Premieren-Kritik

Lears Tragödie als packendes, modernes Drama mit brillanter Besetzung


Fotos: Carina Jirsch

01.07.2023 / BAD HERSFELD - König Lear ist eigentlich ein Monster. Eigentlich... denn mit Charlotte Schwab in der Titelrolle in der Bad Hersfelder Inszenierung des Shakespeare-Klassikers ist Lear eher ein bedauernswerter Tyrann, der langsam verfällt. Monster sind andere - wie sich in der rasanten Inszenierung von Star-Regisseurin Tina Lanik schnell zeigt. Eine Premieren-Kritik.



Den Inhalt dieser ursprünglich sechs Stunden langen und allgemeinhin als am schwierigsten auf die Bühne zu bringenden Shakespeare-Tragödie in wenigen Worten zu erzählen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Blutrünstig, von Hass und Gewalt durchdrungen und von Intrigen bestimmt ist "König Lear" auch in der rund zweieinhalbstündigen Fassung von Regisseurin Tina Lanik und Jens Heuwinkel bei den Bad Hersfelder Festspielen. Und doch ist da die Botschaft, dass den Falschen zu vertrauen, der falsche Weg ist.

Das Gute und das Böse

Es gibt in "König Lear" in Bad Hersfeld eigentlich nur zwei verschiedene Typen: Die Bösen und die Guten - die aber ab und zu ambivalent handeln, indem die Guten Böses und die Bösen Gutes tun. Und dann gibt es den König Lear, meisterlich gespielt von Charlotte Schwab, der eigentlich ein Tyrann ist, aber von seinen älteren Töchtern Goneril und Regan zum Opfer gemacht wird. Schon fast mitleidig schaut das Publikum von Szene zu Szene dem Verfall des Regenten zu, der zwischendurch klare Momente hat. Getrieben von seinen inneren Dämonen, den unisono agierenden und wie im Sprechchor einer griechischen Tragödie auftretenden Närrinnen Beatrix Doderer, Anna Graenzer und Bettina Hauenschild, steht Lear am Ende vor den Trümmern seines einst großen Reiches.

Daneben steht der Graf von Gloucester (Max Herbrechter: großartig und glaubwürdig) mit seinen Söhnen Edgar und Edmund. Edmund - der Böse - ist in Bad Hersfeld der Ober-Intrigant. Agil, aktiv und fast ständig auf der Bühne spielt Phillip Henry Brehl den Schurken par excellence. Den bemitleidenswerten, guten Edgar verkörpert Bijan Zamani absolut glaubhaft. Die meiste Zeit (als vor dem Vater Geflüchteter) nur mit einem Müllsack als Unterhose bekleidet, kann das auch in der abendlichen Stiftsruine fröstelnde Publikum seine wiederholten Worte "dem armen Tom ist kalt" durchaus nachvollziehen.

Goneril (Katrin Röver) und Reagan (Nora Buzalka) spielen das perfekte, bösartige und intrigante Schwesternpaar, das nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Ihnen nimmt man jede Szene ab. Ihre Ehemänner, die Herzöge von Albany (Frank Wünsche) und Cornwall (David Moorbach) treten dabei meist ein bisschen in den Hintergrund - doch Wünsche und Moorbach fallen dennoch durch schauspielerisches Können auf. Großartig agiert Hersfeld-Preisträger Günter Alt als Graf von Kent und auch die drei Närrinnen spielen ihre Rolle(n) mit absolut glaubhafter Präsenz - inklusive musikalischer und gesanglicher Fähigkeiten. Kurz vor Schluss singt das gesamte Ensemble einen mittelalterlichen Choral - ebenfalls eine bewegende Szene. 

Ein Cello für den Soundtrack

Die Wandlung der verstoßenen, jüngsten Tochter Cordelia zur gramgebeugten Greisin innerhalb kürzester Zeit verkörpert Friederike Ott meisterhaft. Sie ist die gute Schwester, die einzige, die nicht gegen den Vater intrigiert und deren Tod auch Lear ganz zum Schluss den Tod aus Trauer sterben lässt. Noch präsenter als Edmund auf der Bühne ist die Cellistin Lea Tessmann, die immer im Hintergrund dabei ist, immer denselben Gesichtsausdruck zeigt und sozusagen den Großteil des "Soundtracks" der Inszenierung trägt. 

Das Bühnenbild von Stefan Hageneier kommt mit zwei Szenerien aus: Einem goldgelben Saal und einer dystopischen Umgebung im zweiten Teil. Hageneier, der auch für die Kostüme verantwortlich ist, macht aus dem Bad Hersfelder "König Lear" kein mittelalterliches Kostümstück, sondern eine moderne Variante, die durch Maßanzüge und Abendkleider näher an das heutige Publikum heranrückt.

Tina Lanik, die den Lear bewusst mit der Schauspielerin Charlotte Schwab besetzt hat, hat aus dem düsteren Drama ein aktuelles Werk geschaffen, in dem zerrüttete Familienverhältnisse, der Kampf um Macht und die viel zu späte Erkenntnis, den falschen Menschen vertraut zu haben, zum mitreißenden Spiel werden, das nur im zweiten Teil wenige Längen zeigt. Der "König Lear" in Bad Hersfeld hat wenige, kurze heitere Momente, die dem Publikum einen kleinen Lacher hervorlockten, aber die meiste Zeit fiebern die Zuschauer mit, leiden mit den Guten, verfolgen die Pläne der Bösen und - ja, bemitleiden den Lear zunehmend.

Technischer Zwischenfall

Ein Ausfall der Tonanlage kurz vor der Pause, der unerwartet mehrere laute Knallgeräusche ins Publikum schoss, sorgte für Schreckmomente. Profi Schwab wollte auch ohne Mikroport weiterspielen, doch der Fehler in der Technik musste behoben werden. Schwabs Handeln ("Ich brauche keine Pause") trug ihr die Sympathie des Publikums ein. Glücklicherweise funktionierte die Technik nach kurzer Zeit wieder und das Spiel um Gut und Böse konnte ungestört weitergehen.

Langer, frenetischer Schlussapplaus stand am Ende des Premierenabends bei den 72. Bad Hersfelder Festspielen. Tina Lanik hat gezeigt, dass ein "Klassiker" der Theaterliteratur kein verstaubter Stoff sein muss, sondern dass es ein packendes, aktuelles und modernes Drama sein kann. (Christopher Göbel) +++

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