Vorsichtig: Hier gibt es was zu spüren

Wie der "Club der toten Dichter" bei den Festspielen das Publikum mitreißt

John Keating (Francis Fulton-Smith) als Lehrer "John Keating" in "Der Club der toten Dichter".
Fotos: Christopher Göbel

23.07.2023 / BAD HERSFELD - Im Laufe des Ausbildungsweges begegnen einem Schüler vielerlei Lehrpersönlichkeiten. Etwas überzogen gesprochen: Da gibt es die, über die man menschlich wenig bis nichts erfährt, die unnahbar wirken und primär den vorgegebenen Lehrplan abbilden. Es gibt die, die den Mittelweg suchen zwischen Vorgabe und Kreativität und durchaus einmal die Routinen - zugunsten des Lernerfolges - abwandeln. Und dann gibt es die, die uns ein Leben lang prägen, deren Namen wir nie vergessen, deren Stimmen wir noch als Erwachsene im Ohr haben. Idealisten? Vielleicht! Auf jeden Fall Menschen mit einer Vision und Leidenschaft. Ansteckend wie John Keating, zentrale Figur in "Der Club der toten Dichter", der am Freitagabend bei den Bad Hersfelder Festspielen Premiere feierte.



Bereits in der dritten Spielzeit bringen die Bad Hersfelder Festspiele in diesem Jahr Tom Schulmans "Der Club der toten Dichter" auf die historische Ruinenbühne. Nach der Uraufführung im Jahr 2021 hat sich das Werk, das einst als Kinofilm "Dead Poets Society" entstand und für das Urheber Schulman sogar einen Oscar in der Kategorie "Bestes Originaldrehbuch" erhielt, in die Herzen der Zuschauer gespielt. Kein Wunder, handelt es doch von dem, was den Menschen antreibt und zutiefst berührt: Leidenschaft und Begeisterung! Und die werden nie langweilig. 

Als am Freitagabend eine kleine Gruppe Schüler, teils ängstlich, teils abgebrüht, aber allesamt im Einheitslook neben dem Kollegium der amerikanischen Elite-Schule Welton Academy auf die Ruinenbühne einzieht, ist klar, welche Werte hier im Vordergrund stehen. "Tradition, Exzellenz, Ehre und Disziplin" prangen als Schlagwörter auf großen Fahnen und erfüllen binnen weniger Sekunden die Ruine mit einem etwa Gefühl des Unwohlseins - hervorragend transportiert von den Darstellern auf der Bühne. Wir finden uns ein in eine Welt der Konformität und strikten Regeln und es jagt uns den ersten kühlen Schauer über den Rücken. 

Thorsten Nindel sorgt als Mr. Perry für das nötige Unbehagen

Einer, der diese Werte vertritt, ist Mr. Perry, Vater von Schüler Neil Perry (Till Timmermann), gespielt von Thorsten Nindel. In Militäruniform und -haltung und mit schneidend strengem Ton zeigt er gleich zu Beginn des Stückes seinem Spross die Grenzen und Erwartungen, die die Eltern ihm auch in diesem Schuljahr setzen, auf. Raum für eigene Vorhaben ist da keiner: Ziel ist die Aufnahme an einer Eliteuni und das Medizinstudium - natürlich mit Bestnoten, versteht sich. Nindel schafft es in der Verkörperung des Vaters, durchweg für unbehagliche Stille zu sorgen, das Publikum auf seinen Stühlen nahezu genauso zu verunsichern wie seinen Bühnen-Sohn. 

In seinen Reihen ebenfalls: Hannes Hellmann als Robert Nolan, Direktor der Welton Academy. Seines Zeichens früher einmal Lehrer für Literatur gewesen, erzählt er von seiner Liebe zum Fach, die der Figur so wohl niemand glauben mag. Lehrer-Typ eins in grausiger Extremform. Er überzeugt mit Strenge und Regelverbundenheit - und in Nolans Fall sogar mit Blindheit für alles, was nicht in diese Formen passt. Wunderbar gespielt von Hellmann.

Dann gibt es aber auch die, die irgendwo dazwischen zu sein scheinen. Wir erinnern uns, Typ zwei vom Anfang. Der, der die Regeln umsetzt, aber ganz heimlich auch anders kann, ist in "Der Club der toten Dichter" Mathematik-Lehrer Goerge McAllister. Während er einen Großteil der Zeit mit gebellten Befehlen die Schüler in Form und Konformität zwingt, gibt es ein, zwei Momente, in denen wir sehen, dass hinter der Figur doch ein Mensch steckt. Wenn er, beispielsweise während der Nachtruhe, plötzlich ausgelassen über die Bühne tanzt. Peter Englert spielt den Konflikt lebendig und glaubhaft und macht so aus dem zunächst unsympathischen Roboter einen Menschen. 

