ich habe ihr Klopfen gehört." Eine lakonische Mitteilung, bei der mich aber nach wie vor ein Schauer überläuft. Zeitgleich kommt die Nachricht vom Attentat auf Zivilisten in Tel Aviv, bei dem sechs Menschen sterben (und die beiden Terroristen). Gaby erzählt, dass der See Genezareth wegen der vielen Huthi-Angriffe inzwischen zu einer Raketenmüllhalde verkommt und dass im Kriegsgetöse die Wahl der Oberrabbiner ganz untergeht. Wir sprechen über ihre kleine Enkeltochter, von der sie mir an jedem Schabbat ein Foto schickt, über unsere Eltern und die Freuden und Sorgen, die wir mit ihnen haben, über die Feiertagsvorbereitungen. Ich will wissen, was bei Goldbergs auf den Tisch kommt, und Gaby antwortet:

"Mittwochabend die Symbole, dann drei Vorspeisensalate (Aubergine, Süßkartoffeln, Zucchini), Humus, Kräuterbutter zum Challa-Brot, dann hausgemachte Ravioli mit Käsefüllung. Donnerstag mittags: Fleischiges und Gemüsesalat, am Abend Süßkartoffelsuppe, Reis und Lachs-Mango-Avocado-Salat. Am Freitag mittags Injera (äthiopische Sauerteigfladen mit Linsen-, Tofu- und Gemüsefüllung), am Abend Vorspeisensalate, Kräuterbutter und St. Peter-Fisch auf marokkanische Art (mit Tomate, Kichererbsen, roten Paprika und viel Koriander. Das lässt sich gut vorbereiten und von Mittwoch bis Freitag kühlen). Und am Samstag gibt es mittags Gemüsesalat und Quiche (hält im Kühlschrank auch bis Samstag). Dazu kommen noch zehn Portionen Ofenkartoffeln und Hühnerschnitzel für eine Reserveeinheit, aber das macht sich fast von selbst."

Ich weiß, dass sie gern kocht, dennoch bin mehr als beeindruckt, weil mir klar ist, dass sich das nicht mal eben und von allein kocht, auch wenn die ganze Familie eingebunden wird. Trotz aller Anspannung und Sorge, die ich über die vielen Kilometer hinweg spüre und deren größte ist, ob die beiden Söhne wieder eingezogen werden – merke ich, dass sie, dass die ganze Familie sich auf die Festtage freut und entschlossen ist, sich diese Freude nicht nehmen zu lassen. Von Herzen wünsche ich ihr und Ihnen "Schana Towa" (= Ein gutes neues Jahr) und "L’Chaim" (= Auf das Leben) – möge das neue Jahr für uns alle gut und süß werden! (Jutta Hamberger) ++

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