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Fünf Jahre nach der Horror-Tat

Bundespräsident Steinmeier: "Die Kugeln rissen sie mitten aus dem Leben"

Neun Tote, zahlreiche Verletzte - ein Mann läuft Amok. Der Anschlag eines Rechtsextremisten in der Nacht zum 19. Februar 2020 in Hanau sendete Schockwellen - durch die Stadt, durch Hessen, durch die Republik und schließlich die ganze Welt. Neun Tote, zahlreiche Verletzte - ein Mann läuft Amok. Der Anschlag eines Rechtsextremisten in der Nacht zum 19. Februar 2020 in Hanau sendete Schockwellen - durch die Stadt, durch Hessen, durch die Republik und schließlich die ganze Welt.
Fotos: Carina Jirsch

20.02.2025 / HANAU - Neun Tote, zahlreiche Verletzte - ein Mann läuft Amok. Der Anschlag eines Rechtsextremisten in der Nacht zum 19. Februar 2020 in Hanau sandte Schockwellen - durch die Stadt, durch Hessen, durch die Republik und schließlich die ganze Welt. "Der Täter erschoss sie in Bars, in einem Kiosk, auf offener Straße. Er wusste nichts von seinen Opfern", erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.



Ziel des Täters waren Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov fielen seinem Hass zum Opfer. Sie werden schmerzlich vermisst. Während die Politik zum Blick in die Zukunft aufruft und an die gemeinsame Verantwortung appelliert, erheben die Angehörigen schwere Vorwürfe.

"Fünf Jahre sind vergangen, was nicht vergehen wird, ist die Erinnerung an jene neun junge Menschen, die zum Opfer dieses rassistischen Hassers wurden", wandte sich Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) an die Versammelten. Er sei sich bewusst: "Es gibt keine Worte, die Ihre Trauer zu lindern". Es mache ihn persönlich sehr betroffen, "dass es dem Staat nicht gelungen ist, den Mord an Ihren Liebsten zu verhindern".

"Für manche politischen Kräfte ist Hass zum Geschäftsmodell geworden"

Der Anschlag habe gezeigt, dass Hass eine reale Gefahr ist. Dann wird Rhein deutlich: "Fünf Jahre später müssen wir feststellen - er ist es immer noch. Für manche Kräfte ist er sogar zum Geschäftsmodell geworden. Der Ton wird zunehmend rauer". Der Hass gedeihe schleichend, durch Gleichgültigkeit und Schweigen. "Die große Stärke dieses Landes ist doch gerade: Wir können streiten, ohne uns zu hassen. Gedenken allein reicht nicht aus, wenn wir es nicht mit einer Verantwortung verbinden - mit der Verantwortung, uns gemeinsam für unsere Zukunft einzusetzen. Unsere Aufgabe muss Zusammenhalt sein - heute und in Zukunft", appellierte der Landesvater.

"Der Täter zielte damals nicht auf uns alle, aber seine Tat geht uns alle an. Die rechtsextremistisch motivierten Morde von Hanau waren ein Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Sie waren ein Anschlag auf unsere offene Gesellschaft und unsere liberale Demokratie – genau wie eine Reihe vermutlich islamistisch motivierten Anschläge der vergangenen Monate", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Zahlreiche Vorwürfe gegen Sicherheitsapparat und Stadt

Es müsse die Aufgabe jedes einzelnen sein, "gegen Rassismus und Rechtsextremismus, gegen Islamismus und gegen jede, ich betone, jede andere Form der Menschenfeindlichkeit einzutreten". Angehörige hatten schon im Vorfeld über Jahre schwere Anschuldigungen gegenüber dem Sicherheitsapparat und der städtischen Verwaltung erhoben. So war der Notruf etwa nur eingeschränkt erreichbar und der Notausgang einer Kneipe verriegelt gewesen, wodurch diese zur Todesfalle wurde - das sei der Stadt bekannt gewesen.

Auch auf diese Vorwürfe bezugnehmend sagte das Staatsoberhaupt: "Niemand ist unfehlbar, auch verantwortliche Politiker und Beamte sind es natürlich nicht. Aber sie haben die Pflicht, die Hintergründe einer Tat aufzuklären, Fehler offenzulegen und, wenn nötig, Konsequenzen zu ziehen. Ich bedauere zutiefst, dass einige von Ihnen nach der Tat den Eindruck hatten, dass Sie den Staat erst zur Aufklärung drängen mussten. Und ich bedauere zutiefst, dass Ihr Vertrauen in unseren, in Ihren Staat verloren gegangen ist".