Der, der sie wieder fühlen lehrt: Francis Fulton-Smith als John Keating

Und schließlich ist da John Keating. Als ehemaliger Absolvent der Welton Academy kehrt er in diesem Schuljahr zurück in die heiligen Hallen. Er ist die neue Lehrkraft für Literatur und soll den Schülern Poesie und Sprache näher bringen. Doch bitte streng nach Lehrplan. Es fehlt noch Lehrer-Typ drei und den verkörpert auf ergreifende und begeisternde Weise Francis Fulton-Smith in der Rolle des Keating. Zu Beginn unsicher und ein bisschen wie ein großer Teddybär über die Bühne oder durch das Klassenzimmer tapsend, wird Keating für seine Schüler zur Inspiration. Zum Captain, ihrem Vorbild und für die Zuschauer des Spektakels zum Licht in diesem düsteren Szenario. Ein Idealist zwischen den Welten, dessen Zwiespalt Fulton-Smith leise, unaufgeregt, aber dennoch gut erkennbar darstellt.

Durch Keating lernen die Schüler - im wahrsten Sinne des Wortes - neue Perspektiven auf Sprache kennen. Es kommt Bewegung in ihre starre Welt. Dieser Kontrast wird in der Inszenierung von Joern Hinkel und Tilman Raabke durch wunderbar dynamische Wechsel zwischen vollständiger, fast unaushaltbarer Stille und lauter körperlicher wie seelischer Ausgelassenheit wunderbar gelöst. Das Publikum ist gespannt, gebannt und dann auch wieder geradezu erleichtert und lebt die Emotionen der Teenager und Lehrer der Welton Academy mit. 

Gastauftritt von Oscar-Preisträger Tom Schulman

In einem besonderen kurzen Gastauftritt in den Reihen des Kollegiums ist Drehbuchautor und Oscarpreisträger Tom Schulman höchstpersönlich zu erwähnen. Er gab am Freitag im Rahmen seines Premierenbesuchs zu Beginn des Stückes den scheidenden Literatur-Lehrer und sorgte damit bei wissenden Besuchern für erfreute Reaktionen. 

Die jungen Männer, die letztlich den namensgebenden "Club der toten Dichter" wieder aufleben lassen, werden glaubhaft gespielt von Stefan Reis als Richard Cameron, Luke Bischof in der Rolle des selbstbewussten Charlie Dalton, Manuel Nero als Kurt Hopkins, Nils Eric Müller als Steven Meeks, Fabian Hanis als Knox Overstreet, Jan Frederik Saure als Gerald Pitts und Klaas Johann Lewerenz als Jonas White. Besonders zu erwähnen sind Nico Kleemann, der dem zunächst schüchternen Todd Anderson eine Unsicherheit gibt, die geradezu herzerwärmend ist und ihn später, gestärkt durch seinen Zimmernachbarn Neil Perry, zu einem jungen Mann werden lässt, dem man am Schluss mit offenem Mund dabei zusieht, wie er für seine Werte einsteht. Außerdem Till Timmermann als junger Neil Perry zwischen der Rolle des Sohnes, des Gewinnertypen und Einserschülers, der den elterlichen Erwartungen gerecht werden muss, und dem Idealisten, den man vor dem inneren Auge schon als zweiten John Keating sieht. Allesamt mitreißend, facettenreich und überzeugend gespielt.  

Bühnenbild (Jens Kilian) und Kostüm (Kerstin Micheel) fügen sich wunderbar harmonisch in die Kulisse der historischen Stiftsruine sowie den Rahmen des Stückes ein. Choreographie und Tanz (Kristin Heil und Charlene Bluhm) sorgen für spannende Kontraste zur steifen Welt der Welton Academy.

Ein Theatererlebnis, das seine Zuschauer fesselt, sie mit auf eine spannende emotionale Reise nimmt und mal wieder daran erinnert, wie es ist, wirklich zu spüren - und zwar mit allen Sinnen. Das Publikum dankte es Darstellern und Produktionsteam am Premierenabend mit minutenlangen Standing Ovations. (Sabrina Ilona Teufel-Hesse) +++

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