O|N-Serie über Jüdische Feiertage
Pessach - das Fest der wiedergewonnenen Freiheit
Fotos. Martin Engel
23.04.2024 / FULDA -
Kaum eine Religion verbindet mit ihren Feiern so viel Erinnern an die eigene Geschichte wie die Jüdische. Jüdische Feiertage sind so etwas wie lebendige Geschichtsbücher, und damit immer auch ein Akt der Selbstvergewisserung. Das achttägige Pessach ist das Fest der Freiheit – denn es besingt den Auszug der Juden aus Ägypten. So habe ich vor einem Jahr meinen Text über das Pessach-Fest eingeleitet – und für dieses Jahr ergänzt und überarbeitet. Diese O|N-Serie will Sie mit dem Judentum vertrauter machen – und mit den jüdischen Menschen, die hier in Fulda leben.
Etwas mehr als sechs Monate sind seit dem grauenvollen Hamas-Anschlag auf Israel vergangen. In ganz Israel demonstrieren Menschen für die Freilassung der Geiseln. Überall sieht man die Bilder der Entführten, besonders herzzerreißend ist das Foto von Baby Kfir auf einem leeren Stuhl. Seinen ersten Geburtstag hat der kleine Junge irgendwo in einem Hamas-Tunnel begangen. Niemand weiß, ob er überhaupt noch am Leben ist – gleiches gilt für alle Geiseln. "Die Stimmung vor Pessach in diesem Jahr ist völlig anders als in den Jahren vorher", schreibt mir meine Freundin Gaby Goldberg. "In diesem Jahr wird mindestens die halbe Nation beim "Ma nischtana" (= Was ist verändert) in Tränen ausbrechen. Es kommt einfach zu viel zusammen – der Krieg, die Geiseln in Gaza, das Geschacher und Gezerre um ihre Befreiung. Nach einem halben Jahr weiß die Hamas nicht, wie viele noch leben und wo sie versteckt sind? Echt jetzt?! Es gibt keine, aber wirklich keine aufmunternde Perspektive, weder innen- noch außenpolitisch, nur Bedrohung von allen Seiten." Der iranische Angriff auf Israel am 13. April war ein weiteres beispielloses und tief verstörendes Ereignis.
Das hebräische Wort Pessach bedeutet vorbeiziehen, verschonen. Es erinnert daran, dass Gott die Erstgeborenen der Ägypter töten ließ, die Israeliten aber verschonte. ‚Vorbeiziehen‘ lassen kann man in diesen Tagen viel Schmerz und Leid, Wut und Unversöhnlichkeit. Auch daran erinnern wir uns an diesem Fest. Mit Pessach beginnt die Befreiung der Israeliten aus Gefangenschaft und die 40-jährige Wanderung durch die Wüste. Sie endet mit dem Empfang der Thora am Berg Sinai – aus den Israeliten wird das Volk Israel. Darauf gründet sich die Identität jüdischer Familien jedes Jahr aufs Neue.
Pessach beginnt mit dem Seder-Abend. In diesem Jahr ist Seder am 22./23. April. Außerhalb Israels sind Juden in der Diaspora – deshalb werden die hohen Feiertage zweimal gefeiert. An jedem Platz liegt die Pessach-Haggada, die, vergleichbar der Bibel, eines der auflagenstärksten Bücher überhaupt ist. Die Pessach-Haggada ist ein Leitfaden und Lehrbuch für diesen besonderen Abend, gehört zu den Fundamenten jüdischen Lebens und ist aus keinem jüdischen Haushalt wegzudenken.
An Seder haben Kinder eine zentrale Rolle. Den jüngsten kommt es zu, die vier Fragen zu stellen, die mit den Worten "Ma nischtana" beginnen. So sollen sie die Lebendigkeit ihrer Religion spüren. Die Rabbinerin Judith Edelman-Green erklärte es so: "Wenn ich meinen Kindern nur sage, bewahrt die Tradition, das ist eine sehr wichtige Nacht auch für euch, dann bewirkt das gar nichts bei ihnen. Aber wenn wir die Mazza hochheben und zeigen, wenn wir das Glas erheben, dann zelebrieren wir etwas gemeinsam und bewahren es auch gemeinsam."