"Seit fünf Jahren bleibt mir jeder Bissen im Hals stecken"

Applaus brandete auf, als die Mutter des ermordeten Sedat, Emis Gürbüz, sichtlich aufgebracht erklärte: "Dieses Ereignis ist ein Schandfleck in der Geschichte der Stadt Hanau und Deutschlands". Seit fünf Jahren bleibe ihr jeder Bissen im Hals stecken. "Mein Kind verbringt die schönsten Jahre seines Lebens unter der Erde. Sedats Träume wurden auf grausame Weise zerstört", so Gürbüz.

Die Stadt Hanau trage die Hauptverantwortung für den Anschlag. "Der Mörder hatte Briefe geschrieben, doch die Stadt Hanau ignorierte sie. Sie wollte sie nicht ernst nehmen". Ebenso habe die Stadt gewusst, dass die Notausgangstür verschlossen war, aber nichts unternommen. "Hätte die Stadt ihre Aufgaben ordnungsgemäß erfüllt, wären diese neun Menschen noch am Leben. Dafür muss sich die Stadt verantworten", fordert sie und schleuderte den anwesenden Verantwortlichen entgegen: "Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung nicht. Ich akzeptiere keine Entschuldigung."

Rassistischer Wahlkampf setzt den Hinterbliebenen zu

Harrsche Worte findet auch Çetin Gültekin. Er ist der Bruder eines Opfers. "Die Brandmauer ist wenige Stunden nach dem Gedenken an Auschwitz zusammengefallen. Es tobt ein rassistischer Wahlkampf, angetrieben von der AfD, doch auch andere Parteien machen dabei mit. Menschen werden wegen ihrer Herkunft unter Generalverdacht gestellt, oder gar zum Sündenbock gemacht. Die schrecklichen Anschläge werden instrumentalisiert."

Dann zitierte Gültekin den Bundespräsidenten. Auf der ersten Gedenkveranstaltung vor mehreren Jahren habe dieser gesagt: "Wo es Fehler gab, muss aufgeklärt werden. Das ist die Bringschuld des Staates gegenüber den Angehörigen". Heute frage er sich: "Wo war und wo ist diese Bringschuld geblieben?". Erneut ist vermehrt Klatschen im Saal zu hören. "Es gab in Hanau keine juristischen oder reellen Konsequenzen. Niemand hat die Verantwortung für die Kette des Versagens übernommen", summierte er.

"Politiker spalten und schüren Hass"

Serpil Temiz Unvar ist die Mutter eines der Opfer. "Leider sehe und höre ich in letzter Zeit immer häufiger, wie Politiker spalten und Hass schüren. Die Politik bringt Extremismus und Radikalismus hervor und das ist eine große Gefahr für Deutschland", sagte sie. Statt der wichtigen Migrationsdebatte gebe es einen Wettstreit, wer schneller abschiebt. "Wenn Rassismus salonfähig wird, gibt es Menschen, die sich dadurch bestätigt fühlen. Dann kommt es zu Anschlägen", ruft Said Etris Hashemi, der selbst bei dem Anschlag verletzt wurde und durch die Kugeln des Radikalen seinen Bruder verloren hat, in Erinnerung.

Die Abschiedsworte sprach Claus Kaminsky, Oberbürgermeister der Stadt Hanau. Diese Rolle hat er seit dem Jahr 2003 inne. Er verwehrte sich der Anschuldigung, die Stadt trage die Verantwortung für die Toten. "Es versteht sich von selbst, dass nicht alles, was sie gesagt haben, sich für uns gerecht anfühlt", sagte er. Dennoch und besonders deswegen danke er den Angehörigen für Ihre offenen Worte.

"Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns mit aller Kraft dafür einsetzen, dass Hass und Intoleranz keinen Boden finden, auf dem sie gedeihen können. Weder in dieser Stadt noch anderswo. Hanau steht für Vielfalt und das ist gut so. Den vielen Hanauerinnen und Hanauern mit Migrationshintergrund will ich von hier aus zurufen: Sie gehören zu uns. Sie sind nicht nur willkommen, Sie sind Bürger unserer Stadt", schloss Kaminsky. (Moritz Bindewald) +++


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