"Seder" bedeutet so viel wie Ordnung, und genau das strukturiert diesen Abend – nichts bleibt dem Zufall überlassen. "Baruch atta adonai, elohenu melech ha-olam" – der Seder-Abend beginnt mit dem "Kiddusch". Mit diesem Segensspruch werden jüdische Feiertage und jeder Sabbat eingeleitet. Als erste der sechs rituellen Speisen auf dem Seder-Teller isst man "Karpas", rohes Frühlingsgemüse. Das tunkt man in Salzwasser, bevor man es isst. Karpas erinnert an die zermürbende Arbeit, die von den Juden in Ägypten verrichtet werden musste, das salzige Wasser steht für ihre Tränen.
Dann wird das Brot gebrochen. "Mazza" ist ungesäuertes Brot. Und auch das hat symbolischen Charakter. Als die Juden in aller Eile Ägypten verließen, hatten sie keine Zeit, den Brotteig zu säuern. Matze war also eine frühe "To-Go-Speise", ungeheuer praktisch. Wieder gibt es etwas für die Kinder, denn eine Hälfte des Matze-Brots wird als "Afikoman" versteckt und erst später gegessen. Das Kind, das es findet, wird mit einem kleinen Geschenk belohnt.
An Pessach kommt dem Wein eine besondere Bedeutung zu. Jede und jeder muss zu festgelegten Zeitpunkten vier Gläser trinken. Das erste Glas trinkt man zum Segensspruch, das zweite zwischen Vorspeise und Hauptgang, das dritte nach dem Tischgebet, das vierte nach dem Dankgebet. Man darf aber auch roten Traubensaft nehmen. Im zentralen Teil der Feier, dem "Magid", wird die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt. Alle, die mitfeiern, sollen sich fühlen die wie Juden damals. Dabei helfen die Texte und Gebete, aber auch die Speisen. Die Bitterkräuter erinnern an die Bitternis der Sklaverei. Auch die zehn Plagen fehlen nicht: Blut, Frösche, Ungeziefer, wilde Tiere, Pest, Aussatz, Hagel, Heuschrecken, Finsternis, das Erschlagen der Erstgeborenen. Bei jeder Plage, die erwähnt wird, taucht man den Finger in den Wein und lässt einen Tropfen auf den Tisch fallen – den Plagen wird so symbolisch der Garaus gemacht.
Nun wird "Mazza" (Matze) gegessen. Danach gibt es das "Korech" (Matze-Sandwich) mit "Maror" (Bitterkraut) und "Chaseret" (Kraut). Es schmeckt wirklich bitter! Aber dann gibt’s was Süßes: "Charosset" sieht wie Lehm aus und soll an Lehm erinnern, denn aus Lehm mussten die Juden in Ägypten Ziegel herstellen. Es ist die einzige süße Speise auf dem Seder-Teller – eine Mischung aus Früchten, Rosinen, Nüssen und Wein, meist bestreut mit Zimt.
Die letzte Speise des Seder-Tellers ist das Ei. Ein gelehrter Rabbiner wurde einmal gefragt, wieso die Juden denn an Pessach Eier äßen. Er antwortete: "Eier symbolisieren Juden. Umso mehr ein Ei verbrannt oder gekocht wird, desto härter wird es." Natürlich steht das Ei auch für Fruchtbarkeit und das Leben schlechthin.
Haben Sie mitgezählt? Dann haben Sie bemerkt, dass eine Speise auf dem Seder-Teller noch nicht erwähnt wurde, der Knochen ("Sroa"). Er bleibt während des gesamten Sederabends auf dem Teller liegen und symbolisiert das im Tempel geopferte Pessachlamm. Gegessen wird er deshalb nicht, weil es den Tempel nicht mehr gibt. Nach den rituellen Speisen kommt noch ein dreigängiges Festmahl, und auch das "Afikoman" kommt wieder auf den Tisch und wird verspeist.
Mit dem Dankgebet endet der Seder-Abend, wir alle stimmten ein in den Satz, der jede Seder-Feier beendet und in diesem Jahr besonders inbrünstig erklingt: "Leschana haba’ah bi‘ruschalajim" – nächstes Jahr in Jerusalem!"(Jutta Hamberger) +++
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